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Molekulare Pfadfinder: Wie Proteine Köpfe formen

Wie entsteht aus einem einzigen Ei ein komplexes Lebewesen? Das Rätsel der Gestaltwerdung zu lösen, beschäftigt die Biologen schon seit der Antike. Einen ersten spektakulären Höhepunkt erlebte die Entwicklungsbiologie in den 1920er Jahren mit den Aufsehen erregenden Versuchen des deutschen Zoologen Hans Spemann. Verknüpft mit der Molekularbiologie zählt die Entwicklungsbiologie heute zu den aufstrebendsten wissenschaftlichen Disziplinen. Ihr Ziel ist es, die Wege der Gestaltbildung bis zur Ebene der Moleküle zu verstehen. Christof Niehrs von der Fakultät für Biowissenschaften erläutert, was die Wissenschaft über die Funktion eines dieser Moleküle mit dem vielsagenden Namen "Dickkopf" weiß. Der Entwicklungsbiologe leitet die Abteilung Molekulare Embryologie des Deutschen Krebsforschungszentrums. Für seine Leistungen erhielt er kürzlich den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Embryonalentwicklung hat traditionell einen zentralen Platz in der Biologie und ist heute Dank ihrer Verknüpfung mit der Molekularbiologie zu einer der aufstrebendsten wissenschaftlichen Disziplinen geworden. Entwicklungsprozesse können molekular "zerlegt" werden, und es wird dabei offenbar, dass sich die molekularen Prinzipien der Embryonalentwicklung bei Mensch und Tier sehr ähneln. Wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklungsbiologie der Wirbeltiere waren die Arbeiten des deutschen Zoologen Hans Spemann (1896 bis 1941) und seiner Kollegen. Deren Erkenntnisse sind bis heute gültig, und wir beginnen nun, sie bis auf die Ebene der Moleküle zu verstehen.

Systematisch untersuchten Hans Spemann und seine Mitarbeiter nach dem Ersten Weltkrieg, inwieweit verschiedene Bereiche des frühen Amphibien-Keims, der so genannten Gastrula, bereits "wissen", zu welchem Gewebe sie sich später entwickeln werden. Um dies herauszufinden, transplantierte Spemann Gewebestückchen von Spenderkeimen in Empfängerkeime, und zwar an anderer Stelle. Die spannende Frage war, wie sich die transplantierten Gewebestückchen am neuen Ort verhielten: Konnten sie noch gemäß ihrer neuen Position umprogrammiert werden? Verhielten sie sich also "ortsgemäß"? Oder entwickelten sie sich "herkunftsgemäß", was bedeutet, dass sie von Anfang an "wissen", was aus ihnen werden soll.

 

Eines von Spemanns spektakulären Transplantationsexperimenten erlangte besondere Berühmtheit: Für diesen Versuch verwendete er die so genannte dorsale Urmundlippe der Gastrula – der Rand der Einstülpöffnung des Urdarms – zur Transplantation. Diese Urmundlippe ist für Entwicklungsbiologen besonders interessant, weil von ihr die Gastrulationsbewegungen ausgehen, jene Zellverlagerungen, die in der frühesten Keimesentwicklung stattfinden und die aus dem zunächst zweischichtigen Keim, der Blastula, ein dreischichtiges Gebilde, die Gastrula, hervorgehen lassen.

Während des nunmehr klassischen Experiments übertrugen Spemann und seine Kollegin Hilde Mangold in den frühen 1920er Jahren die dorsale Urmundlippe aus der Gastrula eines Salamanders an die Stelle eines Empfängerembryos, aus der sich später Bauchhaut gebildet hätte. Wie sich herausstellte, löste die obere Urmundlippe an diesem neuen Ort die Entwicklung eines nahezu vollständigen Zweitembryos aus. Dieser sekundäre Embryo besteht nicht nur aus Zellen des Spenders, sondern vor allem aus Gewebe des Wirtskeims. Die Organisation dieses Gewebes obliegt den Zellen der dorsalen Urmundlippe. Diese organisatorische Eigenschaft zeichnet die dorsale Urmundlippe vor allen anderen Keimbezirken der Gastrula aus. Weil sie die Entwicklung benachbarter Keimbereiche beeinflussen kann, bezeichnete Spemann sie als "Organisator". In erster Linie veranlasst der Organisator, dass sich ein vollständiges Nervensystem ausbildet. Diesen Vorgang nannte Spemann "primäre Induktion".

Welcher Teil des Keims wird zu welchem Körperteil des ausgewachsenen Molches?

Welcher Teil des Keims wird zu welchem Körperteil des ausgewachsenen Molches? Transplantationsexperimente zeigen, dass bestimmte Abschnitte des Keims – so genannte Organisatoren – für bestimmte Körperregionen zuständig sind.

Eine vereinfachte Variante des Organisator-Experiments ist der Einsteckversuch: Dabei werden Gewebestückchen eines Spenderkeims in das Blastocoel, den flüssigkeitsgefüllten Hohlraum der Blastula, eines Empfängerembryos gesteckt. Mit dieser Methode untersuchte Otto Mangold die Induktionsleistungen dorsaler Urmundlippen, die verschiedenen Stadien der Gastrula entstammten. Dabei erwies sich, dass mit zunehmendem Alter der dorsalen Urmundlippe zwischen einem Kopf-Rumpf-Organisator und einem Schwanz-Organisator unterschieden werden kann.

Inzwischen weiß man, dass Wachstumsfaktoren im Organisatorgeschehen eine wichtige Rolle spielen. Als "negative Regulatoren" sind mittlerweile zwei Familien bekannt: die "Bone Morphogenetic Protein-" (BMP) und die "Wingless-" (Wnt) Genfamilie.

Proteine bilden Signalketten und entscheiden in einem komplexen Zusammenspiel, ob Kopf oder Rumpf entsteht.

Proteine bilden Signalketten und entscheiden in einem komplexen Zusammenspiel, ob Kopf oder Rumpf entsteht.

Die BMPs gehören zur Oberfamilie der "Transforming growth factor b"-Wachstumsfaktoren und sind in Embryonen des Krallenfroschs Xenopus aktiv. Doch nicht nur bei Wirbeltieren wie dem Krallenfrosch, sondern auch bei Wirbellosen spielen diese Proteine während zahlreicher Prozesse der Embryogenese eine bedeutende Rolle. Sie regulieren die Zellvermehrung und das funktionelle Heranreifen, die Differenzierung, der Zellen. In Xenopus-Embryonen hemmen BMPs den Organisator. Werden ihrerseits die BMPs experimentell gehemmt, kommt es zur Zwillingsbildung – Gleiches geschieht, bei der Transplantation von Organisatorgewebe. Allerdings besteht der entstehende Zwilling lediglich aus Rumpfgewebe. Ein Kopf fehlt ihm.

Wir wissen heute, dass die Funktion des Organisators unter anderem darin besteht, BMP-Signale zu unterdrücken. Hierzu bildet der Organisator eine Reihe natürlicher BMP-Hemmstoffe, beispielsweise Chordin, Noggin und Follistatin. Diese Inhibitoren binden an BMP-Proteine und inaktivieren sie. Der molekulare Mechanismus des Rumpfinduktors erklärt sich also aus der Hemmung von BMP-Signalen. Doch welche Identität hat der Kopfinduktor?

Der Organisator hat nicht nur die BMP- Signale zu "Gegenspielern", sondern auch die Signale der Wachstumsfaktorfamilie "Wingless" (Wnt). Dabei handelt es sich um Glykoproteine, die ebenfalls zahlreiche Prozesse während der Embryonalentwicklung regulieren. Wenn Wnt-Faktoren im Organisator künstlich aktiviert werden, entwickeln sich Embryonen ohne Kopf. Ihr Rumpf jedoch entwickelt sich nahezu normal. Werden Wnt-Faktoren in Xenopus-Keimen experimentell ausgeschaltet, entstehen Kaulquappen mit einem stark vergrößerten Kopf. Die im Xenopus-Embryo aktiven Wnt-Gene hemmen also den Kopforganisator. Überraschenderweise stellten wir während unserer Untersuchungen fest, dass Zweitköpfe entstehen, sobald Wnt- und BMB-Inhibitoren gleichzeitig aktiviert werden. Das wirksame Prinzip des Spemann'schen Kopfinduktors besteht also in der gleichzeitigen Hemmung von BMP- und Wnt-Signalen.

Diese Beobachtung veranlasste uns, nach einem Kopfinduktor im Organisator zu suchen, der gemeinsam mit einem BMP-Inhibitor fähig ist, Köpfe auszubilden. Hierzu führten wir zunächst ein molekulares Screening durch und entdeckten dabei ein neues Gen mit den gewünschten Eigenschaften. Weil dieses Gen Kaulquappen mit vergrößerten Köpfen entstehen lässt, wenn es übermäßig aktiv ist, nannten wir es Dickkopf-Gen. Es enthält die Bauanweisungen für ein Protein, das im Kopforganisator wirkt. Wenn das Dickkopf-Protein zusammen mit BMP-Inhibitoren aktiviert wird, bilden sich zusätzliche Köpfe aus. Injiziert man jedoch Antikörper, die sich gegen das Dickkopf-Protein richten und es ausschalten, entstehen kopflose Kaulquappen.

Heiner Westphal von den National Institutes of Health in den Vereinigten Staaten hat gemeinsam mit uns das Dickkopf-Gen von Mäusen durch so genannte homologe Rekombination ausgeschaltet. Diesen Dickkopf- Maus-Mutanten fehlt der Kopf, der Rumpf der Tiere ist hingegen normal entwickelt. Außer dem fehlenden Kopf haben die Dickkopf-Maus-Mutanten auch missgebildete Extremitäten. Dies weist auf eine Rolle des Gens beim programmierten Zelltod, der so genannten Apoptose, hin.

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Das "Dickkopf-Gen" trägt die Informationen für die Konstruktion des "Dickkopf-Proteins". Auf dessen Anweisung hin formiert sich der Kopf. Schaltet man das Dickkopf-Protein mit Hilfe von Antikörpern aus, kommt es bei Kaulquappen des Krallenfrosches zu Fehlbildungen (unten; links Kontrolle, rechts Experiment). Werden auf experimentellem Wege weitere Dickkopf-Gene eingepflanzt, entstehen sekundäre Köpfe (oberes Bild). Auch beim Menschen gibt es "Dickkopf-Gene".

Das Dickkopf-Gen ist also notwendig für die Kopfinduktion durch den Spemann'schen Organisator. Es ist Mitglied einer Multi-Genfamilie. Beim Mensch kommen neben einem Dickkopf-Gen 1, das dem von Xenopus entspricht, drei weitere Dickkopf-Gene vor. Sie sind jedoch nicht an der Kopfbildung beteiligt, sondern wahrscheinlich für die Organentwicklung wichtig.

Unserem Modell nach wirken Kopfinduktoren als Wnt-Hemmer. Mittlerweile konnten wir erwartungsgemäß zeigen, dass das Dickkopf-Protein ein Wnt-Hemmer ist. Es hat einen komplexen Wirkmechanismus: Das Dickkopf-Protein hemmt den Wnt-Signalweg, indem es als Gegenspieler für den Wnt-Korezeptor, das "Lipoprotein-Related Protein6" (LRP6), fungiert. LRP6 ist zusammen mit dem Wnt-Rezeptor "Frizzled" an der Signalweiterleitung beteiligt, vermutlich indem sich ein Komplex zwischen Wnt, LRP6 und Frizzled bildet. LRP6 vermittelt einen von drei möglichen Wnt-Signalwegen, den so genannten b-catenin Signalweg. Gemeinsam mit einem von uns kürzlich entdeckten Membranprotein, "Kremen", bindet das Dickkopf-Protein an LRP6 und verhindert dadurch die Signalweiterleitung durch b-catenin.

Die Untersuchungen, um die Bildung des Kopfes aufzuklären, haben ein einfaches Prinzip zu Tage gefördert: die Hemmung zweier Signalwege (Wnt, BMP). So einfach das Prinzip, so komplex ist der Wirkmechanismus des Dickkopf-Proteins. Zudem existieren zahlreiche Regulationsmöglichkeiten, welche die Dimensionen der Kopfanlage bestimmen und die in der tierischen Evolution womöglich bedeutsam waren.

Neue Arbeiten haben mittlerweile eine weitere überraschende Rolle des Dickkopf-Proteins gezeigt: Es reguliert die Knochenbildung beim erwachsenen Menschen. Bei bestimmten Patienten, die an einer Krankheit leiden, die mit einer zu hohen Knochendichte einhergeht, hat sich erwiesen, dass sich bei ihnen der Rezeptor LRP5 nicht durch Dickkopf-Protein regulieren lässt. Diese Erkenntnis eröffnet möglicherweise neue Wege, um Knochenkrankheiten, die insbesondere bei älteren Menschen häufig auftreten, medikamentös zu behandeln.

Autor:
Prof. Dr. Christof Niehrs gehört der Fakultät für Biowissenschaften der Universität Heidelberg an und leitet die Abteilung Molekulare Embryologie im Deutschen Krebsforschungszentrum, Im Neuenheimer Feld 280, 69120 Heidelberg, e-mail: niehrs@dkfz-heidelberg.de

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