Volkstrauertag 2009
Predigt von Alt-Rektor Prof. Dr. Peter Hommelhoff
Gestatten Sie mir, liebe Gemeinde, zum heutigen Tage, zum vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, also zum „Volkstrauertag“ eine Frage: Ist Volkstrauer noch zeitgemäß? Noch zeitgemäß in der Gesellschaft? Noch zeitgemäß, um als Volk im Gottesdienst zu trauern? Oder sollten wir in Deutschland nicht besser dem Vorbild unserer Nachbarn in Frankreich folgen? Sie haben dem 11. November, dem Tag des Waffenstillstands im Ersten Weltkrieg nun, da auch sein letzter Überlebender friedlich verstorben ist, einen anderen, einen dem Zusammenleben im vereinten Europa gewidmeten Sinn gegeben. Sollten auch wir unseren „Volkstrauertag“ umwidmen?
Mit diesem Gedenktag haben die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg nicht anders als ihre damaligen Kriegsgegner auf den bis dahin unvorstellbaren Blutzoll von nahezu zwei Millionen Gefallenen reagiert; hinzukamen die Verkrüppelten und sonstwie Verletzten. Von diesen Folgen des Weltkriegs war nahezu jede vierte Familie in Deutschland betroffen. Deshalb schlug schon 1919 der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge einen Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten vor. Obwohl alle Anläufe in der Weimarer Republik, den Volkstrauertag als gesetzlichen Feiertag zu etablieren, aus mannigfachen Gründen gescheitert sind, wurde er dennoch ab 1922 mit einer Gedenkstunde im Reichstag im Jahresrhythmus begangen. Die Kirchen schlossen sich 1926 mit der Entscheidung an, die Volkstrauer am fünften Sonntag vor Ostern in den Kirchenkalener zu integrieren.
Schon damals war der Sinn des Volkstrauertages umstritten. Während die einen aus der Erinnerung an den Krieg als höchstes Ideal herleiten wollten, alles für das Wohl des Vaterlandes opfern („Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen“), wollten andere aus dieser Erinnerung, aus dem Gedenken an die Gefallenen und Verwundeten den Willen und die Tat gewinnen, einen solchen Krieg sich nicht wiederholen zu lassen („Nie wieder Krieg“). Diese Sinndebatte markierte zugleich die politischen Fronten zwischen dem konservativen und nationalliberalen Milieu auf der einen Seite sowie dem linken und linksliberalen auf der anderen.
Einen radikalen Sinnwandel vollzogen die Nationalsozialisten und formten aus Totengedenken Heldenverehrung. Konsequent benannten sie den Tag Heldengedenktag und verbanden ihn überdies mit der Einführung der gesetzlichen Wehrpflicht.
„Um der Toten zweier Kriege und in der Heimat“ zu gedenken, wurde der Volkstrauertag in der Bundesrepublik 1952 an das Ende des Kirchenjahres, dies geprägt durch die Themen Tod, Zeit und Ewigkeit, verlegt. Später wurde sein Sinn zusätzlich darin gesehen, an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in vielen Nationen zu erinnern. Dennoch werden in den Städten und Gemeinden vornehmlich Kränze an den Kriegerdenkmälern niedergelegt, werden im Deutschen Bundestag nach den Gedenkreden das Lied vom guten Kameraden und die Nationalhymne gespielt.
Vor diesem Entstehungshintergrund noch einmal die Frage: Ist Volkstrauer noch zeitgemäß? Gefallen sind, von der jetzt bestimmenden Generation her betrachtet, im Ersten Weltkrieg die Ururgroßväter und im Zweiten die Urgroßväter und Großväter. Den Wunden, die ihr Tod in die Herzen ihrer Angehörigen gerissen hat, hat deren eigener Tod den Schmerz genommen; und auch die Erinnerung. Wo sie noch war oder gar noch ist, ist sie im Verlaufe der gottlob friedlichen Jahrzehnte in Deutschland und Europa zumeist verblasst. Das gilt in gleicher Weise für die zivilen Opfer, vor allem die der Luftangriffe auf deutsche Städte. Warum sollten wir an einem besonderen Tag kollektiv der Toten nur und betont der beiden Weltkriege gedenken, aber nicht der Gefallenen des deutsch-französischen oder des deutsch-dänischen Kriegs oder der Gefallenen des Befreiungskriegs?
Die Erinnerung an die beiden Weltkriege verblasst, die Erinnerung an die Opfer, die sie gekostet haben, und an die tief schmerzlichen Konsequenzen in ihrem Gefolge. Sollte man jene Zeiten deshalb nicht gnädigem Vergessen anheim fallen lassen? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt Aufgabe der heutigen und der kommenden Generationen, ja: deren heilige Pflicht, das Andenken an die Kriegstoten und Verwundeten zu pflegen, ihr Opfer zu würdigen, um damit zugleich die Erinnerung an die Schrecken des Krieges und Kriegs-ähnlicher Auseinandersetzungen wachzuhalten?
Für den Gedenktag unserer Nachbarn in Frankreich, Belgien und England, den Tag von Compiègne am 11. November fällt die Antwort leichter als für sein deutsches Pendant: Vom Waffenstillstand führt trotz Versailles und trotz des noch schrecklicheren Zweiten Weltkriegs letztlich ein heller Pfad zum Frieden. Und so konnten die Franzosen in diesem Jahr das „Fest des Friedens“ unter dem Arc de Triomph mit der Bundeskanzlerin feiern – mit der Repräsentantin des Staates und des Volkes, mit dem Frankreich und die Franzosen nach jahrhundertelanger Erbfeindschaft nun zutiefst ausgesöhnt dauerhaft Frieden in Europa geschlossen haben und mit dem sie in der amitié franco-allemande verbunden sind. In unserer Partnerschaft mit Montpellier dürfen wir Heidelberger dies stets erneut beglückend erleben. Im Frieden heute und künftig haben die millionenfachen Opfer in der Vergangenheit ihren tröstlichen Sinn gefunden. Aus der Erinnerung an die Kriege erwächst die Kraft zur gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft in Europa.
Dem Volkstrauertag ist eine solche Sinngebung versperrt. Er stellt das Andenken an die Opfer in schrecklich unüberschaubarer Zahl, die Trauer um sie in den Mittelpunkt und mahnt damit gewiss: Nie wieder Krieg. Aber darüber hinaus eröffnet der Volkstrauertag keine Perspektiven in die Zukunft. Mithin verwehrt er es offenbar schon im Ansatz, den millionenfachen Opfern hier einen verheißungsvollen Sinn zu geben. Also scheint doch manches dafür zu sprechen, von der Volkstrauer nun allmählich Abstand zu nehmen.
Oder sollte für Deutschland, sollte für den Zweiten Weltkrieg Besonderes gelten? Unsere kollektive Trauer darüber, dass Millionen Soldaten gefallen und Zivilisten umgekommen sind, um die mörderischen Pläne eines verbrecherischen Regimes in die Tat umzusetzen – vor allem an der Ostfront, aber auch in vielen anderen Ländern Europas. Kollektive Trauer darüber, dass deutsche Soldaten Räume erkämpft haben, damit in ihrem Rücken dort Verbrecherbanden in Auschwitz, Treblinka, Sobibor und andernorts millionenfach in deutschem Namen morden konnten. Kollektive Trauer darüber, dass sich so viele unserer Väter und Großväter missbrauchen ließen und das auch noch Jahrzehnte nach dem Kriegsende zumeist nicht einsehen wollten. Die Männer des 20. Juli haben sich dem entgegengestemmt. Ihre Familien blieben in der Bundesrepublik lange Zeit isoliert und ohne Verständnis für die Tat ihrer Männer, Väter und Brüder.
Nein, liebe Gemeinde, auf den Volkstrauertag dürfen und können wir nicht verzichten. Gerade in einer rundum bis zu weiten Horizonten offenen Welt, aus der wir ohne Unterlass immer wieder neue Impulse und nicht selten atemberaubende Anregungen empfangen, in einer solchen Welt brauchen wir einen fixen Moment des Innehaltens; er soll uns Gelegenheit zum Nachdenken schenken, woher wir in Generationen gekommen sind und was heute unser Denken, Tun und Handeln mitbestimmen sollte: die tiefe und allgemeine Trauer über die vor Jahrzehnten verspielte Chance, die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens zu integrieren, sie, die mit aller Kraft Teil der deutschen Gesellschaft werden wollten; Trauer über ihre Vertreibung oder gar ihren Tod wie den vieler Sinti und Roma; Trauer und Scham über die Untaten, die im deutschen Namen vielen Völkern Europas, vor allem den Polen und Russen im Nationalsozialismus zugefügt worden sind. Ihrer Führungsschichten durch Aktionen wie den „Krakauer Professorenschlag“ beraubt, sollten diese Völker zu Sklaven erniedrigt werden.
Aus diesem Teil der deutschen Geschichte werden sich auch die kommenden Generationen nicht verabschieden können. Denn auf der engagierten Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und auf den konkreten Konsequenzen, die wir Deutschen hieraus gezogen haben und bis auf den heutigen Tag ziehen, beruht das Vertrauen, das unsere Nachbarn, namentlich die kleineren Völker uns entgegenbringen. Das haben wir gerade in den vergangenen Tagen dankbar vermerken dürfen. Das Vertrauen in uns, in unsere friedliche Gesinnung, unsere demokratische und rechtsstaatliche Verlässlichkeit und in unseren Respekt vor anderen in ihrem Anderssein, dies Vertrauen ist der Schlussstein in einem friedlichen Europa. Das dürfen auch die kommenden Generationen in Deutschland nie aus den Augen verlieren.
Also: Volkstrauer ist in Deutschland durchaus noch zeitgemäß; nur bedarf der Volkstrauertag nach meiner Überzeugung eines modifizierten Sinngehalts: vom primär militärischen Totengedenken zur reflektierten Erinnerung an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Aus ihr müssen wir die Kraft ziehen für den respektvollen Umgang mit unseren Nachbarn, aber auch mit unserer eigenen Bevölkerung – aktuell mit den Immigranten und ihren Nachkommen. Ausgehend vom Gedenken an die Opfer der Kriege und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft müssen wir in Deutschland auf einem anderen, einem eigenen Weg voranschreiten; er aber soll uns zum selben Ziel wie der unserer französischen Nachbarn führen: zum ewigen Frieden in Europa und darüber hinaus.
Deshalb ist Volkstrauer kein kollektives Ereignis, das zur Erledigung an offizielle Funktionsträger delegiert werden könnte. Vielmehr ist zu Trauer und Scham jeder einzelne aufgerufen; jeder ist in seiner ganzen Individualität gefordert. Daher ist Volkstrauer auch eine Angelegenheit der Kirchen. Denn allein mit Gottes Hilfe werden wir uns jetzt und in Zukunft dieser großen Herausforderung Erfolg-versprechend stellen können.
Peterskirche Heidelberg, 15. November 2009