Das Selbst als Zentrum erzählerischer Schwerkraft
30. Mai 2008
„Was macht die Sprache mit uns?“ – Heidelberger Poetik-Dozentur 2008 mit dem Philosophen und Romanautor Peter Bieri eröffnet – Wichtiges Kulturereignis am Neckar
In der babylonischen Sprachverwirrung des heutigen Globalisierungszeitalters zu originärem Sprechen und Schreiben zu finden – das war für Peter Bieri ein zentrales Anliegen bei der Auftaktvorlesung zu seiner Heidelberger Poetik-Dozentur 2008, die leitmotivisch der Fragestellung folgt: "Was macht die Sprache mit uns?" Nach der Begrüßung durch Prorektorin Vera Nünning – sie zählte die von Universität und Stadt geförderte Veranstaltungsreihe zu den wichtigsten Kulturereignissen am Neckar – und Bürgermeister Raban von der Malsburg gab die Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Michaela Kopp-Marx in der voll besetzten Alten Aula eine Einführung in das zwischen Philosophie und Literatur changierende Werk des neuen Poetik-Dozenten. Denn Peter Bieri, 1944 in Bern geboren, war schon seit Jahrzehnten Philosoph – unter anderem lange in Heidelberg -, bevor er seit Mitte der neunziger Jahre begann, unter dem Pseudonym Pascal Mercier Romane zu schreiben: so die Titel "Perlmanns Schweigen" (1995), "Der Klavierstimmer" (1998) sowie "Nachtzug nach Lissabon" (2004); hinzu kommt die Novelle "Lea" (2007).
Und das literarische Werk durchzieht nach den Worten von Kopp-Marx ein roter Faden, demzufolge "alles Streben nach Erkenntnis der Täuschung unterliegt". Diese elementare These Bieris gründe in der "Erfahrung, dass wir von Vorstellungsbildern umschwirrt sind, die das Wahrhaftige und Richtige verstellen". Es sei jedoch das Ziel des Poetik-Dozenten, seine Mitmenschen zu verstehen. Nicht anders als seinen literarischen Helden, die "allesamt Sinnsucher" sind – so Kopp-Marx -, ging es Peter Bieri, als er 1964 zwanzigjährig zum Studium nach Heidelberg kam und in Handschuhsheim ein Zimmer mit Kohleofen bewohnte, wie der Autor zu Beginn seiner ersten Vorlesung "Erfahrungen zur Sprache bringen" darlegte. Die wesentlichen Schauplätze für den jungen Schweizer waren die Studienfächer Philosophie und Indologie, sodann die städtische Kinowelt und schließlich Romane, darunter "Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch. Allerdings stellte die Literatur damals zugleich ein scheinbar unerreichbares Terrain dar. Erst 25 Jahre später konnte Bieri in Heidelberg den Gedanken denken, selbst literarisch zu schreiben.
Für seine jetzige Poetik-Dozentur ging Bieri von folgender Arbeitsdefinition aus: "Literatur ist kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung von Erfahrung". Drei Fragestellungen stehen nun im Vordergrund: Was heißt es überhaupt, Erfahrungen zu machen? Welche Möglichkeiten gibt es, Erfahrungen sprachlich zu vergegenwärtigen? Und schließlich: Was zeichnet eine kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung aus? Bieri interessierte sich in seinem poetologisch-philosophischen Nachdenken zunächst dafür, welchen Einfluss die Sprache darauf hat, "wie wir die Welt und uns selbst erleben". Auf die Handlung kommt es dem Autor bei einer Erzählung vielleicht am wenigsten an. Schonwichtiger ist das Verständnis der Figuren. Am wichtigsten scheint es ihm jedoch zu sein, die kunstvolle Art und Weise zu verstehen, wie die Figuren verbunden sind, wie sich "das Erzählen durch die Zeit bewegt, wie eine Atmosphäre geschaffen wird, und wie der Text die Regie führt".
Mit Bezug auf das Leitthema formulierte Bieri den fundamentalen Gedanken: "Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind." So wird der Mensch nicht mehr von seiner Umgebung herumgestoßen, sondern er kann sich die anfangs fremde Welt gedanklich aneignen: Wir können unser Dasein nur verstehen, "weil wir sprechende Tiere sind". Und die Literatur ist vor allem "ein Mittel, unser Verstehen zu erweitern". Eine erste Antwort auf die Ausgangsfrage gab Bieri, indem er feststellte: "Die Sprache macht uns zu einer Gemeinschaft von denkenden Wesen, die ihre Erfahrungen zur Artikulation bringen können."Die "Erzählung" an sich fasste Bieri als eine Folge von Sätzen, die ein äußeres Ereignis oder ein Erlebnis verständlich macht, indem sie die zugrunde liegenden Bedingungen zur Sprache bringt. Und gerade nach der menschlichen Erzählung gebe es in jeder Kultur ein unstillbares Bedürfnis. Denn, so Bieri weiter: "Person sein heißt, ein Gegenstand von Geschichten sein, heißt ein Wesen zu sein, über das man Geschichten erzählen kann." Der Poetik-Dozent unterstrich eine Grundfunktion der Literatur: "Je differenzierter meine Sprache wird, in der ich über mein Leben reden kann, desto differenzierter wird mein Erleben."
Auf diese Weise könne sich der Mensch eine seelische Identität erarbeiten. Dabei helfe das Erzählen, die Erinnerung zu ordnen, die Vergangenheit so aussehen zu lassen, dass sie zum eigenen Selbstbild passt. Andererseits sei jedes Selbstbild ein Konstrukt voller Irrtümer. Daher stelle ein "Selbst ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft" dar. Und wenn dieses Zentrum – etwa durch Alzheimer – beschädigt wird, kann die Seele verloren gehen. Aber gerade hinsichtlich des literarischen Erzählens bedarf es nach den Ausführungen Peter Bieris einer großen seelischen Energie, und diese kommt aus der Erfahrung einer besonderen Wachheit, die beim Formulieren entsteht. Ganz entscheidend ist demnach die Genauigkeit in der Wahrnehmung und in der Wortwahl. Auch durch gelungene literarische Präzision könnten schließlich schöne und kostbare Sätze entstehen, wie man sie etwa bei dem portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa findet.
Rückfragen bitte an:
Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
Tel. 06221 542310, Fax 542317
michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de
Irene Thewalt
Tel. 06221 542310, Fax 542317
presse@rektorat.uni-heidelberg.de
Und das literarische Werk durchzieht nach den Worten von Kopp-Marx ein roter Faden, demzufolge "alles Streben nach Erkenntnis der Täuschung unterliegt". Diese elementare These Bieris gründe in der "Erfahrung, dass wir von Vorstellungsbildern umschwirrt sind, die das Wahrhaftige und Richtige verstellen". Es sei jedoch das Ziel des Poetik-Dozenten, seine Mitmenschen zu verstehen. Nicht anders als seinen literarischen Helden, die "allesamt Sinnsucher" sind – so Kopp-Marx -, ging es Peter Bieri, als er 1964 zwanzigjährig zum Studium nach Heidelberg kam und in Handschuhsheim ein Zimmer mit Kohleofen bewohnte, wie der Autor zu Beginn seiner ersten Vorlesung "Erfahrungen zur Sprache bringen" darlegte. Die wesentlichen Schauplätze für den jungen Schweizer waren die Studienfächer Philosophie und Indologie, sodann die städtische Kinowelt und schließlich Romane, darunter "Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch. Allerdings stellte die Literatur damals zugleich ein scheinbar unerreichbares Terrain dar. Erst 25 Jahre später konnte Bieri in Heidelberg den Gedanken denken, selbst literarisch zu schreiben.
Für seine jetzige Poetik-Dozentur ging Bieri von folgender Arbeitsdefinition aus: "Literatur ist kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung von Erfahrung". Drei Fragestellungen stehen nun im Vordergrund: Was heißt es überhaupt, Erfahrungen zu machen? Welche Möglichkeiten gibt es, Erfahrungen sprachlich zu vergegenwärtigen? Und schließlich: Was zeichnet eine kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung aus? Bieri interessierte sich in seinem poetologisch-philosophischen Nachdenken zunächst dafür, welchen Einfluss die Sprache darauf hat, "wie wir die Welt und uns selbst erleben". Auf die Handlung kommt es dem Autor bei einer Erzählung vielleicht am wenigsten an. Schonwichtiger ist das Verständnis der Figuren. Am wichtigsten scheint es ihm jedoch zu sein, die kunstvolle Art und Weise zu verstehen, wie die Figuren verbunden sind, wie sich "das Erzählen durch die Zeit bewegt, wie eine Atmosphäre geschaffen wird, und wie der Text die Regie führt".
Mit Bezug auf das Leitthema formulierte Bieri den fundamentalen Gedanken: "Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind." So wird der Mensch nicht mehr von seiner Umgebung herumgestoßen, sondern er kann sich die anfangs fremde Welt gedanklich aneignen: Wir können unser Dasein nur verstehen, "weil wir sprechende Tiere sind". Und die Literatur ist vor allem "ein Mittel, unser Verstehen zu erweitern". Eine erste Antwort auf die Ausgangsfrage gab Bieri, indem er feststellte: "Die Sprache macht uns zu einer Gemeinschaft von denkenden Wesen, die ihre Erfahrungen zur Artikulation bringen können."Die "Erzählung" an sich fasste Bieri als eine Folge von Sätzen, die ein äußeres Ereignis oder ein Erlebnis verständlich macht, indem sie die zugrunde liegenden Bedingungen zur Sprache bringt. Und gerade nach der menschlichen Erzählung gebe es in jeder Kultur ein unstillbares Bedürfnis. Denn, so Bieri weiter: "Person sein heißt, ein Gegenstand von Geschichten sein, heißt ein Wesen zu sein, über das man Geschichten erzählen kann." Der Poetik-Dozent unterstrich eine Grundfunktion der Literatur: "Je differenzierter meine Sprache wird, in der ich über mein Leben reden kann, desto differenzierter wird mein Erleben."
Auf diese Weise könne sich der Mensch eine seelische Identität erarbeiten. Dabei helfe das Erzählen, die Erinnerung zu ordnen, die Vergangenheit so aussehen zu lassen, dass sie zum eigenen Selbstbild passt. Andererseits sei jedes Selbstbild ein Konstrukt voller Irrtümer. Daher stelle ein "Selbst ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft" dar. Und wenn dieses Zentrum – etwa durch Alzheimer – beschädigt wird, kann die Seele verloren gehen. Aber gerade hinsichtlich des literarischen Erzählens bedarf es nach den Ausführungen Peter Bieris einer großen seelischen Energie, und diese kommt aus der Erfahrung einer besonderen Wachheit, die beim Formulieren entsteht. Ganz entscheidend ist demnach die Genauigkeit in der Wahrnehmung und in der Wortwahl. Auch durch gelungene literarische Präzision könnten schließlich schöne und kostbare Sätze entstehen, wie man sie etwa bei dem portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa findet.
Heribert Vogt
© Rhein-Neckar-Zeitung
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