Für eine abgestufte Integrierung der Türkei
19. Februar 2008
Der Heidelberger Politologe Frank R. Pfetsch über "Das neue Europa" – Eine ganze Reihe von Schwierigkeiten und Defiziten
Auf der europäischen Tagesordnung herrscht weiterhin keine Friedhofsruhe. Die Halbwertszeit der Wandlungen des europäischen Integrationsprozesses seit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs wird immer kürzer. Immer schneller treten Entwicklungen ein mit grundstürzenden Auswirkungen auf die Einzelstaaten und ihrer Bewohner. Und obwohl das Denken in nationalstaatlichen Kategorien noch immer präsent ist, hat sich der politisch gewollte, unaufhaltsam sich vollziehende europäische Gemeinschaftsbildungsprozess nur sehr zögerlich im Bewusstsein der Völker festgesetzt. In bestimmten Bereichen wie der Wirtschaft fallen schon seit langem die maßgeblichen Entscheidungen nicht in Berlin, sondern in Brüssel. Vieles erscheint unübersichtlicher, weil supranationale, nationale und regionale Gegebenheiten und Prozesse nebeneinander bestehen und aufeinander bezogen bleiben. Was heute als Wahrheit ausgegeben wird, ist morgen bereits wieder durch neue Weichenstellungen überholt. Oft helfen hier nur orientierende Bücher wie das vorliegende des Heidelberger Politologen Frank R. Pfetsch, der sich bereits über Jahre, als Inhaber eines der 600 von der Europäischen Union geschaffenen Jean-Monnet-Lehrstühle, sehr intensiv mit diesem Gegenstand beschäftigt.
Das "neue Europa" wird umschrieben durch die Erweiterung der EU nach Osten und Südosten. Es wird weiterhin dadurch bezeichnet, dass infolgedessen die Regierungsfähigkeit schwierigeren Belastungsproben ausgesetzt bleibt als zuvor. Auf dem Prüfstand steht unweigerlich auch die Frage der Identifizierung der Bürger mit dem europäischen Gemeinschaftsgedanken.
Eine weitere Frage ist: Wie kann neben dem wirtschaftlichen Projekt Europas, das ja am Anfang stand, einem "sozialen Europa" Rechnung getragen werden? Wie soll in Zukunft die Balance aussehen zwischen den Gemeinschaftsinteressen und den Erfordernissen der Nationalstaaten und ihrer regionalen und lokalen Gliederungen? Wie soll auf der supranationalen Ebene die Spannung zwischen der exekutiven Gewalt und der Mitwirkung des Europäischen Parlaments auf erträgliche Weise vermindert werden? Auf solche und andere Fragen versucht Pfetsch befriedigende Antworten zu finden, und, wo die nicht gegeben werden können, die Problemfelder zu markieren. Pfetsch setzt ein mit der Schilderung der Stellung Europas in einer ökonomisch vernetzten globalisierten Welt. In der Beschreibung der Binnensituation geht er auf die geschichtlichen Ordnungsvorstellungen ein, behandelt in Folge das politische System, die wirtschaftlichen und sozialen Regelungen und, sehr intensiv, den überaus bedeutungsvollen kulturellen Faktor einschließlich des Fragenkomplexes der Ausbildung einer spezifischen europäischen Identität. Ebenso rücken Aspekte des Föderalismus und der Regierbarkeit der EU in den Blick. Der Bereich Außenbeziehungen sowie die Diskussionen um eine europäische Verfassung runden den Band ab.
Mit einer Fülle von historischen und aktuellen Beispielen beschreibt Pfetsch die zentralen Aspekte des europäischen Integrationsprozesses, dessen Ende weder abzusehen, dessen endgültige politische Ausformung noch weniger vorhersehbar ist. Er benennt die gegenwärtigen Schwierigkeiten und Defizite, die die EU nach dem letzten Erweiterungsschub in den 1990er Jahren unleugbar heimgesucht haben: die mangelnde Demokratisierung, die Überbürokratisierung, die oftmals in faulen Kompromissen endende Schwerfälligkeit der Entscheidungsfindung, die fehlende Transparenz des politischen und administrativen Systems, das Fehlen eines europäischen Bewusstseins. Zu diesen bisher ungelösten Problemen gehört auch die Türkeifrage, zu der der Verfasser klar Position bezieht: dass nämlich eine Aufnahme der Türkei den europäischen Identitätsgedanken schwächen würde. Daher spricht sich Pfetsch für eine abgestufte Integrierung der Türkei aus. Nicht ganz begreiflich ist allerdings seine Auffassung, dass nationale Referenden über den Verfassungsentwurf geradezu "antidemokratisch" seien, weil hier genaue Kenntnisse über einen hochkomplexen Vorgang fehlten. Obwohl Pfetsch als überzeugter "Europäer" schreibt, muss er feststellen: "Es bleiben ... viele Unwägbarkeiten." Ein Schuss Skepsis ist also angebracht. So wird das in verständlichem Ton gehaltene Buch gerade auch für den interessierten Laien zu einer lehrreichen Lektüre.
Info: Frank R. Pfetsch: "Das neue Europa". VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007. 216 S., 21,90 Euro.
Rückfragen bitte an:
Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
Tel. 06221 542310, Fax 542317
michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de
Irene Thewalt
Tel. 06221 542310, Fax 542317
presse@rektorat.uni-heidelberg.de
Das "neue Europa" wird umschrieben durch die Erweiterung der EU nach Osten und Südosten. Es wird weiterhin dadurch bezeichnet, dass infolgedessen die Regierungsfähigkeit schwierigeren Belastungsproben ausgesetzt bleibt als zuvor. Auf dem Prüfstand steht unweigerlich auch die Frage der Identifizierung der Bürger mit dem europäischen Gemeinschaftsgedanken.
Eine weitere Frage ist: Wie kann neben dem wirtschaftlichen Projekt Europas, das ja am Anfang stand, einem "sozialen Europa" Rechnung getragen werden? Wie soll in Zukunft die Balance aussehen zwischen den Gemeinschaftsinteressen und den Erfordernissen der Nationalstaaten und ihrer regionalen und lokalen Gliederungen? Wie soll auf der supranationalen Ebene die Spannung zwischen der exekutiven Gewalt und der Mitwirkung des Europäischen Parlaments auf erträgliche Weise vermindert werden? Auf solche und andere Fragen versucht Pfetsch befriedigende Antworten zu finden, und, wo die nicht gegeben werden können, die Problemfelder zu markieren. Pfetsch setzt ein mit der Schilderung der Stellung Europas in einer ökonomisch vernetzten globalisierten Welt. In der Beschreibung der Binnensituation geht er auf die geschichtlichen Ordnungsvorstellungen ein, behandelt in Folge das politische System, die wirtschaftlichen und sozialen Regelungen und, sehr intensiv, den überaus bedeutungsvollen kulturellen Faktor einschließlich des Fragenkomplexes der Ausbildung einer spezifischen europäischen Identität. Ebenso rücken Aspekte des Föderalismus und der Regierbarkeit der EU in den Blick. Der Bereich Außenbeziehungen sowie die Diskussionen um eine europäische Verfassung runden den Band ab.
Mit einer Fülle von historischen und aktuellen Beispielen beschreibt Pfetsch die zentralen Aspekte des europäischen Integrationsprozesses, dessen Ende weder abzusehen, dessen endgültige politische Ausformung noch weniger vorhersehbar ist. Er benennt die gegenwärtigen Schwierigkeiten und Defizite, die die EU nach dem letzten Erweiterungsschub in den 1990er Jahren unleugbar heimgesucht haben: die mangelnde Demokratisierung, die Überbürokratisierung, die oftmals in faulen Kompromissen endende Schwerfälligkeit der Entscheidungsfindung, die fehlende Transparenz des politischen und administrativen Systems, das Fehlen eines europäischen Bewusstseins. Zu diesen bisher ungelösten Problemen gehört auch die Türkeifrage, zu der der Verfasser klar Position bezieht: dass nämlich eine Aufnahme der Türkei den europäischen Identitätsgedanken schwächen würde. Daher spricht sich Pfetsch für eine abgestufte Integrierung der Türkei aus. Nicht ganz begreiflich ist allerdings seine Auffassung, dass nationale Referenden über den Verfassungsentwurf geradezu "antidemokratisch" seien, weil hier genaue Kenntnisse über einen hochkomplexen Vorgang fehlten. Obwohl Pfetsch als überzeugter "Europäer" schreibt, muss er feststellen: "Es bleiben ... viele Unwägbarkeiten." Ein Schuss Skepsis ist also angebracht. So wird das in verständlichem Ton gehaltene Buch gerade auch für den interessierten Laien zu einer lehrreichen Lektüre.
Arno Mohr
© Rhein-Neckar-Zeitung
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Info: Frank R. Pfetsch: "Das neue Europa". VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007. 216 S., 21,90 Euro.
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