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„Der organisierte Sport hört zu wenig auf kritische Wissenschaftler“

25. April 2008

Sportsoziologe Prof. Karl-Heinrich Bette zeigte die Defizite des Kampfs gegen Doping auf – Nächster Vortrag in der Reihe: Prof. Ines Geipel zum Thema "Wie viel Doping verträgt die Gesellschaft?" – 8.5.2008, 16.00 Uhr, Hörsaal des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 700

Bei der dritten Vorlesung der Heidelberger Reihe zum Thema Doping zeigte der renommierteste Theoretiker zu diesem Thema, Prof. Karl-Heinrich Bette (TU Darmstadt) die Defizite der Bearbeitung des Dopingproblems auf. Er beleuchtete aus unterschiedlichen Perspektiven, wie im öffentlichen Diskurs über Doping geredet wird, d.h. er will die Strukturen und Probleme hinter den Einzelpersonen herausarbeiten.  Das wesentlichste Problem der Dopingbekämpfung sieht er in der kollektiven Personalisierung des Problems durch  Recht, Pädagogik, Massenmedien und Politik – der einzelne Sportler wird des Dopings überführt und dafür bestraft, fast nie das Umfeld oder ein ganzer Verband. Die Beschäftigung mit Einzelfällen sei zwar wichtig, aber bei weitem nicht ausreichend, um der Komplexität der Problemstellung gerecht zu werden. Vielmehr verhindere diese Personalisierung sogar eine angemessene Problembearbeitung.

Für das Sportsystem bringe diese Personalisierung allerdings einige Vorteile: Die "Bösen" können deutlich benannt werden; dadurch schützt sich das Sportsystem davor, Strukturen zu verändern und Personal austauschen zu müssen, kritisches Hinterfragen der Strukturen ist dann nicht nur unerwünscht, sondern kann durch die Personalisierung abgewehrt werden. Es ist eine Problembearbeitung im Stile des "Schnapp’ den Dieb", um den "Dopingsumpf trocken zu legen", begleitet von einer Tabuisierung der Analyse der Zusammenhänge und der Hintergründe.

Die Aufgabe des Soziologen sieht Bette darin, dieses weit verbreitete Beobachtungs- und Deutungsschema zu unterlaufen und durch eine komplexere Darstellung der Realität zu ergänzen; damit sollen nicht Einzelsportler von Schuld freigesprochen werden, vielmehr soll der Kontext zu ihrem devianten Handeln geliefert werden. Die Behauptung, diese oder jene Sportart sei dopingfrei, sieht Bette als falsch an. Es gibt heute fast keine dopingfreie Sportart mehr; Bette analysiert Doping als zwangsläufige Folgeerscheinung der Sportentwicklung: Doping ist ein "normal accident", ein erwartbarer Vorfall. Die Bestätigung für diese Theorie wird wohl im Lauf des Sportsommers wie in den Vorjahren erneut ausreichend geliefert werden.

Die maßgeblichen Akteure, die die Dopingentwicklung beschleunigt haben und noch beschleunigen, sind das Publikum, die Massenmedien, die Politik, die Wirtschaft (bzw. die Sponsoren) und der Spitzensport selbst. Durch die Einflüsse dieser Akteure (öffentliches Interesse, massenwirksame Präsentation, massive Mittelzuflüsse, entfesseltes Rekordstreben usw.) wird der Spitzensport zu einem Sozialsystem ohne innere Bremsvorrichtung, verbunden mit Selbstzerstörungstendenzen, quasi zu einem Zug, der ohne Bremsen auf einen Abgrund zufährt. Nach Bette kann jeder dieser Akteure Vorteile aus dieser riskanten Verbindung mit dem Spitzensport ziehen, zugleich können aber auch Probleme für den Sport und den einzelnen Sportler entstehen. Als Konsequenz ergibt sich ein Zustand, den keiner der Akteure so haben möchte: der gedopte und unglaubwürdig gewordene Leistungssport. Am wenigstens können die Sportler selbst diesen Zustand wollen, denn der Spitzensport ist ein System, der auf der zerbrechlichen Körperlichkeit der Athleten aufgebaut ist. Angesichts der oft überzogenen Ansprüche der verschiedenen Akteure kommt es schnell zu einer Überforderung der Athletenkörper, Doping ist dann oft das Mittel der Wahl, um die Anspruchsinflation zu befriedigen. Mit Doping kann man mehr und härter trainieren, sich schneller regenerieren und damit schneller die nächste Trainingseinheit absolvieren. Doping bringt dann im Wettkampf das zusätzliche Quäntchen an Aggressivität, Reaktionsschnelligkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Kraft und Ausdauer – aber verbunden mit einem zusätzlichen Verletzungsrisiko, einer oft massiven Gefährdung der Gesundheit und bei Entdeckung des Dopings des "social death", wie es seit Monaten am Beispiel des gefallenen Idols Ulrich verfolgt werden kann.

Der "innovative Vorteil" wird aufgehoben, wenn alle dopen. Und  nach einer positiven Dopingkontrolle werden die Athleten bestraft, während das Umfeld und die zuvor genannten Akteure sich gut auf ihre Doppelmoral zurückziehen können, hatten sie doch sehr gute und zugleich regelkonforme Leistungen eingefordert. So entsteht eine subversive Untergrundsmoral: Der Gute, nämlich Erfolgreiche, ist dann der Regelbrecher, der sich nicht erwischen lässt; dumm ist der, der die Regeln einhält.

Verschärft werden diese Probleme durch die Professionalisierung sowohl der Athleten- als auch der Trainerrolle: Wer nur das eine Standbein Leistungssport hat, ist viel stärker in Gefahr, in die Dopingversuchung hineinzugeraten als derjenige, der über Schule, Studium oder Beruf ein zweites Standbein aufbaut. Eine weitere Gefahr kommt aber aus den anwendungsorientierten Sportwissenschaften, wie Bette am Beispiel der Sportmedizin aufzeigen konnte. Die enge Bindung an den Spitzensport ermöglicht eine erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln, bringt öffentliche Aufmerksamkeit, Karrierechancen – wie durch die Freiburger Sportmedizin demonstriert (dies gilt aber nicht nur für die Freiburger Sportmediziner und erst recht nicht nur für die Sportmedizin); von den Sportwissenschaften wird im Spitzensport akzeptiert, wer sich kompromisslos dem Sieges- und Erfolgsstreben unterwirft, die eigenen ethischen Standards verleugnet (z.B. den hippokratischen Eid) und sich bedingungslos den Spitzensportstrukturen unterordnet. Wer dem Spitzensport zu nahe tritt, kann enorm viel profitieren, geht dabei aber ein hohes Risiko ein.

Das Spitzensportmilieu und alle Akteure profitieren vom Doping, sofern eine wesentliche Voraussetzung erfüllt wird: Das Doping darf nicht entdeckt werden, deshalb wird oft derjenige, der Doping aufdeckt, als wesentlich gefährlicher angesehen als der Doper. Jeder der genannten Akteure handelt aus seiner Sicht rational, aber nur der Athlet wird Täter und Opfer zugleich. Athleten können am Doping sterben, die anderen Akteure nicht. Da der Leidensdruck des Spitzensports bisher nicht ausreichend hoch ist, ist die Bereitschaft, kritische Sportwissenschaftler als Berater zu integrieren und Strukturen zu verändern, auch nach Jahrzehnten des Dopings und vielen Dopingskandalen immer noch gering. Sie werden im Zweifelsfall als gefährlich und im Extremfall als "Feinde des Sports" angesehen, denn würden sie akzeptiert und gehört, müsste sich ja vieles verändern.

Als Problembearbeitung verlangt Bette eine Kombination von einer intelligenten Veränderung der Selbststeuerung und der Kontextsteuerung, um die Dopingzwänge zu verringern: Alle Akteure müssten sich kontinuierlich an einem runden Tisch treffen und ihre eigenen Möglichkeiten zur Problembearbeitung einsetzen. So könnten die Wirtschaft oder der Staat die Geldvergabe an effektive Doping-Präventionsmaßnahmen koppeln; Politiker könnten die Strukturen schaffen, die für eine effiziente flächendeckende Prävention nötig sind; und die Medien könnten stärker "models of best practice" im Sinne der Dopingvorbeugung hervorheben.

Dass dies passieren wird, da gibt sich auch Bette keinen großen Hoffnungen hin. Aber ein solches Vorgehen wäre die Voraussetzung dafür, dass Eltern ihre Kinder beruhigter in den Leistungssport hineinschicken können. Solange eine solche Aktion "runder Tisch" nicht gelingt, besteht die Gefahr dass die (immer noch zu wenigen) Präventionsbemühungen Flickwerk bleiben.

Nächste Veranstaltung: Donnerstag, 8.5.2008, 16.00 Uhr, Prof. Ines Geipel (Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", Berlin): Wie viel Doping verträgt die Gesellschaft?

Hörsaal des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 700

Kontakt:
Prof. Dr. Gerhard Treutlein
Zentrum für Dopingprävention der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Tel. 06221 477607
treutlein@ph-heidelberg.de

Allgemeine Rückfragen von Journalisten auch an:
Dr. Michael Schwarz, Pressesprecher der Universität Heidelberg
michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de

Irene Thewalt
presse@rektorat.uni-heidelberg.de
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