Mao Zedongs „Kulturrevolution“ in der Karaoke-Bar
29. Januar 2013
Bild: Zhang Hongtu, The Last Banquet, 1989
Die Zeit der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ unter Mao Zedong (1966 bis 1976) wird oft als eine politische, ökonomische und soziale Katastrophe für China dargestellt. „Dennoch erfreut sich die Propagandakunst dieser Zeit bis heute großer Beliebtheit in vielen Bereichen der chinesischen Gesellschaft“, erklärt Prof. Dr. Barbara Mittler, Sinologin an der Universität Heidelberg. Welche Ursachen dies hat, ist Thema ihres gerade erschienenen Buches, das am 7. Februar 2013 der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Die Wissenschaftlerin untersucht darin insbesondere den Einfluss musikalischer, literarisch-philosophischer und künstlerischer Traditionen aus vorkulturrevolutionären Zeiten, die auch nach dem Ende der „Kulturrevolution“ weiter ihre Wirkung entfalten. Bei der Buchvorstellung wird es auch eine Einführung in die die Publikation ergänzende Online-Ausstellung und -Datenbank geben. Prof. Mittler forscht und lehrt am Institut für Sinologie und gehört dem Direktorium des Exzellenzclusters „Asien und Europa im globalen Kontext“ der Ruperto Carola an.
„In China findet man die ‚Modellstücke’, also die auf Parteilinie getrimmten Bühnenstücke der Kulturrevolution, und die damaligen Revolutionslieder nicht nur in populären Neuinszenierungen auf den großen Theaterbühnen, sie tauchen auch in gut verkauften Jubiläumsausgaben, in Karaoke-Bars oder in Homevideos immer wieder auf“, erläutert Barbara Mittler. „Propagandabilder wie das Mao-Portrait hängen an den Spiegeln der Taxifahrer, sie sind auch auf T-Shirts und Accessoires aufgedruckt. Es gibt unzählige Websites, auf denen Erinnerungen an die politisierte Kunst und Kultur der Kulturrevolution wie Mao-Buttons, revolutionäre Comics oder die berüchtigen ,Loyalitätstänze’ ausgetauscht werden, und sehr gerne wird heute sogar im ‚Kulturrevolutionsstil’ geheiratet.“ In ihrer englischsprachigen Publikation gibt die Autorin Antworten auf die Frage, weshalb die Propagandaprodukte ausgerechnet dieser Periode, deren radikale Politik China für zehn Jahre bestimmte und die vielen Menschen, vor allem Intellektuellen, großes Leid und Unglück zufügte, so beliebt sind.
Die Autorin untersucht das Thema aus dem doppelten Blickwinkel von Produktion und Rezeption. Dabei stützt sie sich auch auf Interviews, die sie mit Chinesen unterschiedlicher Generationen und sozialer Schichten geführt hat. Nach den Worten der Wissenschaftlerin stellt die partikulare Ästhetik der revolutionären Kunst und Kultur, für die die kulturelle Produktion der Kulturrevolution symbolisch steht, eine „kontinuierliche Revolution“ dar, die bereits im späten 19. Jahrhundert beginnt und heute noch andauert. „Das enge Zusammenspiel zwischen Kunst und Politik ist keine Erfindung der Kommunistischen Partei Chinas, Maos oder der Kulturrevolution, sondern hat in China eine sehr lange Geschichte, die bis in das Altertum zurückreicht – ein Grund dafür, dass Propagandakunst in China vielleicht leichter akzeptiert wird als anderswo“, erklärt Prof. Mittler. „Es lässt sich außerdem zeigen, wie transkulturell die Kulturrevolution doch war, auch wenn dies oft ganz anders dargestellt wird. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, dass die Kultur der Kulturrevolution weder mit den chinesischen Traditionen noch mit den europäischen Ideen bricht – im Gegenteil.“
Dies dokumentiert auch die das Buch ergänzende Online-Ausstellung und -Datenbank, die Bilder, Filme und Klangbeispiele der Propagandaprodukte aus der Zeit der Kulturrevolution, ihre Vorgängerversionen und ihre Covers aus der Gegenwart enthält. Sichtbar und hörbar werden hier beispielsweise sinfonische, traditionell instrumentierte und Rock-Versionen eines alten Propagandaliedes mit dem Titel „Der Osten ist rot“. Programmiert wurde die Datenbank von Christian Straube unter Mithilfe der IT-Spezialisten des Exzellenzclusters, in dessen Rahmen das Buch entstand. Sie ist im Internet unter http://projects.zo.uni-heidelberg.de/continuousrevolution/ zu finden.
Barbara Mittler (Jahrgang 1968) studierte Sinologie, Musikwissenschaft und japanische Sprache in Oxford, Heidelberg und Taibei. Nach der Promotion 1994 arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin an der Ruperto Carola, an der sie sich – nach einem Jahr als Visiting Scholar an der Harvard University – 1998 habilitierte und zunächst als Hochschuldozentin, seit 2004 als Professorin für Sinologie lehrt und forscht. 2000 erhielt sie den Heinz-Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2008 wurde sie in die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina aufgenommen. Von 2007 an arbeitete sie im Vorstand und als Sprecherin des Forschungsbereichs „Public Spheres“ des Exzellenzclusters „Asien und Europa im globalen Kontext“, seit 2012 ist sie eine der drei Co-Direktoren des Clusters.
Hinweis an die Redaktionen:
Die Buchvorstellung, veranstaltet vom Konfuzius Institut an der Universität Heidelberg, findet am Donnerstag, 7. Februar 2013, im Karl Jaspers Zentrum, Voßstraße 2, Gebäude 4400, statt. Beginn ist um 18.30 Uhr.
Digitales Bildmaterial ist in der Pressestelle erhältlich.
Literaturhinweis:
Barbara Mittler: A Continuous Revolution: Making Sense of Cultural Revolution Culture. Harvard University Asia Center, Harvard University Press 2013
Kontakt:
Prof. Dr. Barbara Mittler
Institut für Sinologie
Telefon (06221) 54-7765
barbara.mittler@zo.uni-heidelberg.de
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