Thomas Manns ‚Pariser Rechenschaft‘ (1926). Deutsch-französischer Austausch – Europäische Gespräche – Essayistische Experimente

Internationales Projekt mit der Sorbonne-Université (Prof. Dr. Olivier Agard), in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach

 

Thomas Mann reiste im Januar 1926 nach Paris, um sich dort sieben Jahre nach dem Versailler Vertrag als inoffizieller Kulturbotschafter der Weimarer Republik um eine deutsch-französische Wiederannäherung zu bemühen. Die neuntägige Reise, die Thomas Mann als „Abenteuer ersten Ranges“ bezeichnete, fand europaweit Beachtung. In Paris wurde er vom deutschen Botschafter Leopold von Hoesch festlich im Palais Beauharnais empfangen.
 

Thomas Mann Empfang

Diner beim Deutschen Gesandten Leopold von Hoesch in Paris*
Bankettafel, in der Reihe links ist Katia Mann die dritte, Thomas Mann der fünfte an der Tafel.

 

Thomas Mann hielt zahlreiche Vorträge und führte viele Gespräche (etwa mit Coudenhove-Kalergi), die sich auch um eine mögliche europäische Einigung drehten. Im Anschluss an diese Reise verarbeitete er seine Eindrücke in dem Buch Pariser Rechenschaft, das als selbständige 121seitige Monographie im Herbst 1926 im Fischer Verlag erschien und bis heute seltsamerweise zu den vernachlässigsten Texten Thomas Manns gehört. Die umfangreiche Schrift geht in der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe im Band zu den Essays (1914–1926) eher unter.

 

Das Projekt möchte daher sowohl die Reise und deren Genese, politisch-diplomatische Kontexte und Folgen als auch die Pariser Rechenschaft als Text in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Denn die Reise und die politisch selbstreflexive Schrift sind nicht nur wichtig, um Thomas Manns Auseinandersetzung mit seinen eigenen frankreichkritischen Ausfällen in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) angemessen nachzuzeichnen, sondern auch um die politische Kultur der Weimarer Republik und die europäische Verständigungspolitik nach den Verträgen von Locarno (1925) intellektuellengeschichtlich zu kontextualisieren. Thomas Manns Reise war von der deutschen Regierung gewollt und wurde diskret vom Auswärtigen Amt flankiert. Die Pariser Rechenschaft kommentiert wiederum den diplomatisch schwierigen Alltag in der deutschen Botschaft in Paris kurz nach der französisch-belgischen Ruhrbesetzung.

 

Der elsässische Germanist und Professor an der Sorbonne Henri Lichtenberger hatte Thomas Mann im Namen der Carnegie Stiftung eingeladen und während seines Paris-Aufenthaltes betreut. Universitäts- und wissenschaftsgeschichtlich ist bisher nicht genügend beachtet worden, dass und wie im Nachgang dieser Reise das germanistische Institut an der Sorbonne überhaupt erst gegründet wurde. Hier ist sowohl Lichtenbergers Rolle als auch die weiterer deutsch-französischer Mittlerfiguren (Otto Grauthoff, Félix Bertaux, Charles du Bos, Maurice Boucher) genauer in den Blick zu nehmen und man muss die Universitätsakten der Sorbonne sichten.
Fiktionalitätstheoretisch schließlich gilt es, den bisher so wenig beachteten Text der Pariser Rechenschaft narratologisch und gattungsästhetisch zu analysieren, da er eigentümlich zwischen apartem Reiseführer (mit konkreten Restauranttipps), fingiertem Tagebuch und politischem Essay oszilliert und immer wieder fiktionalisierende Passagen integriert. Eine zeitgenössische Rezension sprach sogar vom „Typus der neuen Novelle“ (Heinrich Eduard Jacob), der mit der Pariser Rechenschaft vorläge. Zwischen Dichtung und Wahrheit angesiedelt stilisiert sich Thomas Mann hier mit viel Selbstironie in der Tradition von Goethes autobiographischem Schreiben und gefällt sich sichtlich in der Rolle des repräsentativen Großschriftstellers, hofierten Kulturbotschafters und „Mundstück seiner Nation“.
Auch eine Würdigung und textgenauer Abgleich der französischen Ansprachen auf Thomas Mann (von Henri Lichtenberger, Félix Bertaux, Charles du Bos, Maurice Boucher) mit deren hochselektiven und kommentierenden Paraphrasen in der Pariser Rechenschaft steht noch aus. Wie Thomas Mann hier was kürzt und was wiederum besonders hervorhebt, beleuchtet sowohl das selbstbewusste Self-Fashionig eines modernen Dichterfürsten als auch eine gelenkte politische Deutung.

Das enorme europaweite Presseecho auf Thomas Manns Reise und die zahlreichen Rezensionen der Pariser Rechenschaft sind bisher auch noch nicht sorgfältig ausgewertet worden. Zeitungsartikel von Werner Krauss, Hanns Johst, Kurt Tucholsky, Alfred Kerr und Max Brod sind hier unter anderem zu berücksichtigen. Während die konservativen Revolutionäre in Deutschland Thomas Manns „Bußgang zu den Zivilisationsliteraten“ scharf angriffen und als unangemessenen Kniefall gegenüber den Franzosen einordneten, registrierten demokratische Intellektuelle in ganz Europa sehr aufmerksam diese deutsch-französische Wiederannäherung und freuten sich über „Thomas Manns deutsch-französische Verständigungsreise“ (Max Brod). Der Apparat der Großen Kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe ist hier lückenhaft und bedarf der Ergänzung.

Daher wollen wir das 100. Erscheinungsjahr der Pariser Rechenschaft zum Anlass nehmen, um in Paris an der Sorbonne in Kooperation mit der Deutschen Thomas- Mann-Gesellschaft und dem Deutschen Literatur Archiv in Marbach (in dem der Nachlass des Fischerverlags liegt, bei dem die Pariser Rechenschaft erstmals erschien) Germanisten, Historiker und Politologen zu versammeln, um die politischen Kontexte, europäischen Debatten, internationalen Gespräche und akademischen Begegnungen der Reise nachzuzeichnen, wichtige Mittlerfiguren zu porträtieren und die politischen Argumentationen und ästhetischen Schreibweisen der Pariser Rechenschaft zu untersuchen.
 

*https://tma.e-pics.ethz.ch/katalog/ETHBIB.TMA/r/863/viewmode=infoview, zuletzt aufgerufen am 26.09.2024. ETH-Bibliothek, Thomas-Mann-Archiv/Fotograf: Paulus/TMA_0120. Diner beim Deutschen Gesandten Leopold von Hoesch in Paris. Bankettafel, in der Reihe links ist Katia Mann die dritte, Thomas Mann der fünfte an der Tafel. 

Aktuelles – Deutsche Thomas Mann-Gesellschaft

 

 

Letzte Änderung: 23.10.2024
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