Dr. Andreas Büttner - Einblicke in studentische Forschung
Erhabene Kinder
Die jungen Jahre des Thomas Becket
Stellt man sich einen Heiligen vor, denkt man vermutlich zuerst an eine Erscheinung wie Sankt Nikolaus. Alt und ehrwürdig, weise, vielleicht einen langen weißen Bart tragend. Eventuell auch in edler Bischofskleidung oder einfacher Mönchskutte mit einem mächtigen hölzernen Kreuz auf der Brust. Sicherlich kommt aber kaum jemandem ein kleines Kind in den Sinn, dass gemeinsam mit seinen Freunden durch die Gegend tollt, sich mit den Eltern streitet oder auch mal eine schlechte Note aus der Schule nach Hause bringt. Auch die Menschen des Mittelalters scheinen mit dieser Vorstellung so ihre Probleme gehabt zu haben. In den Biographien ihrer Heiligen, den Viten, findet man daher auch kaum eine solche Beschreibung wie die obige. Schließlich waren die heiligen Männer und Frauen Gegenstand einer tiefgehenden Verehrung, die nun auf keinen Fall lächerlich erscheinen durften. So wurden die oft spärlichen Berichte über Kindheit und Jugend oft mit Erzählungen von Wundern und Erscheinungen ausgeschmückt.
Hierbei muss man aber auch bedenken, dass in mittelalterlichen Texten der Übergang zwischen Faktischem und Legendenhaftem durchaus fließend war. So geschieht es beispielsweise in den Lebensbeschreibungen zu Thomas Becket. Dieser war Erzbischof von Canterbury und legte sich in dieser Position mit dem englischen König an. Weil das letztendlich zu seiner Ermordung führte, wird er bis heute als Märtyrer für die Freiheit der Kirche verehrt. In seiner Jugend war diese Heiligkeit noch nicht unmittelbar zu spüren. Von dem, was seine Biographen an Daten liefern, ist nur bekannt, dass er in London geboren wurde, Sohn reicher Kaufleute war und in Paris studierte. Außerdem liebte er die Jagd – was nun nicht gerade nach einem typisch heiligen Mann klingt. Obwohl sich die Autoren Mühe geben, ihn als sehr klug und scharfsinnig vorzustellen, lässt sich in den Viten doch herauslesen, dass er nun nicht gerade der fleißigste aller Schüler war. So wechselt er beispielsweise oft die Schule, bricht das Studium ab und sein Wissensstand ist dann doch auch eher seinem Alter angemessen und entspricht nicht dem eines weisen, alten Mannes.
Die knappen Informationen über Thomas nehmen nur wenig Raum in der Erzählung ein – der Rest wird zum Beispiel durch den Bericht von Visionen gefüllt, die seine Mutter Matilda vor der Geburt erscheinen. Auch von verschiedenen, auf ihren Wahrheitsgehalt nur sehr schwer überprüfbaren Wundern wird berichtet. Die Interpretation dieser wundersamen Ereignisse wird dem Leser in der Folge ausführlicher nahegebracht – und immer deutet die Auslegung auf den später heiliggesprochenen Bischof hin.
So haben die Vitenschreiber letztendlich doch einen Weg gefunden, die Heiligen schon in ihrer Kindheit zu weisen, über die anderen Sterblichen erhabene Gestalten zu formen.
(Almut Rothacher)