Rede zur Beisetzung von Frauke Gewecke am 27. Juli 2012
Verehrte Angehörige, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
wir sind gekommen, um von Frau Prof. Gewecke Abschied zu nehmen. Ich muß über eine acht Jahre Jüngere reden. Wie es in der Todesanzeige heißt, starb sie „plötzlich und unerwartet“, und der Verleger und langjährige Freund Klaus Dieter Vervuert schreibt in seiner Rund-mail von „una breve y terrible enfermedad. Un hecho que sigue siendo inconcebible, que no puede expresarse con palabras y que nos causa una profunda tristeza“. So ganz überraschend kam das Ende aber wohl nicht, denn schon lange litt die Verstorbene unter Herzbeschwerden und brachte auch einmal aus den Tropen das schmerzhafte Dengue-Fieber mit. Nur hat sie ihre Leiden eben stets überspielt. Das zierliche Persönchen war eine starke, energische, mutige, ja kühne Frau. Sie hatte ein ganz und gar selbstbestimmtes Leben geplant und verwirklicht. Für die vielen Nichten und Neffen muß sie eine Tante gewesen sein, mit der man Pferde stehlen konnte. Der Tod war ihr nicht fremd gewesen. So gehörte sie zu denjenigen, die in Köln 1980 ihrem krebskranken Chef, Horst Baader, beistanden, und edierte zu seinem Gedächtnis auch noch eine Freundesgabe. In Heidelberg hatte sie sich kaum eingerichtet, da holte sie schon ihre schwer kranken Eltern zu sich, pflegte sie und trug sie 1989 und 91 hier auf dem Bergfriedhof zu Grabe.
Während des letzten Krieges hatten die Eltern in Litauen gelebt, dem damaligen „Reichskommissariat Ost“. Dort wurde Frauke 1943 geboren. Die Nachkriegszeit in Westdeutschland war für sie und ihre drei Geschwister sehr mühselig. Zunächst reichte es nur für eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. Immerhin konnte sie sich damals mit der Synchronisation fremdsprachiger Filme etwas Geld verdienen und in Hamburg 1963 ein Universitätsstudium beginnen. Die Romanisten wurden auf sie aufmerksam, und mit einem Stipendium konnte sie zehn Jahre später im Rahmen eines dortigen Forschungsprojekts ihre hispanistische Doktorarbeit abschließen, Thema: Das Fronleichnamsspiel vor Calderón. Wie aber gelangte sie von dieser philologischen Provinz in die Neue Welt, die uns gerade in der Version von Dvorak entgegenschallte, wie in die Lateinamerikanistik, mit der man Gewecke heute identifiziert? Schon die Universität der weltoffenen Hansestadt hatte ein „Ibero-amerikanisches Forschungsinstitut“, und an der Universität Köln, ebenfalls aus einer Handelshochschule hervorgegangen, gab es wenigsten einen Lehrstuhl für spanische und lateinamerikanische Geschichte. Frau Gewecke wurde 1973 Assistentin am dortigen Romanischen Seminar und beteiligte sich auch noch an einem mittelamerikanischen Projekt der DFG. Leiter war derjenige, der durch seine Gedichtübersetzungen unter dem Titel Rose aus Asche 1955 das deutsche Publikum erstmals überhaupt auf die Existenz von Literatur jenseits des Ozeans aufmerksam gemacht hatte, nämlich Erwin Walter Palm. Neben seiner Frau, Hilde Domin, ruht der Kunsthistoriker ein paar Meter weiter hier auf dem Bergfriedhof.
Mit oder ohne institutionelle Hilfe, Frau Gewecke hat sich nicht einfach kopfüber in den Atlantik gestürzt, sondern vom vertrauten Ufer aus operiert. In ihrem Buch von 1986, Wie die neue Welt in die alte kam, in diesem Standardwerk über die ersten Jahrhunderte der Kolonisation basierte sie auf ihren Kenntnissen von der europäischen Kultur der Renaissance. Gewiß lag diese Umorientierung aber auch im Trend der Zeit: Längst hatten die lateinamerikanischen Autoren des sog. „Boom“ ja die deutsche Leserschaft erreicht, Borges mit El Aleph, Vargas LLosa mit La ciudad y los perros, García Márquez mit Cien años de soledad usw. Die Kolonialgeschichte gegen den Strich zu lesen, war außerdem eine Fortsetzung der Vergangenheitsbewältigung, wie sie die 68er Generation betrieb. Und so heißt es im Vorwort (S. 13): “Für die Europäer erbrachte die Begegnung mit Amerika einen unermeßlichen Profit, für die amerikanischen Völker hingegen Raub, Versklavung und Tod. Doch nicht neuerliche Schuldzuweisung kann heute das geschehene Unrecht „bewältigen“ helfen. Das vermag hingegen die Einsicht in die Strukturen und Mechanismen, die bei der Begegnung der „alten“ mit der „neuen“ Welt wirksam wurden;“ und es bleibt nicht beim Archivarischen, wenn Gewecke fortfährt: “Strukturen und Mechanismen, die heute bei der Begegnung der „ersten“ mit der „dritten“ Welt keinesfalls als überwunden gelten können.“ Diese kritische Haltung spricht auch aus späteren Schriften der Autorin.
Wir Heidelberger, selbst vom „Boom“ angesteckt, suchten sie 1984 als Beste unter den Bewerberinnen und Bewerbern aus, nicht als Quotenfrau. Für sie wäre das eine Beleidigung gewesen. Vom modischen Feminismus hat sie nie Gebrauch gemacht. Sie sagte ihre Meinung gerade heraus und ließ sich vor niemandes Karren spannen. Nicht handgestrickt, sondern in unauffälligem, vielleicht italienischen Chic kam die Zimmernachbarin daher, wenn sie mal reinschaute oder man am Fotokopiergerät ein Schwätzchen hielt. Nicht den literarisch definierten „Boom“ hat sie dann zu ihrem Forschungsschwerpunkt gemacht, sondern eine geographisch definierte Region, die Karibik, und zwar die Inselwelt, besonders mit dem noch immer umstrittenen Kuba, mit der Dominikanischen Republik bzw. Haiti, für das wir ja zu einer Spende eingeladen sind, und schließlich mit Puerto Rico. Insofern folgerichtig, weil just hier die ersten Spanier gelandet waren. Eine Region ohne die ausufernden Metropolen mit ihren Slums, wie man sie sonst von dem Subkontinent kennt, eher agrarisch, mit einem hohen Anteil ehemaliger schwarzer Sklaven, deren Musik und den entsprechenden Identitätsproblemen.
Um dem Eurozentrismus zu wehren, dem die Verstorbene schon bei der Generation von Kolumbus begegnet war, geht sie, etwa in ihrem Buch über Santo Domingo, nicht induktiv von Einzeltexten aus, sondern deduktiv von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im interdisziplinären Zusammenhang. Über vieles hat sie sich unter Einsatz ihrer Person vor Ort informiert. Schaudererregender Höhepunkt ist für mich die Fahrt im Leihwagen, die sie vor etwa zwei Jahren entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze machte, um sich über die Realität der sog. „Narconovela“ zu informieren, über Drogenkartelle und abgeschlagene Köpfe in den Schaufenstern. Den Erfolg der Autorin sieht man schon der Buchgestalt an. Die Erstausgabe von Die Karibik – 1984 – scheint noch mit der Schreibmaschine getippt zu sein, die dritte – 2007 – ist gesetzt und hat ein Glanz-Cover. Vor allem aber: Sie ist doppelt so dick; denn mehr als ein Forschungsobjekt der Vergangenheit verlangt eines der Gegenwart, daß man den Entwicklungen auf der Spur bleibt, insbesondere neuerdings – wie bereits Herr Poppenberg in seinem Nachruf in der Rhein-Neckar-Zeitung hervorgehoben hat – der Emigration in die USA, auch sie schon durch ein eigenes Genre repräsentiert. Nimmt man das jahrzehntelange Engagement für die Zeitschrift Iberoamericana hinzu, dann staunt man über eine derartige Schaffenskraft. Was alles da so unauffällig neben einem wächst und wächst! Auf einen Sammelband eigener Aufsätze, den sie sich zum 7O. selbst hatte schenken wollen, werden wir nun verzichten müssen. Schon vor Tau und Tag saß sie am Schreibtisch, Hauptstr. 84. Gleich daneben aber der Balkon, Füße auf dem Geländer, Zigarette im Mund, unten gelegentlich Nachbars Katze, vorne die Gärtchen der Altstadt und dahinter der Gaisberg. Auch dort behielt sie die politische Aktualität freilich stets im Auge. 1998, pünktlich zur hundertsten Wiederkehr der Annektion durch die Vereinigten Staaten, erschienen so zwei Bände zu dem noch immer nicht in die Selbstständigkeit entlassenen Puerto Rico. Die Beschäftigung mit jener Weltgegend zwingt nachgerade zu einer Auseinandersetzung mit der dortigen Hegemoniallmacht. Sinngemäß schreibt Gewecke daher einmal, auch in wissenschaftlichen Werken dürfe man Stellung beziehen, vorausgesetzt, man könne die Parteinahme nachvollziehbar machen.
Der zweite Band über Puerto Rico ist eine Anthologie, deren Texte von Seminarteilnehmern übersetzt wurden. Immer wieder ließ die Verstorbene sich etwas einfallen, um die Studierenden zu motivieren und zu engagieren, auch mit einer Theaterfahrt nach Paris oder einer Exkursion zu einer Fachtagung in Wien. Am Semesterende dann eine kleine Sektrunde bei ihr zuhause. Die obligatorische Einführungsveranstaltung in die romanische Literaturwissenschaft insgesamt hat sie neu durchdacht und standardisiert. An ihrem methodologischen Skript habe gerne auch ich mich orientiert. Jahrelang hat sie außerdem das unbeliebte Amt der Zwischenprüfungsbeauftragten wahrgenommen. In ihren eigenen Prüfungen war sie anspruchsvoll, aber kalkulierbar, fair und bemüht, Blockaden abzubauen. Kein Wunder, daß sie Vertrauensdozentin der Heinrich-Böll- und der Friedrich-Ebert-Stiftung war.
Danach nun schon vier Jahre angeblicher Ruhestand. Die sonnigen Ferienreisen zu den gastlichen Khourys setzten sich aber fort, nach Zypern am anderen Ende Europas. Von der letzten Reise ist sie nicht mehr lebend heimgekehrt. Der plötzliche Tod in der Nähe der Schwester war ihrem Wesen sicherlich gemäßer als ein langsames Dahindämmern in einem Pflegeheim. Und wir dürfen sie so in Erinnerung behalten, wie wir sie kennen gelernt haben.
Arnold Rothe
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Letzte Änderung:
31.07.2012