Profil des Arbeitsbereichs Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa
Der Arbeitsbereich Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa erforscht die Beziehung von Minderheiten zur Mehrheitsgesellschaft aus historischer Perspektive im zeitlichen Kontext zwischen dem späten 19. Jahrhundert und der Gegenwart.
An der Trennlinie zwischen zwei Gruppen wird immer auch über die Grenzen der jeweils eigenen Gruppe verhandelt – Minderheitengeschichte gehört also unabdingbar zur Mehrheitsgeschichte.
Der Begriff der Minderheit verweist zunächst auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Teilen eines Ganzen: Eine Minderheit bezeichnet eine Bevölkerungsgruppe, die sich von der Mehrheitsgesellschaft aufgrund bestimmter (etwa sozialer, ökonomischer,…) Unterschiede, politischer oder religiöser Überzeugungen, ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung etc. abgrenzt oder abgegrenzt wird. Die Abweichung bemisst sich an dem, was die zeitgenössische Mehrheitsgesellschaft als Norm im öffentlichen Diskurs vorgibt und zeigt sich entweder durch die Anzahl und/oder durch die Macht- oder Ressourcenverteilung im Verhältnis zur Mehrheit. Sie hat Auswirkungen auf die rechtliche Gleichbehandlung, die politische Partizipation, den Zugang zu Bildung und Wissen, die ökonomische Chancengleichheit und/oder die gesellschaftliche Anerkennung der Minderheit in ihrem Umfeld. Zu unterscheiden sind Minderheiten, die gegenüber der Mehrheit benachteiligt werden, und Minderheiten, die in der Lage sind, Mehrheiten zu unterdrücken.
Eine Minderheit kann nur im Verhältnis zu einer Mehrheit existieren; so sind auch die Vorstellungen von und über Minderheiten und Mehrheiten sozial und historisch konstruiert. Fragen nach dem Entstehen, der Konstruktion und Funktion von Fremdbildern sind dabei zentral, da über sie nicht nur fremde Identitäten ‚erfunden‘, sondern auch gleichzeitig Selbstbilder konstituiert werden. Dies bedeutet, dass der ‚anderen‘ Gruppe oft völlig homogene Züge zugeschrieben werden und damit ihre Individualität negiert wird, mehr noch: Der Gegensatz wird von Generation zu Generation tradiert und damit zur Kontrastfolie der Gegenwart.
Gesellschaften orientieren sich an sozialen Normen, die zur Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Ordnung dienen. Die Ansprüche der Gesellschaft, die aus deren Normen erwachsen, werden auf die Minderheiten übertragen: Werden die sozialen Normen nicht eingehalten bzw. weichen sie ab vom Mainstream (Devianz), so folgen gesellschaftliche Sanktionen, wie etwa Ausgrenzung, Nichtbeachtung, etc. – Mechanismen, die der sozialen Kontrolle dienen. Aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft stören oder bedrohen Minderheiten oftmals die gesellschaftliche ‚Ordnung‘, da sie sich mit ihren unterschiedlichen Narrativen der Mehrheitserfahrung entgegenstellen. An der Trennlinie zwischen zwei Gruppen wird immer auch über die Grenzen der jeweils eigenen Gruppe verhandelt – Minderheitengeschichte gehört also unabdingbar zur Mehrheitsgeschichte.
Untersuchungen zu Minderheiten sind vielfältig angelegt und beziehen sich vor allem auf das wahrgenommene ‚Anderssein‘, das Bild vom ‚Anderen‘ und auf die Genese von Stereotypen: Von der Erforschung bspw. in der Mehrheitsgesellschaft benachteiligter nationaler, ethnischer oder religiöser Gruppen über solche Gruppen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters oder einer Behinderung als ‚anders‘ wahrgenommen werden bis hin zu privilegierten Minderheiten wie ökonomischen, politischen oder administrativen Eliten (etwa dem Adel).
Das Ringen um Teilhabe, Bürger- und Menschenrechte
Ein wesentlicher Forschungsbereich des Arbeitsbereichs Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa ist das kollektive Aufbegehren und Einfordern gesellschaftlicher Anerkennung und rechtlicher Gleichstellung durch Gruppen, die in Mehrheitsgesellschaften rechtlich und/oder gesellschaftlich benachteiligt waren oder sind. Dies beinhaltet sowohl die Entwicklungen, Wahrnehmungen und Motive dieser Gruppen selbst als auch die Reaktionen, die diese evozierten. Der Arbeitsbereich hat zum Ziel, die Geschichte dieser Minderheiten in den Zusammenhang von historischen, aber auch gesamtgesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu stellen.
Bei der Betrachtung von Minderheitengeschichte werden oftmals das Ringen um Anerkennung und der Wunsch nach Inklusion und Nichtdiskriminierung deutlich. Eine zentrale Forderung insbesondere benachteiligter Minderheiten ist daher die gleichberechtigte Teilhabe sowie das Erlangen von Bürger- und Menschenrechten. So formierten sich seit Ende der 1960er-Jahre im Kontext der Entstehung der „Neuen Sozialen Bewegungen“ in und außerhalb Europas zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die vor allem gegen Rechtsverletzungen und Diskriminierungen seitens staatlicher Institutionen protestierten.
„Marginialisierte Geschichte“? Minderheitengeschichte als neuer Zugang zu Geschichtsschreibung
Die Auseinandersetzung mit einer Minderheitengeschichte und ihrem Verhältnis zur Narration der Mehrheitsgeschichte hat größtenteils auf soziologischer, politologischer bzw. ethnologischer oder auch rechtswissenschaftlicher Ebene stattgefunden. Sie konzentrierte sich bislang vor allem auf die ethnische oder nationale Dimension von Minderheiten, hier vor allem – neben Publikationen über kleinere Räume wie Städte und Gemeinden sowie großflächigen Studien zu West- oder Nordeuropa – auf das östliche Europa. Hier gibt es Bestandsaufnahmen für den Beginn des 20. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Studien über Minderheiten in der Zwischenkriegszeit oder für die Zeit nach 1945.
In den Reihen der HistorikerInnen hat man sich beispielsweise im Rahmen der Migrationsforschung (Klaus J. Bade, Jochen Oltmer) oder etwa der historischen Stereotypenforschung (Hans-Henning Hahn) mit Minderheiten auseinandergesetzt (wobei Hahn den Schwerpunkt auf Osteuropa gelegt hat).
Auch international existieren schon seit langem Debatten um die Historiographie von Minderheiten. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Überlegungen, die Geschichte von vormals ausgeschlossenen Gruppen in die Nationalgeschichtsschreibung mit aufzunehmen. In den 1960er-Jahren wurde die Liste allmählich erweitert, bspw. um Forschungen über die Arbeiterklasse sowie Frauen- und Genderforschung – in den 1970ern schließlich um die ‚Geschichte von unten‘ ergänzt. Hinzu kamen in der Folge neue Formate wie etwa ‚Alltagsgeschichte‘, die Berücksichtigung bspw. autochthoner Minderheiten und benachteiligter Gruppen. Seit den 1980er-Jahren ist es zunehmend das Anliegen von HistorikerInnen geworden, von der großen ‚Meistererzählung‘ abzurücken und somit andere Narrative ebenfalls zu berücksichtigen.
Minderheitengeschichte führt jedoch immer noch ein Dasein als Randexistenz – wie also, fragt etwa die französisch-jüdische Historikerin Esther Benbassa, kann Geschichte geschrieben werden, um gerade keine ‚marginale Geschichte‘ von Minderheiten zu produzieren? Wie stellt man es an, die peripher gedeutete Geschichte dem ‚Zentrum‘ anzunähern, um auch sie einzubinden und um diese Geschichte schließlich zu einer gesamten ‚Geschichte der Vielfalt‘ (‚Histoire plurielle‘) werden zu lassen?
Aus der historischen Beschäftigung mit Minderheiten ergeben sich unterschiedliche Arten des Zugangs:
Wie konstruieren sich Minderheitsidentitäten? Wie repräsentieren Minderheiten ihre jeweilige Gruppe in Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft? Was für eine Rolle spielt das Selbstverständnis bzw. die eigene Historiographie? Wie wurde und wird die Minderheit selbst von außen ‚fremdwahrgenommen‘? Wie definiert sich ihre rechtliche Stellung? Welche Rolle spielen ihre gruppeninternen Strukturen und sozialen Beziehungen, welche ihre (trans-)nationalen Netzwerke? Wie wandelt sich ihre Position in der Gesellschaft mit der Zeit?
Da viele Minderheitengruppen über Jahrhunderte hinweg keine starke Stimme innerhalb der Gesellschaft hatten, fanden sie auch keinen Platz in ihrer Geschichtsschreibung. Diese „marginalisierte Geschichte“ von Minderheiten ist deshalb oft dem Vorwurf der Geschichtslosigkeit ausgesetzt worden. Um diese traditionelle Historiografie aufzubrechen, gilt es die Geschichte von Minderheiten in den Kontext von gesamtgesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu stellen. Damit kann die Minderheitengeschichtsschreibung historische Prozesse besser begreiflich machen und darüber hinaus zum Verständnis und zur Toleranz gegenüber individuellen und kollektiven Lebensentwürfen beitragen.
Geschichte im gesellschaftlichen Diskurs
Dem Verständnis einer öffentlichen Geschichtswissenschaft entsprechend werden die Forschungsthemen bei verschiedenen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit diskutiert, um das Bewusstsein für Minderheitengeschichte zu schärfen und durch den Austausch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit einen gesellschaftlichen Diskurs anzuregen.
Dabei zeichnet sich der Arbeitsbereich durch eine enge Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Institutionen aus und pflegt einen kontinuierlichen Austausch mit politischen und kulturellen (Bildungs-)Einrichtungen.
Die Manfred Lautenschläger-Stiftung fördert den Arbeitsbereich mit einer dreijährigen Anschubfinanzierung.