Literatur als "Manövrieren des Wortes aus dem Klischee"
Seinen 100. Geburtstag erlebte er nicht mehr: zum Tode des Heidelberger Anglisten Rudolf Sühnel
Der Heidelberger Anglist Rudolf Sühnel starb nach langer schwerer Krankheit am 21. Januar. Seine geistige Prägung erfuhr er durch die Dresdner Kreuzschule. Wie andere ihre Gottesdienste besuchten, pilgerte er regelmäßig zum Gut Nöthnitz, wo sein Privatheiliger, Winckelmann, einst als Bibliothekar gearbeitet hatte, und zum Albertinum an der Brühlschen Terrasse, wo die Statuen standen, die jenen fasziniert hatten.
Nach dem Abitur mitten in der Wirtschaftskrise war er Werkstudent bei der Bibliotheca Teubneriana, bei der er zuletzt die Drucklegung der Warburg-Vorträge über England und die Antike betreute. Er kam in sein Element. Seine akademischen Lehrer in Leipzig waren Friedrich Klingner und August Korff. Unter dem Eindruck von Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist wechselte er 1930 zum ersten Mal von der Pleiße zum Neckar. Mit dem Thema "Die Götter Griechenlands und die deutsche Klassik" wurde er Doktorand bei Gundolf. Als dieser im Sommer darauf starb, ging Sühnel mit der fertigen Dissertation – "obwohl sie keine Fußnoten hatte" – zurück zu Klingner und Korff, die ihn 1934 promovierten. Da er in Nottingham zur Welt gekommen war, besaß er doppelte Staatsangehörigkeit. So emigrierte er freiwillig nach London, wohin auch "sein" Warburg-Institut verlagert worden war. Als seine Mutter Ende August 1939 erkrankte und er sie besuchte, fand er beim Kriegsbeginn die Rückkehr versperrt. Ein wortverliebter Shlemiel mutierte zum Schwejk: Er war unter den Letzten, die man einzog. Er sollte zum Scharfschützen ausgebildet werden – da war der Krieg schon vorbei.
Nach russischer Gefangenschaft kam er nach Leipzig zurück. Walter F. Schirmer holte ihn nach Bonn. Bei ihm habilitierte er sich 1955 mit dem seither zum Klassiker gewordenen Buch, das ihn als unbeirrbaren Humanisten ausweist: "Homer und die englische Humanität" (Niemeyer). Man berief ihn an die FU Berlin, ein Jahrfünft darauf an die Ruperto Carola. Als ihn die Heidelberger Akademie der Wissenschaften zu ihrem Mitglied machte, definierte er sein Verstehen von Literatur so: "Sprachläuterung, Manövrieren des Wortes aus dem Klischee, seine Regenerierung im Fluidum eines poetischen Kontextes, in dem es das wird, worauf es angelegt ist: Logos, erhelltes Sein." Er wurde in den PENClub gewählt. Seinen 75. Geburtstag feierte ein Symposion von Heidelberger Freunden des Jubilars, deren Lebensalter vom 80jährigen Philosophen Hans-Georg Gadamer bis zum 20jährigen Literaturstudenten Frank Schirrmacher reichte: "Antike und Neuere Philologie" (Springer).
Als er 80 wurde, präsentierte man ihm eine Auswahledition seiner meisterlichen Essays: "Make It New: Essays zur literarischen Tradition" (Springer), nachdem bereits dem 60jährigen die voluminöse Festschrift "Lebende Antike" (Erich Schmidt) gewidmet worden war. Als 1987 die Heidelberger Eichendorff-Gesellschaft gegründet wurde, wählte man zu den Vorsitzenden Rudolf Sühnel und seinen Schüler Jakob Köllhofer. Im März 1988 feierten dann zwei Geburtstagskinder gemeinsam: der 81jährige Professor ehrte den 200jährigen Poeten. Seitdem wurde das alljährliche Doppelgeburtstagsfest am 10. März – meist in den Räumen des DAI – fast zu einem jour fixe für seine Schüler (die er stets wie Kollegen behandelte) und seine Kollegen (die alle irgendwann seine Schüler waren).
Einer seiner Weggefährten, Peter Wapnewski, schrieb jüngst in seinen Erinnerungen: "Wir werden, hoffen seine Freunde aufs Innigste, Gelegenheit haben, ihn beim Festessen zu feiern: aus Anlass seines 100. Geburtstags am 10. März 2007." Nun aber wird die Trauerfeier mit anschließender Beerdigung am 31. Januar, 13 Uhr, auf dem Handschuhsheimer Friedhof stattfinden.
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