Nachruf
Prof. Dr. Frauke Gewecke (2. 7. 1943 – 13. 7. 2012)
Frau Gewecke war fast ein Vierteljahrhundert, von 1984 bis 2008, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg. Sie war die erste Professorin in der Geschichte des Romanischen Seminars. Ihre Professur hatte den Schwerpunkt in der hispanoamerikanischen Literatur; das war damals an deutschen Universitäten noch ganz ungewöhnlich. Frau Gewecke gehört zu den Pionieren der deutschen Lateinamerikanistik, die heute ein integraler Teil der Romanistik ist und in der deutschen akademischen Landschaft ihren festen Ort hat.
Der akademische Werdegang von Frau Gewecke war zunächst der einer traditionellen Romanistin. Ihre Doktorarbeit von 1971 behandelt die Entwicklungsgeschichte der autos sacramentales, der spanischen Fronleichnamsspiele. Danach richtete sie während ihrer Assistentenzeit an der Universität zu Köln von 1974 bis 1984 ihre Forschungen auf die damals sich neu ausbildende Lateinamerikanistik aus. Seit den 1960er Jahren wurde die Literatur Lateinamerikas weltweit zunehmend wahrgenommen; in Deutschland begann die Rezeption in den 1970er Jahren. In ihrer Zeit am Romanischen Seminar hat Frau Gewecke die Lateinamerikanistik in der Forschung, in der Lehre und nicht zuletzt auch in der Seminarbibliothek zu einem festen Posten des Seminars gemacht; die Einheit von Forschung und Lehre war für sie selbstverständlich. In ihre Forschungsprojekte und in von ihr veranstaltete Kolloquien hat sie immer auch die Studierenden mit einbezogen. Ihr großes Engagement in der akademischen Lehre wurde von den Studierenden sehr geschätzt.
Frau Geweckes Forschungsgebiete waren von Anfang an vor allem die Kolonialgeschichte Lateinamerikas und die Karibik. Ihr 1984 erschienenes Buch Die Karibik. Zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region ist bis heute ein mehrfach neu aufgelegtes Standardwerk. Puerto Rico war eines ihrer bevorzugten Forschungsfelder. Ihre 1986 publizierte Habilitationsschrift Wie die neue Welt in die alte kam untersucht die früheste Zeit der Kolonisierung Amerikas und ihre Rezeption in Europa. Das Buch hat seinerzeit das Feld der Kolonialgeschichte neu erschlossen und wurde 1992 in eine Taschenbuchreihe übernommen. Und ihre 2006 erschienene Biographie von Christoph Kolumbus ist auch als Hörbuch erschienen. Seit 2001 war sie Mitherausgeberin der Zeitschrift Iberoamericana, die eines der weltweit bedeutendsten Publikationsorgane der Iberoromanistik ist.
Seit geraumer Zeit hatte Frau Gewecke sich ein neues Forschungsfeld erschlossen, das den Süd- und den Nordkontinent Amerikas verbindet und die Migrationsströme vom Süden in den Norden untersucht. Migration ist eines der bedeutendsten Phänomene der Gegenwart, das in globaler Perspektive immer wichtiger wird. In der Lateinamerikanisierung des Nordkontinents geht es um einen mestizaje cultural, eine Durchmischung der Kulturen, die zu erklären und zu verstehen zu den wichtigsten gegenwärtigen Aufgaben gehört. Durch zahlreiche Reisen ins Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA hatte sie sich dieses Feld in eigener Anschauung und Erfahrung erschlossen. Diese Forschungen wollte sie in den kommenden Jahren fortsetzen.
Das Romanische Seminar wird Frau Gewecke als einer bedeutenden Wissenschaftlerin, als einer beliebten Lehrerin und als einer hochgeschätzten Kollegin ein ehrendes Andenken bewahren.
Gerhard Poppenberg