Die Sammlungen
Uruk-Warka-Sammlung
Die Sammlung der "Geers-Kopien"
Seit in der Mitte des 19. Jahrhunderts damit begonnen wurde, die Länder des Vorderen Orients archäologisch zu erforschen, sind in den Ruinenhügeln der Region Hunderttausende von Keilschrifttexten zutage gekommen. Die Mehrzahl dieser Texte ist bis heute unpubliziert. Auch die mehr als 20000 Tontafeln und Fragmente aus der berühmten Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal (669-630 v. Chr.), die in Ninive gefunden wurden und fast ausnahmslos in das Britische Museum zu London gelangten, liegen bislang nur teilweise in wissenschaftlichen Editionen vor.
Dennoch muß man nicht unbedingt nach London fahren, wenn man das unpublizierte Textmaterial aus Assurbanipals Tontafelsammlung, der ersten "Universalbibliothek" der Menschheitsgeschichte, studieren möchte. Denn ein Gelehrter aus dem Lippischen, Friedrich (Frederick) W. Geers, hat zwischen 1924 und 1939 in entsagungsvoller Arbeit Tausende von Tontafelfragmenten aus dem Bestand der Ninive-Sammlung des Britischen Museums autographiert. Das Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients zu Heidelberg kann sich glücklich schätzen, diese (Keilschrift)kopien in seinem Besitz zu haben.
F. W. Geers wurde am 24.1.1885 in Bad Meinberg geboren. In jungen Jahren in die U.S.A. ausgewandert, studierte er am Oriental Institute in Chicago orientalische Sprachen und wurde dort 1925 mit der Arbeit "A Babylonian Omen Text", die in AJSL 43 (1926/27), 22-41 erschien, promoviert. In der Folgezeit arbeitete Geers an den Sammlungen für das Chicago Assyrian Dictionary. Vor allem aber reiste er, wann immer es ihm möglich war, nach Berlin, Istanbul, Baghdad und insbesondere nach London, um in den altorientalischen Sammlungen der dort befindlichen großen Museen Keilschrifttexte zu autographieren. In London kopierte er, indem er umsichtig den zwischen 1889 und 1899 entstandenen "Catalogue of the Cuneiform Texts in the Kouyunjik Collection of the British Museum" aus der Feder des späteren Heidelberger Professors Carl Bezold benutzte, vornehmlich Beschwörungsrituale, Omina und andere Tafeln religiösen und literarischen Inhalts. Viele kleine Fragmente wurden von Geers, dem darüber hinaus zahllose Textzusammenschlüsse (sog. "Joins") gelangen, erstmalig identifiziert.
Geers, ein überaus zurückhaltender und selbstkritischer Gelehrter, hat nur wenige Ergebnisse seiner Forschungen publiziert. Im Jahre 1950 ging er als "Associate Professor" in den Ruhestand. Geers hat zu Lebzeiten zahlreichen Assyriologen seine Kopien zur Verfügung gestellt und damit umfangreiche Editionswerke wie z. B. Gerhard Meiers Neubearbeitung der Serie "Maqlû" überhaupt erst möglich gemacht. Die von Geers angefertigten Keilschriftkopien bildeten auch eine wichtige Materialgrundlage für das "Chicago Assyrian Dictionary".
Geers starb am 29.1.1955 in Chicago. Kurz vor seinem Ableben hatte er sich entschlossen, zurück nach Deutschland zu ziehen, wo er seinen Lebensabend bei einer Schwester im Lippischen verbringen wollte. Dorthin gelangte sein Nachlaß, einschließlich der mit den Buchstaben A - Z und Aa - Am bezeichneten Kopienhefte. Durch Vermittlung Professor Wolfram von Sodens, der von der Überstellung der Hefte Kenntnis erhalten hatte, wurden diese schließlich dem Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients an der Universität Heidelberg übergeben. Dort werden sie bis heute aufbewahrt - und haben während der letzten Jahrzehnte auch weiterhin Gelehrten aus aller Welt als wichtige Quelle für die Anfertigung von Texteditionen gedient.
Zwischen 1968 und 1970 hat Professor Rykle Borger (Göttingen) einen ersten provisorischen Katalog der Geers-Kopien erstellt und eine Konkordanz zwischen den einzelnen Seiten der Geers'schen Kopienhefte und den Museumsnummern der kopierten Texte hergestellt. Seit 1996 haben dann Mitarbeiter des Heidelberger Seminars unter der Leitung von Professor Stefan M. Maul die nahezu 40 Hefte mit den Geers'schen Kopien von mehr als 5500 Tontafeln und Tontafelbruchstücken fotokopiert. Da das Papier, auf dem Geers seine mit Bleistift angefertigten Autographien anbrachte, inzwischen äußerst brüchig ist, und die Originalkopien aus konservatorischen Gründen nicht mehr ohne weiteres zugänglich gemacht werden können, wurden Fotokopienbände der "Geers copies" hergestellt, in denen das Textmaterial in derselben Reihenfolge zusammengestellt ist wie in den Originalheften. Unter Verwendung eines zweiten Satzes von Fotokopien wurden die einzelnen Texte außerdem, geordnet in der Reihenfolge der Museumsnummern, auf Karteikarten aufgeklebt. Auf diese Weise läßt sich das gesamte von Geers kopierte Textmaterial bequem konsultieren.
Mit der Sammlung der "Geers copies" verfügt das Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients über die einzigartige Möglichkeit eines direkten Zugriffs nicht nur auf die publizierten, sondern auch auf viele unpublizierte Texte aus der Ninive-Bibliothek Assurbanipals. Da an demselben Seminar im Rahmen des Leibniz-Projekts von Professor Maul inzwischen auch eine umfangreiche Fotodokumentation der gleichfalls oftmals unpublizierten Texte aus der alten assyrischen Hauptstadt Assur aufgebaut werden konnte, gibt es derzeit wohl keinen Ort auf der Welt, an dem man die literarische, religiöse und wissenschaftliche Tradition Assyriens vergleichbar gut studieren kann wie in Heidelberg. Und die Bedeutung des assyrischen Schrifttums für die wissenschaftliche Erschließung der altorientalischen Geisteskultur als Ganzem ist nach wie vor kaum zu überschätzen.
Literatur zu Geers:
A. L. Oppenheim, "Frederick W. Geers", Journal of Near Eastern Studies 33 (1974), 179-181.
E. Weidner, "Frederick W. Geers", Archiv für Orientforschung 17 (1954-56), 489.
ders., Reallexikon der Assyriologie 3 (1957-71), 180f., s. v. "Geers".
Der 33. Band des "Journal of Near Eastern Studies" und R. Borgers "Handbuch der
Keilschriftliteratur", Bd. 2 sind dem Gedächtnis an F. W. Geers gewidmet.
Text: Eckart Frahm