Sprechende Bilder
Vom lang nachhallenden Klang illustrierter Worte
von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch
Bilder ergänzen und verschönern Texte. Sie dienen als optische Merkzeichen, schaffen Ordnung oder verhelfen dem Leser in öden Buchstabenwüsten zu einer besseren Orientierung. Doch Bilder können auch zum Leser sprechen. Auf unterschiedliche Weise tun sie dies in mittelalterlichen Handschriften. Aus dem Jahr 1470 stammt ein kleines, bislang wenig beachtetes Bändchen mit dem Text „Heidin“. In der Orientnovelle, die zu den Henfflin-Handschriften der Heidelberger Universitätsbibliothek zählt, finden sich zwei erfindungsreiche Bilder, die in ihrer Einmaligkeit den Klang der illustrierten Worte uns auch heute noch hörbar machen.
Wittig bereitet sein Liebesgeständnis vor (Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cpg 353, fol. 20v)
Copyright: Universitätsbibliothek Heidelberg
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Seit dem 6. Jahrhundert bis weit in die Neuzeit hinein gelten Bilder – gemäß einer Äußerung von Papst Gregor dem Großen – dem Laien als Ersatz für die Schrift, die nur der Gebildete zu lesen vermag. Vor allem zur Wissensvermittlung und zur Memorierung der Inhalte, vorwiegend religiöser Themen, wurden von Papst Gregor Bilder als sinnvoll erachtet. Als Königsweg zur Erkenntnis aber galt das Hören, insbesondere der Heiligen Schrift: Sie dringt in der Liturgie durch das Ohr ein und lässt die Menschen mit ihren inneren Augen, den Augen des u Herzens, schauen.
Zu den großen Themen der Illustrationen mittelalterlicher Handschriften gehört denn auch die Visualisierung der über das Ohr vernommenen (göttlichen) Sprache, die in Schrift materialisiert wird. Am deutlichsten wird dieses Anliegen in den vielen Miniaturen der Evangelisten, die Gottes Worte vernehmen und diese in Schrift umsetzen. In den frühmittelalterlichen Handschriften nähern sich Bild und Schrift so sehr an, dass wir von Schriftbildern sprechen können. Die meist prunkvollen Miniaturen, deren Farben noch in den heutigen Faksimiles in Gold, Purpur und Lapislazuli erstrahlen, führen uns nicht nur das Offenbarwerden von Gottes Wort in unserer Welt vor Augen, sondern schaffen eine neue Verbindung von Schrift und Bild. Bilder verleihen den Evangelien als den wichtigsten liturgischen Büchern eine Kostbarkeit, die allein dem Wort Gottes gemäß ist.
Im Gegensatz zu den freudvoll illustrierten, noch in der Spätantike entstandenen Epen bleibt die Illustration von Texten vom Frühmittelalter bis ins 12. Jahrhundert weitgehend auf liturgische Werke beschränkt. Im Widerspruch zu Papst Gregors Aussage sind ihre Inhalte freilich meist so komplex, dass dem Laien ihr Verständnis verschlossen bleibt. Allenfalls auf den ersten Blick vermitteln Bilder biblische Lehrinhalte. Diese werden kunstvoll mit weiteren Bedeutungsbezügen verbunden, die sich nur dem Kenner über weitere Bild- und Textassoziationen erschließen.
Medea und Jason im Gespräch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. 2773, fol. 14r)
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Bebilderte Volkssprache
Die früh-und hochmittelalterlichen Schriften sind ausschließlich lateinisch. Daher sind Geistliche, meist Mönche, die Träger der Buchkultur. Dies beginnt sich im Laufe des 12. Jahrhunderts zu ändern, als die bis dahin weitgehend mündlich überlieferte Volkssprache allmählich verschriftlicht wird. Während des Prozesses der Verschriftlichung, in dem die Volkssprache einen bisher dem Latein vorbehaltenen Status erhält, spielen Bilder eine wichtige Rolle. Die noble Ausstattung mit Bildern trägt dazu bei, der Volkssprache zur Akzeptanz als Schriftsprache zu verhelfen. In den frühen volkssprachlichen Texten des 13. Jahrhunderts schließen sich die Illustrationen in Form und Gestaltung der Inhalte, im Verhältnis von Schrift und Bild, an die lateinische Tradition an, womit sie dem neuen Schrifttum eine vergleichbare Autorität verschaffen.
Zunächst werden Bücher für die private Andacht verfasst, in denen oft Latein und Volkssprache nebeneinander stehen und die Bilder zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache vermitteln. Zunehmend jedoch emanzipieren sich die Volkssprachen. Die großen Werke zur Geschichte Karls des Großen, zur Geschichte der Trojaner und Römer sowie die höfischen Romane werden nun von einem zumeist adeligen Publikum konsumiert.
Im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert entwickelt sich neben den höfischen Zirkeln auch ein städtisches literarisches Interesse. Vor allem Frauen scheinen sich mit der volkssprachlichen Literatur zu befassen. Berichte über Damen, die Herren zu deren höfischer Erziehung vorlesen, und vor allem Testamente, in denen Bücher über Frauen weitervererbt werden, lassen uns – wie auch Vermerke in Handschriften – Frauen als Leserinnen und Auftraggeberinnen von Handschriften erkennen.
Dem immer breiter werdenden Bedürfnis nach volkssprachlichen Texten kommen im Spätmittelalter vermehrt städtische Schreiber und Maler nach. Die neuen Leserschichten werden von den nunmehr akzeptierten Texten erreicht, in denen die Bilder der Laienmaler vielfältige Funktionen übernehmen. Von rasch arbeitenden, wechselnden Gruppierungen werden chiffrenartige Illustrationen geschaffen, die vor allem der Gliederung der Texte und der Orientierung des Lesers dienen. In Prunkausgaben dagegen entführen visionäre Illustrationen den Betrachter in eine emotionale Versenkung, die ihm über das Bild die Schau mit den Augen des Herzens erlaubt. Die Maler haben gestalterische Freiheiten gewonnen, die im Hochmittelalter nicht angestrebt wurden. Sie schaffen Illustrationen, die kinästhetische Erfahrungen ermöglichen – vergleichbar dem späteren Daumenkino –, oder funktionieren die Blätter des Codex zu Theaterräumen um. Die Buchmaler des 15. und frühen 16. Jahrhunderts verblüffen mit künstlerischen Effekten, unerwarteten Abfolgen und Gestaltungen, wie sie die Buchillustration in dem parallel hierzu einsetzenden Buchdruck viele Jahrhunderte nicht mehr kennen wird. Es sind dann erst die Skizzenbücher der Künstler und die Malerbücher des 19. und 20. Jahrhunderts, die ähnliche Bilderfindungen ausprobieren.
Libanet verweist Wittig auf ihre eheliche Treue (Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cpg 353, fol. 23v)
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Bildliche Rückverweise
Im Folgenden soll von den neuen Aufgaben, die Bildern in Handschriften des 15. Jahrhunderts zukommen, eine Aufgabe herausgestellt werden, die bisher nicht weiter beachtet wurde und die man als Reoralisierung bezeichnen könnte. Hatten die Bilder zu Beginn der volkssprachlichen illustrierten Handschrift die Funktion der Vermittlung zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition übernommen, geht es in einigen spätmittelalterlichen Werken um den Rückverweis auf eine mündliche Übermittlung in einem Vortrag oder in theatralischen Inszenierungen.
Bildquellen, die uns über audiovisuelle Aufführungen von Texten informieren, sind nicht gerade häufig. In den für König Charles V. hergestellten „Grandes Chroniques de France“ wird während des Gastmahls zu Ehren Kaiser Karls IV. die Eroberung Jerusalems als Schauspiel gezeigt. Berichte von „lebenden Bildern“ – etwa berühmter Männer und Frauen, deren Lob vorgetragen wurde – informieren uns über Kombinationen von Schauen, Hören und Lesen. Inwieweit vergleichbare Arrangements in Handschriften, an Wänden und in Tafelbildern entsprechende Aufführungen abbildend wiedergaben oder für den Betrachter lediglich die multimediale Praxis virtuell nachlebbar machten, ist für unseren Kontext unwichtig. Die Bilder rekurrieren in jedem Fall in neuer Weise auf das gesprochene Wort, rufen beim Rezipienten über das Schauen und Lesen das Hören auf.
Am Beispiel einer Manuskriptgruppe der Heidelberger Universitätsbibliothek, der sogenannten Henfflin-Handschriften, wurde erst während uuder Digitalisierung eine bis dahin nicht beobachtete Performativität der Illustrationen erkennbar. Die Maler benützten den Vorgang des Blätterns zu einem „Bühnenwechsel“. Geradezu als Daumenkino stellten sich in der neuen Präsentation die bis dato als einfallslos interpretierten, weil schematisch dieselben Episoden wiederholenden Bilder heraus. Die am „Sigenot“ (Cpg 67) beobachtete Gestaltung des Codex als Bühne mit Szenen und Staffagewechseln ist, wie erste Untersuchungen zeigen, auch anderen Illustratoren des Spätmittelalters vertraut. In der Henfflin-Gruppe allerdings scheint Performativität eine besondere Bedeutung zu haben und auch noch eine weitere Dimension außer dem „Blickwechsel“ zu befördern, nämlich das Hören.
Die Henfflin-Handschriften
Die Henfflin-Handschriften sind um das Jahr 1470 im Auftrag Margarethes von Savoyen (1420 bis 1479) entstanden. Als Tochter von Herzog Amadeus von Savoyen, dem späteren Papst Felix V., stammte sie aus höchsten Kreisen, die breite literarische Interessen pflegten. Ihre in einer Lobrede besungene höfische Bildung konnte die Urenkelin des bibliophilen Jean de Berry, Cousine Philipps von Burgund, in erster Ehe mit Ludwig III. von Anjou, in zweiter mit Kurfürst Ludwig IV. von der Pfalz verheiratet, auch in Heidelberg weiter leben. Der Stuttgarter Hof, an den sie in dritter Ehe mit Ulrich V. von Württemberg-Urach gelangte, hatte nicht den Ruhm eines mit Heidelberg vergleichbaren literarischen Zirkels. Die über den Erbgang an ihren Sohn Philipp (aus der Heirat mit Ludwig IV.) nach Heidelberg gekommenen und von dem Stuttgarter Schreiber Henfflin geschriebenen und wohl auch in Stuttgart reich illustrierten Handschriften zeugen von ihren Bemühungen, in der ihr fremden Volkssprache ihre breite literarische Bildung zu vertiefen.
Libanet sinniert über den Brief Wittigs (Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cpg 353, fol. 31v)
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An dem kleinen Bändchen mit dem Text der „Heidin“ (Cpg 353) soll an zwei Illustrationssequenzen deren audiovisuelle Dimension analysiert werden. Die „Heidin“ ist eine Novelle in Versen, die gegen 1300 abgefasst und in vier unterschiedlichen Versionen vermittelt wurde. In dem sehr komplexen Text spielen drei Akteure die Hauptrolle: der orientalische Sarazenenkönig Beliant – unermesslich reich, mächtig und tapfer –, seine Gattin Libanet – schönste, treueste und tugendreichste Frau – sowie der christliche Ritter Wittig. Dieser bricht in den Orient auf, um Libanet, deren Ruhm ihn aus der Ferne bezauberte, zu umwerben. Während Beliant auf der Jagd weilt, nutzt Wittig die Abwesenheit seines Gastgebers, um Libanet seine Liebe zu gestehen. Aus Loyalität zu ihrem Gatten reagiert sie mit Empörung und schickt ihn nach langen argumentativen Dialogen weg. Die Kunde seiner ruhmreichen, unendlich tapferen Taten, die er ihr als der unbekannten Frau widmet, stürzt sie in tiefe Konflikte. Die weitere Geschichte soll uns hier nicht interessieren, denn unsere Beispiele betreffen nur diese Episoden.
Von Orientabenteuern und Minne scheint der Text zu berichten, wobei die tugendreiche verheiratete Angebetete gar nicht erobert werden kann. Allerdings löst die Heidelberger Version diese Erwartungen nicht ein, ist sie doch nur selten erzählend. Auf reiche Abenteuer der männlichen Kontrahenten wird nur hingewiesen, und zwar ausschließlich, um ihren Ruhm als Ritter zu bekräftigen.
Der Text besteht meist aus Dialogen und öfter auch Monologen. Dieser Struktur entsprechen auch die auf bloß 67 Blätter verteilten 81 Bilder. Mehrheitlich werden Gesprächsszenen illustriert, und allein drei Bildfolgen (fol. 19v-28r und 37r-46v, 49-53r) stellen nur minimal sich ändernde Dialogszenen zwischen Libanet und Wittig vor (siehe Abbildungen auf Seite 5 und auf Seite 7). Die geringe Varianz dieser Darstellungen muss beabsichtigt sein, entwickelt doch der hier tätige Maler in den übrigen Henfflin-Handschriften eine überwältigende Erzählfreude. In der „Heidin“ hingegen sitzen die Sarazenenkönigin und der christliche Ritter entweder auf einer Rasenbank oder diskutieren im Inneren des Palastes. Häufig stehen sie sich gegenüber auf einem bühnenartigen Rasenstück.
Mit dem Gespräch auf der Rasenbank (siehe Abbildung auf Seite 5) oder auf einer Bank im Innenraum (siehe Abbildung auf Seite 7) assoziiert der Betrachter dank seines Bildgedächtnisses Minneszenen und eine Atmosphäre der Heimlichkeit. Die idyllische Umgebung des Gartens als Ort des Treffens verherrlicht in manchen Kupferstichen, Teppichen oder Minnekästchen ein höfisch überhöhtes, manchmal auch durchaus handgreifliches Minnebild. Das Gespräch im Verborgenen wirkt besonders pikant, weil die Außenwelt in der „Heidin“ völlig ausgeblendet ist. In einer solchen Heimlichkeit, wie sie uns die Illustration weismachen will, dürfte eine verheiratete Dame sich nicht mit einem Herrn unterhalten. In einem Wiener Codex zum „Trojanerkrieg“ (siehe Abbildung auf Seite 6 oben) pflegen Medea und Jason denn auch ihre erste Konversation zwar in einer Nische, aber die unauffällig über die Schultern schauenden Höflinge verfolgen das Geschehen mit Nachdruck.
Libanets Monolog über ihr Dilemma (Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cpg 353, fol. 33r)
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Das sinnliche Vergnügen, das der Betrachter anhand seines vertrauten Bildwissens erwarten darf, wird ihm freilich durch den Text gründlich ausgetrieben. Im ersten Bild (fol. 19v) erkundigt sich Libanet nach seinem Herkommen und dem Namen seiner verehrten Dame, für die er so viel auf sich nehme. Bei deren Erringung wolle sie ihm helfen. Im zweiten Bild bereits (siehe Seite 5) bereitet Wittig mit listiger Absicht sein Liebesgeständnis vor, indem er sich von Libanet das Versprechen geben lässt, sich weiterhin für ihn einzusetzen, auch wenn er den Namen nenne. Er beugt daher im Bild bereits sein Knie, um sich ihr als Minnediener zu empfehlen.
Sie reagiert auf seine Liebeseröffnung keineswegs nach der höfischen Regel des Zierens und einer unter dem Mantel der Ablehnung verborgenen Annahme des Minnedienstes. Rot vor Scham und Zorn antwortet sie, nachdem sie sich gefasst hat, es stünde ihr wohl an, die Rede zu verweigern, derart sei sie von seinem Ansinnen verletzt. Im letzten Bild dieser Serie (fol. 28r) verbittet sie sich endgültig diese Ehrverletzung, und der Maler setzt bereits die Zukunft ins Bild, wenn er wiederum die Außenwelt einblendet, in die der Ritter ziehen wird.
Ihre Ehre als verheiratete Frau, die ihrem Gatten zur Liebe verpflichtet ist, wird von der nach dem Verhaltenscode des Minnedienstes selbstverständlichen Erwartung des Ritters auf Erhörung verletzt. Ein Wertekonflikt innerhalb der höfischen Gesellschaft wird in diesen Reden angesprochen: die eheliche Treue und Liebe gegen die Vision der höfischen Minne.
Zwei erfindungsreiche Illustrationen weist die Handschrift durchaus auf, die in ihrer Einmaligkeit den Klang des Buchstabens und Wortes auch uns noch hörbar machen. Wittig steckt heimlich – der von der Jagd heimkehrende Beliant ist schon in Sichtweite – Libanet einen Ring zu, in dem ein Brief verborgen ist (fol. 29v). Daraufhin verabschiedet er sich vom Hof und zieht im Namen der weiterhin unbekannten Dame im „Heidenland“ auf Abenteuerfahrt, die aber mit der Drohung verbunden ist, er werde den Tod suchen, da ihn Libanet nicht erhört habe. Sein Ruhm dringt auch an Libanets Ohren, und sie erkennt an der Ehre, die er ihrer eingedenk einlegt, dass sie ihm dafür Lohn schulde.
Dem Inhalt nachhören
Der Konflikt zwischen dieser Verpflichtung und der Ehre als Ehefrau treibt sie um. Hin und her sinnierend, was es denn für Wege gäbe, um dieses Dilemma zu lösen, erinnert sie sich an den Ring. Vor dem langen Monolog über ihre innere Zerrissenheit ist Libanet zu sehen (siehe Abbildung auf Seite 8), wie sie, sich leicht nach rechts wendend, nahezu frontal hinter einem Tisch sitzend, den Brief in Händen hält und dessen Inhalt nachhört. In der zweiten, spiegelbildlich darauf antwortenden Illustration (siehe Abbildung oben links), die sich auf einem rechten Blatt – der Rectoseite – befindet, wogegen die erste auf einer Rückseite, der Versoseite, liegt, dreht sich Libanet leicht nach links, hat die rechte Hand dem Betrachter entgegengestreckt, in der man halb verborgen den Ring sieht. Die Rechte presst sie auf ihre Leibesmitte und spricht mit sanft geneigtem Haupt ihr tiefes Dilemma aus: „Ob ich nun tait den willen syn/ We dan miner eren und och myn“ (So ich seinem Willen folgte, wo bliebe meine Ehre und auch ich).
Die beiden Bilder markieren Anfang und Ende des inneren Konflikts, denn anschließend wird die Katharsis in Form der Minnekrankheit eintreten. Die Illustrationen sind über das eine dazwischenliegende Blatt hinweg aufeinander bezogen, womit die Perspektive des inneren Monologs zum Ausdruck gebracht wird: sie spricht mit sich selbst. Zugleich spricht sie zu uns als Leser oder eher als Leserinnen. Wir verfolgen ihr Sinnieren, hören – entweder lesend oder im Vortrag – ihr Ringen um Lösungen.
Die Darstellungen sind in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. In den Kreisen Margarethes von Savoyen, vor allem an den Höfen in Paris und im Burgund, ist seit dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts die Darstellung des Lesens zu einer wichtigen Ikonographie geworden. Die neuen volkssprachlichen Texte und die neuen Leser – insbesondere die königliche Familie – finden in diesem Motiv eine Legitimation ihres Tuns und das gemalte Buch bekräftigt die Evidenz des darin Geschriebenen. Mit Christine de Pizan tritt auch die Autorin, die lesende und schreibende Frau, neu auf die Bühne. Der Lesende vermag sich mit den im Bild dargestellten Lesern zu identifizieren, er selbst ist im Bild und damit eingebettet in den Strom der Wissensvermittlung.
Homer als Autorität des Trojanerkriegs (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. 2773, fol. 1r)
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Nun ist freilich Libanet hier mit ihrer frontalen Ausrichtung zum Betrachter eine ungewöhnlich Lesende und Nachsinnende. Meist werden Leser und Autoren gezeigt, wie sie seitlich im Bild sitzend das Buch konsultieren. Einer der wenigen frontal thronenden Autoren, eine Ikonographie, die Herrschern vorbehalten ist, dürfte Homer als Autorität aller Autoritäten in der schon bekannten Handschrift des „Trojanerkriegs“ (siehe Abbildung rechts) in Wien sein. Homer hat das Buch sinken lassen und meditiert, den Finger an der gerade gelesenen Stelle noch im Buch, über den Text. Diese Ikonographie, auf die auch die beiden Illustrationen Libanets als Leserin und Meditierende rekurrieren, verschafft ihr eine entsprechend hohe Autorität. Die sich mit ihr identifizierende Leserin wird geradezu aufgefordert, sich dieser Tätigkeit des Meditierens, Monologisierens und Memorierens mit aller Inbrunst zu widmen und das Gesagte zu reflektieren.
Was bedeuten nun die breit illustrierten Dialoge und Monologe? Sie dienen zunächst, wie alle Auszeichnungen im Codex, als Merkzeichen, sie ordnen Texte, schaffen Sequenzen und tragen damit zur Strukturierung und vor allem zur besseren Orientierung des Lesers bei, besitzen doch die Handschriften meist kein Inhaltsverzeichnis und nicht einmal Seitenzahlen. In der „Heidin“ waren die Abschnitte zwar vorbereitet, um mit Großbuchstaben gekennzeichnet zu werden. Der Auftrag jedoch scheint so eilig gewesen zu sein, dass dieser Arbeitsschritt entfiel.
Bilder, so sie denn farbig sind, fördern – und diese Meinung wird im 14. Jahrhundert mehrfach vertreten – mit ihren unterschiedlichen Farben die Merkfähigkeit. Nun scheinen aber Bilder doch noch einiges mehr zu können. Sie treten gleichsam als Regisseure auf, um den – damals schon fast zweihundert Jahre alten – Text dem Zeitgenossen in seine ihm bekannte Sprache zu übersetzen. Die Akteure tragen die Mode der Zeit und das Bildrepertoire spricht das Bildgedächtnis des Betrachters an. Die einfachen Dialogszenen – so haben wir gesehen – rekurrieren auf eine Minne-Ikonographie, die das Skandalon des gänzlich unerwartet verlaufenden Gesprächs noch deutlicher machen. Auch wenn der Betrachter weiß, dass die Heidin und der Christ am Schluss dann doch vereint sind, wird ihm gerade wegen seiner gegenteiligen Erwartungshaltung und auf Grund seines Bildgedächtnisses die Schärfe des hier vorliegenden Wertekonflikts bewusst.
Erziehung zur züchtigen Frau – in Schrift, Bild und Ton
Die beiden Monologbilder stellen die Heidin in eine noble Tradition herausragender Leserinnen. Sie bietet der Leserin an, sich mit ihrem eigenen Tun in diesen breiten Strom bedeutender Leserinnen einzustellen, und fordert sie mit ihrer Haltung und ihrer direkten Ansprache dazu auf, es ihr gleichzutun und den Wertekonflikt zu reflektieren. Die vier ausschließlich mit Dialogen illustrierten Sequenzen sind zugleich Lehrbeispiele für die Erziehung der züchtigen Frau. Nun sind aber gerade diese Bilder in einem im narrativen Kontext nicht notwendigen Maße auf den Text angewiesen: Er ist die Rede, die die dargestellten Gestalten zu uns sprechen.
Wie sich die Leser am Stuttgarter Hof volkssprachliche Texte angeeignet haben, ist uns nicht bekannt. Margarethe jedoch hat in ihrer Jugend und noch am Heidelberger Hof rege literarische Zirkel erlebt und wollte dies wohl auch am Stuttgarter Hof einbringen. Vom französischen Hof kannte sie professionelle Vorleser, die Texte mit gekonnter Emphase zu Gehör bringen konnten. Am kurpfälzischen Hof in Heidelberg hielten sich Kenner und Literaten auf, die wohl ebenfalls Literatur in unterschiedlicher Weise vermittelten. Texte wurden nicht nur gelesen oder vorgetragen, sondern manche auch gesungen oder sogar mit verteilten Rollen zur Anschauung gebracht.
In den Dialogbildern wird die audiovisuelle Rezeptionspraxis in Erinnerung gerufen, die Margarethe gewohnt war. Sie selbst setzt sich in der sprechenden Libanet ins Bild und spricht mit aller Autorität zur Leserin, die sich mit der in dem Buch durchgehend als Muster der Tugendhaftigkeit dargestellten Frau identifizieren soll – denn um eine Belehrung, wahrscheinlich anlässlich einer der beiden 1469 oder 1470 stattfindenden Hochzeiten der Töchter Margarethes, handelt es sich in Text und Bild. Als Hochzeitsgeschenk hergestellt, sollte das Buch der Frauenerziehung dienen und verblieb wegen des frühen Todes der jungen Frauen im Besitz der Mutter.
Foto: Philipp Rothe, Heidelberg
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Lieselotte E. Saurma-Jeltsch ist seit Mitte 2011 Seniorprofessorin. Sie hatte den Lehrstuhl für mittelalterliche Kunstgeschichte der Universität Heidelberg seit dem Jahr 1995 inne und war vorher Professorin in Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2004 war sie Dekanin der philosophisch-historischen, seit 2002 der philosophischen Fakultät und 2005 Direktorin des neu gegründeten Zentrums für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften. Ihre Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Buchmalerei, das Verhältnis von Bild und Text, Herstellungs- und Rezeptionsgeschichte von Handschriften, politische Ikonographie und Alteritätsfragen.
Kontakt: l.saurma@zegk.uni-heidelberg.de