Wirksamkeit oder Evidenz in der Medizin. Legitimationen des Aderlasses vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
ZUR ADER! NEUE BLICKE AUF EINE ALTE PRAXIS - Unser Ausstellungsprojekt finden Sie hier.
Der Aderlass steht paradigmatisch für überkommene Behandlungsmethoden der Vormoderne, obwohl er heute vor allem bei der Behandlung der Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose) als gängige Therapieform gilt. Im Fortschrittsnarrativ der naturwissenschaftlich geprägten Medizin wird er dennoch zum Ausgangspunkt einer Entwicklung erklärt, die mit der heutigen evidenzbasierten Medizin endet.
Diese Perspektive auf den Aderlass und seine Geschichte hinterfragten Medizingeschichte, Biomedizin und Sozialgeschichte in einem interdisziplinären Forschungsprojekt am Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg. Während die Medizingeschichte die historische Entwicklung des Aderlasses im 19. und 20. Jahrhundert wissenschaftshistorisch in den Blick nahm, untersuchte die Biomedizin den therapeutischen Einsatz des Aderlasses und seine medizinische Evidenz im 21. Jahrhundert. Als Sozialhistoriker*innen fragten wir schließlich nach den Zur-Ader-Gelassenen und dem Wert des Blutes.
Ziel des Projekts war es, herauszufinden, wie die Betroffenen den Aderlass wahrnehmen, das Wissen um ihn weitergeben und den Nutzen des Verfahrens vermitteln. Dabei interessierten wir uns insbesondere für Veränderungen in der Wahrnehmung und dem Erleben des Aderlasses und für die Arten und Weisen, über ihn zu sprechen. Wir fragten danach, welche Bedeutung dem Aderlass und seiner Durchführung für das Erleben der Krankheit, ihres Verlaufs und die Möglichkeiten ihrer Integration in das eigene Leben zukommt und welche weiteren Faktoren hierfür relevant sind.
Um diese Fragen erfahrungsgeschichtlich zu untersuchen, nutzten wir zum einen autobiographische Quellen, Briefe und Fotografien. Zum anderen führten wir im Rahmen einer Oral History-Studie 14 Interviews mit Menschen, die durch ihre Erkrankung an der Hämochromatose direkte Erfahrungen mit dem Aderlass gesammelt haben.
Aus sozialgeschichtlicher Perspektive zeigte sich, dass die Beziehung zwischen Behandelnden und Behandelten, die patientenorientierte Diagnose und Begleitung sowie die damit verbundene wertschätzende Atmosphäre entscheidend dafür ist, wie der Aderlass wahrgenommen und die Krankheit in den Alltag der Behandelten eingegliedert werden kann. Der Aderlass legitimiert sich aus Sicht der Behandelten nicht nur durch die medizinische Evidenz, sondern insbesondere durch den gesellschaftlichen Diskurs verbunden mit einer räumlichen Integration und individuellen Behandlungsbegleitung.
Die interdisziplinäre Arbeit wird auch zukünftig weitergeführt. Momentan bereitet das Forschungsteam eine Ausstellung zum Thema Aderlass im Kurpfälzischen Museum vor, welche die Ergebnisse aus dem Marsiliusprojekt präsentieren wird und thematisch sowohl die materielle Geschichte und Gegenwart des Aderlasses als auch gesellschaftliche wie wissenschaftliche Diskussionen und Einsichten umfassen wird.
Weitere Informationen:
Hämochromatose-Vereinigung Deutschland e.V.
Beteiligte Wissenschaftlerinnen:
Mirjam Lober, M.A.
Prof. Dr. Martina Muckenthaler
Prof. Dr. Karen Nolte
Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern