Aktualität der Philosophie von Karl Jaspers
26.
Juni
2008
Kolloquium in der Alten Aula der Universität Heidelberg anlässlich der Verleihung des Karl-Jaspers-Preises an den Philosophieprofessor Jean-Luc Marion am 26. Juli 2008
Anlässlich der feierlichen Verleihung des Jaspers-Preises wurde die gegenwärtige Aktualität Karl Jaspers, dessen 125. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, zur Debatte gestellt und bekräftigt: Auf dem Podium vor einem interessierten Publikum in der alten Aula diskutierten Prof. Dr. Reiner Wiehl, Emeritus der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg und Mitherausgeber des Jasper’schen Nachlasses, der diesjährige Preisträger Prof. Dr. Jean-Luc Marion, Prof. Dr. Jens Halfwassen und Privatdozent Dr. Martin Gessmann – beide vom Philosophisches Seminar der Ruperto Carola.
Reiner Wiehl charakterisierte zum Auftakt Jaspers Philosophie als eine der Vernunft und Freiheit, die gerade durch ihre Kritik einer zu eng verstandenen instrumentellen und autonomen Vernunft der Neuzeit nicht von ihrer Sinn und Verständigung stiftenden Aufgabe abgerückt sei und damit den existenziellen Moden der Vernunftkritik wieder Ernst und Anspruch, vor allem aber ein philosophisches Projekt für eine verantwortungsvolle Begründung menschlicher Freiheit angesichts des Nihilismus und der politischen Zeitläufte des 20. Jahrhunderts zurückgegeben habe.
Dies zeigte er beispielhaft an vier Grundbegriffen und -tendenzen der Jasper’schen Philosophie: der Grenzsituation, der metaphysischen Schuld, Jaspers Chiffrenlehre und seiner Erneuerung der klassischen, und zwar metaphysischen, Philosophie über den Begriff der Transzendenz.
Jaspers orientiert sich an der Welt und ihrer individuell leidhaft erfahrenen Kontingenz, um die Frage nach einer Möglichkeit von Einheit als Sinn und einem gemeinsamen Anspruch als einer verpflichtenden Wahrheit auszuloten. Diese Einheit ist aber gerade nicht mehr begrenzt durch logische, transzendentale oder pragmatische Strukturen der Vernunft, sondern sie zeigt sich in Grenzsituationen wie Tod, Schmerz, Schuld und Kampf, die zunächst in der Erfahrung und der Erschütterung einer Person oder einer ganzen Gemeinschaft manifest werden und hier auf einen inkommensurables und nicht allein begrifflich oder gar ideologisch einlösbares Bedürfnis des Menschen nach Sinn verweisen.
In Grenzsituationen und in den für sie gefundenen Begrifflichkeiten verbergen sich Transzendenzen des Alltäglichen und rein pragmatischen Typologisierungen als nicht begrifflich fassbarer Überschuss an Sinn, dessen unsere menschliche Existenz bedarf. Solche nicht begrifflich einlösbaren Chiffren stellen ihren Anspruch an Auseinandersetzung und Verständigung, an ein konstitutives Gefühl der Schuld gegenüber unserer eigenen Existenz und derjenigen von anderen; dies gegenüber einer strukturellen Ungerechtigkeit einer rein am Faktischen orientierten Rationalität, die sich der Frage nach Sinn und seiner individuellen wie intersubjektiven Erfüllung in der Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Widerfahrnissen verschließt.
Jean-Luc Marion griff diesen Anspruch der Transzendenz, die sich in der alltäglichen Erfahrung wie auch in der ideengeschichtlichen Bewegung der conditio humana zeigt, auf. Seine Theorie der ‚gesättigten Phänomene’: Solche Phänomene stellen eine Gegenerfahrung zu unseren epistemischen Konzeptionen der Erfahrung dar, die diese abstrahieren, schematisieren und auf eine endliche Zahl von Kategorien zurückführen. Marion sucht hier gerade wieder den Reichtum in der philosophischen Tradition der Metaphysik wiederzugewinnen, die in ihrer transzendentalphilosphischen Reduktion auf ein Subjekt der reinen Vernunft verloren gegangen ist: Ereignis als eine nicht durch seine äußeren Umstände und Ursachen zu quantifizierende Größe, das Idol als eine sinnliche Qualität, die sich begrifflich nicht abschließend bestimmen lässt, das Fleisch bzw. unsere irreduzible menschliche Leiblichkeit, in der wir in Relation zur Welt treten und die uns immer in einer nicht-defizienten Unmittelbarkeit und Immanenz, einer nicht überschreitbaren unvergleichbaren Erfahrungsdimension zu unserer gegenwärtigen Situation hält; schließlich die Ikone, das Zeichen, die Chiffre, die aus der unmittelbaren Erfahrung in eine Begrifflichkeit der Erinnerung führen, die sich nie nur an rekonstruierbaren Fakten orientieren können, sondern an den Sinn dieser Erfahrung und ihrer Erinnerung geknüpft sind. Durch diese unausschöpfbare, da in die zukünftige Geschichte reichende Dimension transzendiert sich das Faktische und scheinbar Notwendige oder auch Zufällige zum Möglichen, zu einem immer erst noch einzulösenden Werden und Kommen von Geschichte und zu der Möglichkeit, Eigenes mit Fremdem zu verknüpfen.
Marion ordnete dies der Jaspersch’en Typologie der Grenzerfahrungen Tod, Schmerz, Schuld und Kampf bzw. der sich darin erst öffnenden Verantwortung angesichts von Macht und Gewalt zu – und hier ergabt sich dann die Öffnung zur Diskussion: die Frage, wie die Struktur von Grenzsituationen und deren transzendenter Offenheit überhaupt gefasst, verglichen und damit auch intersubjektive und vergleichbare normative Kraft gewinnen können (Wiehl) und wie sich gerade über dieses menschliche Transzendenzbedürfnis die westliche Tradition der Geistesgeschichte auf interkulturelle Fragen öffnen könnte.
Jens Halfwassen entwickelte hier, wie gerade über eine verloren gegangene philosophische Tradition der Metaphysik Transzendenz als ein ‚weltphilosophischer Begriff’ wiedergewonnen werden könnte, die bei Platon, Plotin, Cusanus und Schelling noch gedacht wurden und nun ideengeschichtlich in ihrer interkulturellen Relevanz zusammen von der Philosophie, den Philologien, vor allem den orientalischen wieder gehoben werden müssten. Gerade der Gottesbegriff biete nicht nur für die monotheistischen Religionen über ihre theologische und philosophische Fragestellungen gemeinsame Angriffspunkte, denen Jaspers in seinen ‚weltgeschichtlichen Betrachtungen’ der Philosophie und seinen Studien zur außereuropäischen Philosophie wie den ‚großen Denkern’ in Buddhismus und Islam nachgegangen sei. So sei eine Neubestimmung der metaphysischen Fragestellung aus unserer Tradition und anderen heraus zentral für die gegenwärtige Philosophie und ihr wichtiger Beitrag zu die an die Universität sich stellenden Fragen.
Martin Gessmann entwickelte schließlich mit Jaspers eine interdisziplinäre, lebens- und sozialwissenschaftliche Fragestellung an die heutige – neue – ‚geistige Situation der Zeit’ (Jaspers), in der Grenzsituationen nicht mehr nur als inkommensurables Widerfahrnis darstellten, sondern vielmehr aus Flucht vor dem Alltag gesucht und kommerziell vermarktet würden: Erlebniskultur, inszenierte körperliche Grenzerfahrungen wie Bungeejumping und diverse Techniken der physischen und psychischen Selbststeigerung verwiesen gerade auf die kultur- und sozialkritische Relevanz des Jasper’schen Terminus, insofern sich an ihnen gerade Desiderate von Sinn und Sinnsuche, die Unterscheidung von einer ‚schlechten Unendlichkeit’ des sozial organisierten Selbsttranszendierens und einer sinnorientierten Erfahrung der eigenen Endlichkeit, in der sich Möglichkeiten sinnstiftender Transzendenz eröffneten.
Zum anderen trat Gessmann dafür ein, mit der ganzen ideengeschichtlichen und philosophischen Tradition aufmerksam auf die neuen Entwicklungen in (Bio-)Technologie und den sog. ‚life sciences’ zuzugehen, sie nicht einfach von einem metaphysischen Standpunkt als platten Naturalismus abzutun, sondern – gerade im Sinne des psychopathologischen Empirikers Jaspers – als Herausforderung des menschlichen Umgangs mit der Transzendenz in (ethischen) Grenzsituationen anzunehmen. Jaspers selbst habe solche Wandlungen menschlicher Verständniswelt vollzogen, so mit der Veränderung seines rein existenziellen Schuldbegriffs der 20er Jahre zu dem metaphysischen Schuldbegriff in seiner spezifisch historisch und sozialen Situation nach dem 2. Weltkrieg, wo die Schuldfrage zu einer gemeinsamen ‚Grenzsituation’ und Aufgabe wurde.
So erwies sich nun nicht nur die Offenheit und Anschlussfähigkeit der Jasper’schen Grundbegriffe hinsichtlich sozialer, globaler, interkultureller, philosophischer, theologischer, wissenschaftstheoretischer und ethischer Problematiken, sondern auch ihre Aktualität, die sich im Anschluss an Ehrungen und Feierlichkeiten an der Ruperto Carola und anderenorts weiter aufgreifen und in Forschung und Lehre diskutieren lässt.
Rückfragen von Journalisten bitte an:
Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
Tel. 06221 542310, Fax 542317
michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de
Irene Thewalt
Tel. 06221 542310, Fax 542317
presse@rektorat.uni-heidelberg.de
Reiner Wiehl charakterisierte zum Auftakt Jaspers Philosophie als eine der Vernunft und Freiheit, die gerade durch ihre Kritik einer zu eng verstandenen instrumentellen und autonomen Vernunft der Neuzeit nicht von ihrer Sinn und Verständigung stiftenden Aufgabe abgerückt sei und damit den existenziellen Moden der Vernunftkritik wieder Ernst und Anspruch, vor allem aber ein philosophisches Projekt für eine verantwortungsvolle Begründung menschlicher Freiheit angesichts des Nihilismus und der politischen Zeitläufte des 20. Jahrhunderts zurückgegeben habe.
Dies zeigte er beispielhaft an vier Grundbegriffen und -tendenzen der Jasper’schen Philosophie: der Grenzsituation, der metaphysischen Schuld, Jaspers Chiffrenlehre und seiner Erneuerung der klassischen, und zwar metaphysischen, Philosophie über den Begriff der Transzendenz.
Jaspers orientiert sich an der Welt und ihrer individuell leidhaft erfahrenen Kontingenz, um die Frage nach einer Möglichkeit von Einheit als Sinn und einem gemeinsamen Anspruch als einer verpflichtenden Wahrheit auszuloten. Diese Einheit ist aber gerade nicht mehr begrenzt durch logische, transzendentale oder pragmatische Strukturen der Vernunft, sondern sie zeigt sich in Grenzsituationen wie Tod, Schmerz, Schuld und Kampf, die zunächst in der Erfahrung und der Erschütterung einer Person oder einer ganzen Gemeinschaft manifest werden und hier auf einen inkommensurables und nicht allein begrifflich oder gar ideologisch einlösbares Bedürfnis des Menschen nach Sinn verweisen.
In Grenzsituationen und in den für sie gefundenen Begrifflichkeiten verbergen sich Transzendenzen des Alltäglichen und rein pragmatischen Typologisierungen als nicht begrifflich fassbarer Überschuss an Sinn, dessen unsere menschliche Existenz bedarf. Solche nicht begrifflich einlösbaren Chiffren stellen ihren Anspruch an Auseinandersetzung und Verständigung, an ein konstitutives Gefühl der Schuld gegenüber unserer eigenen Existenz und derjenigen von anderen; dies gegenüber einer strukturellen Ungerechtigkeit einer rein am Faktischen orientierten Rationalität, die sich der Frage nach Sinn und seiner individuellen wie intersubjektiven Erfüllung in der Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Widerfahrnissen verschließt.
Jean-Luc Marion griff diesen Anspruch der Transzendenz, die sich in der alltäglichen Erfahrung wie auch in der ideengeschichtlichen Bewegung der conditio humana zeigt, auf. Seine Theorie der ‚gesättigten Phänomene’: Solche Phänomene stellen eine Gegenerfahrung zu unseren epistemischen Konzeptionen der Erfahrung dar, die diese abstrahieren, schematisieren und auf eine endliche Zahl von Kategorien zurückführen. Marion sucht hier gerade wieder den Reichtum in der philosophischen Tradition der Metaphysik wiederzugewinnen, die in ihrer transzendentalphilosphischen Reduktion auf ein Subjekt der reinen Vernunft verloren gegangen ist: Ereignis als eine nicht durch seine äußeren Umstände und Ursachen zu quantifizierende Größe, das Idol als eine sinnliche Qualität, die sich begrifflich nicht abschließend bestimmen lässt, das Fleisch bzw. unsere irreduzible menschliche Leiblichkeit, in der wir in Relation zur Welt treten und die uns immer in einer nicht-defizienten Unmittelbarkeit und Immanenz, einer nicht überschreitbaren unvergleichbaren Erfahrungsdimension zu unserer gegenwärtigen Situation hält; schließlich die Ikone, das Zeichen, die Chiffre, die aus der unmittelbaren Erfahrung in eine Begrifflichkeit der Erinnerung führen, die sich nie nur an rekonstruierbaren Fakten orientieren können, sondern an den Sinn dieser Erfahrung und ihrer Erinnerung geknüpft sind. Durch diese unausschöpfbare, da in die zukünftige Geschichte reichende Dimension transzendiert sich das Faktische und scheinbar Notwendige oder auch Zufällige zum Möglichen, zu einem immer erst noch einzulösenden Werden und Kommen von Geschichte und zu der Möglichkeit, Eigenes mit Fremdem zu verknüpfen.
Marion ordnete dies der Jaspersch’en Typologie der Grenzerfahrungen Tod, Schmerz, Schuld und Kampf bzw. der sich darin erst öffnenden Verantwortung angesichts von Macht und Gewalt zu – und hier ergabt sich dann die Öffnung zur Diskussion: die Frage, wie die Struktur von Grenzsituationen und deren transzendenter Offenheit überhaupt gefasst, verglichen und damit auch intersubjektive und vergleichbare normative Kraft gewinnen können (Wiehl) und wie sich gerade über dieses menschliche Transzendenzbedürfnis die westliche Tradition der Geistesgeschichte auf interkulturelle Fragen öffnen könnte.
Jens Halfwassen entwickelte hier, wie gerade über eine verloren gegangene philosophische Tradition der Metaphysik Transzendenz als ein ‚weltphilosophischer Begriff’ wiedergewonnen werden könnte, die bei Platon, Plotin, Cusanus und Schelling noch gedacht wurden und nun ideengeschichtlich in ihrer interkulturellen Relevanz zusammen von der Philosophie, den Philologien, vor allem den orientalischen wieder gehoben werden müssten. Gerade der Gottesbegriff biete nicht nur für die monotheistischen Religionen über ihre theologische und philosophische Fragestellungen gemeinsame Angriffspunkte, denen Jaspers in seinen ‚weltgeschichtlichen Betrachtungen’ der Philosophie und seinen Studien zur außereuropäischen Philosophie wie den ‚großen Denkern’ in Buddhismus und Islam nachgegangen sei. So sei eine Neubestimmung der metaphysischen Fragestellung aus unserer Tradition und anderen heraus zentral für die gegenwärtige Philosophie und ihr wichtiger Beitrag zu die an die Universität sich stellenden Fragen.
Martin Gessmann entwickelte schließlich mit Jaspers eine interdisziplinäre, lebens- und sozialwissenschaftliche Fragestellung an die heutige – neue – ‚geistige Situation der Zeit’ (Jaspers), in der Grenzsituationen nicht mehr nur als inkommensurables Widerfahrnis darstellten, sondern vielmehr aus Flucht vor dem Alltag gesucht und kommerziell vermarktet würden: Erlebniskultur, inszenierte körperliche Grenzerfahrungen wie Bungeejumping und diverse Techniken der physischen und psychischen Selbststeigerung verwiesen gerade auf die kultur- und sozialkritische Relevanz des Jasper’schen Terminus, insofern sich an ihnen gerade Desiderate von Sinn und Sinnsuche, die Unterscheidung von einer ‚schlechten Unendlichkeit’ des sozial organisierten Selbsttranszendierens und einer sinnorientierten Erfahrung der eigenen Endlichkeit, in der sich Möglichkeiten sinnstiftender Transzendenz eröffneten.
Zum anderen trat Gessmann dafür ein, mit der ganzen ideengeschichtlichen und philosophischen Tradition aufmerksam auf die neuen Entwicklungen in (Bio-)Technologie und den sog. ‚life sciences’ zuzugehen, sie nicht einfach von einem metaphysischen Standpunkt als platten Naturalismus abzutun, sondern – gerade im Sinne des psychopathologischen Empirikers Jaspers – als Herausforderung des menschlichen Umgangs mit der Transzendenz in (ethischen) Grenzsituationen anzunehmen. Jaspers selbst habe solche Wandlungen menschlicher Verständniswelt vollzogen, so mit der Veränderung seines rein existenziellen Schuldbegriffs der 20er Jahre zu dem metaphysischen Schuldbegriff in seiner spezifisch historisch und sozialen Situation nach dem 2. Weltkrieg, wo die Schuldfrage zu einer gemeinsamen ‚Grenzsituation’ und Aufgabe wurde.
So erwies sich nun nicht nur die Offenheit und Anschlussfähigkeit der Jasper’schen Grundbegriffe hinsichtlich sozialer, globaler, interkultureller, philosophischer, theologischer, wissenschaftstheoretischer und ethischer Problematiken, sondern auch ihre Aktualität, die sich im Anschluss an Ehrungen und Feierlichkeiten an der Ruperto Carola und anderenorts weiter aufgreifen und in Forschung und Lehre diskutieren lässt.
Dr. Annette Hilt (Philosophische Seminar)
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