Dunkle Mächte
Dunkle Energie dominiert unser Universum. Doch was genau die dunkle Energie ist, weiß niemand. Den Wissenschaftlern ist lediglich bekannt, dass sie sich in perfekter Gleichförmigkeit im Universum verteilt und dass ihr Druck negativ ist. Es könnte sich um Einsteins "kosmologische Konstante" handeln oder aber um ein dynamisches Quantenfeld, die Quintessenz. Dann wäre eine "fünfte Kraft" verantwortlich für die dunkle Energie. Was es mit den geheimnisvollen dunklen Mächten auf sich hat, erklärt Christof Wetterich vom Institut für Theoretische Physik.
Die Quintessenz war schon immer geheimnisumwittert. Die Griechen der Antike sahen in ihr den feinen Urstoff, das Subtile und Essenzielle, das im Gegensatz zu Erde, Wasser, Luft und Feuer unfassbare fünfte Element. Die Alchimisten des Mittelalters versuchten, die Quintessenz als reinstes Elixier zu destillieren. Auch für die Kosmologen und Astrophysiker der Gegenwart ist die Quintessenz eine große Unbekannte. Eine dunkle Energie dominiert unser Universum – und wir wissen nicht, was sie ist und welchen Platz sie im Gebäude der Physik einnehmen könnte. Es könnte die von Einstein erfundene kosmologische Konstante sein. Möglich ist aber auch ein dynamisches Quantenfeld – die Quintessenz. Und damit ist wieder die uralte Frage gestellt: Woraus besteht unser Universum?
Entgegen einer weit verbreiteten Annahme besteht unser Universum nicht hauptsächlich aus Sternen und Gaswolken. Die Baryonen – das ist die Materie, aus der im Wesentlichen wir, unsere Erde und die Sterne bestehen – machen weniger als fünf Prozent der Energiedichte des Universums aus. Der größte Teil der Substanz, aus der das Universum besteht, kann weder mit Licht noch mit Radiowellen oder Röntgenstrahlen betrachtet werden: Sie ist dunkel.
Von einem Teil des dunklen Geheimnisses erhalten wir wenigstens indirekt Kunde. Die dunkle Materie klumpt in Galaxien. So besteht auch unsere Galaxie – die Milchstraße – überwiegend aus dunkler Materie. Wo etwas klumpt, zieht die Gravitation andere Objekte an. So wie wir aus den Bahnen und Geschwindigkeiten der Planeten die Masse der Sonne bestimmen können, können wir Teilchen und Objekte messen, die sich in und um eine Galaxie bewegen, und daraus die Masse dieser Galaxie bestimmen – einschließlich der dunklen Materie. Mit dieser Methode lässt sich abschätzen, wie groß die Konzentration der dunklen Materie in Galaxien und Galaxienhaufen ist. Zusammen mit unserer Kenntnis der kosmischen Dichte der Baryonen erlaubt dies recht sichere Schlüsse darüber, wieviel dunkle Materie insgesamt in unserem Universum vorhanden ist.
Klumpen dunkler Materie kann man auch auf die Spur kommen, wenn man ihre Fähigkeit nutzt, Lichtstrahlen abzulenken. Wie eine Linse verzerrt jede Massenkonzentration (also Baryonen und dunkle Materie) das Bild eines dahinter liegenden Objekts. Solche Zerrbilder kennt man auch aus dem Alltag, etwa wenn man einen Gegenstand durch ein Weinglas beobachtet. Auf so genannten Gravitationslinsenbildern ist dann zu sehen, wie ein vordergründiger Galaxienhaufen eine dahinter liegende Galaxie so stark verzerrt, dass sie gleich mehrfach in der Form von Bogenstücken sichtbar wird.
Gravitationslinseneffekt: Ein vordergründiger Galaxienhaufen verzerrt das Bild einer dahinter liegenden liegenden Galaxie (blau) so stark, dass sie gleich mehrfach in der Form von Bogenstücken sichtbar wird. |
Lichtstrahlen, die von einer weit entfernten Galaxie am Rande unseres Universums stammen, durchqueren auf ihrer mehr als zehn Milliarden Jahre langen Reise oft Schwankungen im Gravitationspotenzial verschiedenster Massekonzentrationen. Die mittlere Verzerrung ist zwar nur klein, lässt sich aber inzwischen messen. Man sieht damit alles, was klumpt, und findet auch hier, was die anderen Messungen aussagen: Die dunkle Materie steuert ungefähr ein Viertel der Energiedichte des Universums bei.
Galaxienhaufen in den Tiefen des Universums |
Heute wird kaum mehr bezweifelt, dass es wesentlich mehr dunkle Materie als Baryonen gibt. Ohne die dunkle Materie wäre es auch quantitativ nicht zu verstehen, wie sich kosmische Strukturen, etwa Galaxienhaufen und Galaxien, aus ursprünglich winzigen Schwankungen der Energiedichte bildeten. Doch noch wurden die Bestandteile der dunklen Materie von keinem Teilchenbeschleuniger der Hochenergiephysik ausgemacht. Auch die großen Anstrengungen, schwach wechselwirkende Teilchen in unserem Sonnensystem nachzuweisen, waren bisher nicht erfolgreich.
Als wären das noch nicht Rätsel genug, sind die meisten Kosmologen heute davon überzeugt, dass der Großteil der Substanz des Kosmos aus einer noch geheimnisvolleren Komponente besteht: der dunklen Energie. Im Gegensatz zur dunklen Materie ist sie völlig strukturlos und in perfekter Gleichförmigkeit über das ganze Universum verteilt. Die Existenz der dunklen Energie folgt einer denkbar einfachen Rechnung: Wir kennen sehr genau die totale Energiedichte im Universum. Wenn man findet, dass die Summe aller klumpenden Materieformen (= Baryonen und dunkle Materie) nur ungefähr 30 Prozent der totalen Energiedichte ausmacht, dann müssen die restlichen 70 Prozent homogen über das Universum verteilt sein.
Dies bringt Kosmologen in einen Erklärungsnotstand: Alle Teilchen mit genügend großer Masse müssen unter dem Einfluss der Gravitation Klumpen bilden ("Gravitationsinstabilität") und sollten sich daher in Galaxien oder Galaxienhaufen konzentrieren. Masselose oder extrem leichte Teilchen, die der Schwerkraft der Galaxienhaufen entfliehen können, sind die Photonen und die Neutrinos. Beide kommen jedoch nicht als Kandidaten für die dunkle Energie in Frage.
Man mag zweifeln, ob die totale Energiedichte des Kosmos tatsächlich so gut bekannt ist, wie es die Theoretiker behaupten. Gerade diese Vorhersage wurde aber in den letzten Jahren durch beeindruckende Beobachtungen bestätigt. So hat der Satellit "Cobe" erstmals den Urknall fotografiert. Genauer gesagt handelt es sich um ein Foto des Universums im Alter von 300 000 Jahren, seiner frühen Kindheit. Damals wurde das extrem heiße Plasma zum ersten Mal für Lichtstrahlen durchlässig. Dem Nachfolgesatelliten (WMAP) ist es gelungen, eine exakte "Landkarte" des Universums dieser frühen Epoche zu erstellen. Die Karte zeigt kleine Schwankungen der Temperatur der kosmischen Hintergrundstrahlung, die zu einem präzisen Zeitpunkt überall im Universum entstand. Was wir heute sehen, ist die Strahlung von der Oberfläche einer Kugel um uns herum. Seit ihrer Entstehung haben die Strahlen eine Strecke von 13,7 Milliarden Lichtjahren zurückgelegt. Es handelt sich um eine perfekte Schwarzkörperstrahlung mit einer Temperatur von 2,73 Kelvin. Sie kommt fast isotrop mit gleicher Temperatur aus allen Richtungen – aber eben nur fast.
Anisotropie der Hintergrundstrahlung. Die Grafik zeigt die Stärke der Temperaturschwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung in Abhängigkeit vom Winkel zwischen zwei Beobachtungsregionen. Das Maximum entspricht einem Winkel von einem Grad. Für eine totale Energiedichte wesentlich kleiner als die kritische Energiedichte wäre dieses Maximum weit nach rechts verschoben. |
Schaut man sich die Temperatur in Abhängigkeit von der Richtung genauer an, beobachtet man winzige Schwankungen von weniger als einem Teil in zehntausend. Auf der Karte kann man eine charakteristische Größe der Schwankungsregionen erkennen, entsprechend einem Winkel am Himmel von ungefähr einem Grad. Das ist eine entscheidende Information über die totale Energiedichte des Universums: Der Winkel wird von der Geometrie des Universums beeinflusst, die Geometrie wiederum hängt direkt mit der totalen Energiedichte zusammen.
Trotz aller offenen Fragen müssen wir uns wohl mit der Existenz einer homogen verteilten Energiedichte, über die wir kaum etwas wissen, abfinden. Die Homogenität der dunklen Energie scheint eine ihrer wesentlichsten Eigenschaften zu sein. Sie verhindert gleichzeitig jede mögliche Entdeckung in lokalen Systemen, beispielsweise in Galaxien. Etwas, das gleich verteilt ist, kann keine Kraft auf andere Körper ausüben. In welche Richtung sollte die Kraft denn auch ziehen? Und es kann auch kein Licht ablenken: Warum sollte das Licht eher in eine Richtung als in eine andere abgelenkt werden?
Es scheint, als sei die dunkle Energie auf die perfekteste Weise versteckt. Die Tatsache, dass sie die Entwicklung des Kosmos als Ganzes bestimmt, verschafft uns dennoch die Chance, ihr auf die Spur zu kommen. Ihre vielleicht erstaunlichste Eigenschaft ist, dass sie das Universum in Wechselwirkung mit der Gravitation wie nach einer Explosion auseinander treibt. Wir wissen außerdem, dass die dunkle Energie in früheren Epochen der kosmologischen Entwicklung weit weniger bedeutend war. In früheren Zeiten dominierte im Universum die dunkle Materie, und während der ersten 100 000 Jahre beherrschte die Strahlung das Geschehen. Diese "normalen" Formen der Materie bremsen die Expansion des Universums durch ihre gravitationelle Anziehung. Bis vor wenigen Jahren glaubten noch fast alle Wissenschaftler, dass die Verlangsamung der Expansionsgeschwindigkeit auch heute noch anhält. Die dunkle Energie hingegen hat genau die gegenteilige Tendenz: Ihr Druck wird negativ, wenn sie sich zeitlich nicht zu stark verändert. Wenn unser Universum in "jüngster Zeit" – das sind für Kosmologen ein paar Milliarden Jahre – unter die Herrschaft der dunklen Energie fiel, dann sollte sich die verlangsamte Expansion mittlerweile in eine beschleunigte Expansion umgekehrt haben. Genau dies war das Ergebnis der Messung der Luminosität und Rotverschiebung weit entfernter Supernova-Explosionen. Hält die beschleunigte Expansion an, werden künftige Beobachter die fernsten heute beobachtbaren Galaxien nicht mehr sehen können. Wir wissen, dass sich die dunkle Energie homogen verteilt und dass sie einen negativen Druck ausübt. Viel mehr wissen wir nicht. Hier stellt sich die Frage: Wenn die Kosmologen derart im Dunklen tappen, woher nehmen sie dann die Gewissheit, dass ihr Gedankengebäude nicht völlig realitätsfremd ist?
Im Gegensatz zur erfolglosen Quintessenz-Suche der Alchimisten haben wir noch eine Reihe weiterer beeindruckender Belege, die darauf hinweisen, dass die dunkle Energie unser Universum dominiert. Die dunkle Energie beeinflusst nicht nur die Lage des ersten Maximums der Anisotropien der kosmischen Hintergrundstrahlung. Sie beeinflusst auch den gesamten charakteristischen Verlauf der Kurve mit Maxima und Minima. Aus den winzigen Anisotropien im frühen Universum entstanden später die Galaxien und Galaxienhaufen. Wir können die Stärke der Schwankungen vor 13,7 Milliarden Jahren mit der Hintergrundstrahlung messen und dann für ein gegebenes kosmologisches Modell berechnen, wie die heute beobachteten Galaxien verteilt sind. Für Modelle mit dunkler Energie stimmt die Beobachtung gut mit den Rechnungen überein. Auch das aus den Anisotropien der Hintergrundstrahlung berechnete Alter des Universums deckt sich mit unserem Wissen über die ältesten Sterne der Milchstraße. Gibt es dunkle Energie, so passt dies auch zum beobachteten Wert des Hubble-Parameters. Was ist nun ist die dunkle Energie? Ist sie die von Einstein eingeführte kosmologische Konstante?
Obwohl er sie später als "die größte Eselei meines Lebens" verwarf, geistert sie seit Jahrzehnten durch die Kosmologie, bereitet theoretischen Physikern aber größtes Kopfzerbrechen. Bei naiven Rechnungen kommt sie um 120 Größenordnungen größer heraus als beobachtet – es gibt nur wenige Abschätzungen, die noch mehr daneben liegen. Die Alternative wäre eine dunkle Energie, die sich dynamisch verändert: die Quintessenz. Schon vor 16 Jahren habe ich vorgeschlagen, dass ein Skalarfeld – das Kosmon – für eine sich zeitlich verändernde kosmologische "Konstante" verantwortlich ist. Die homogen verteilte potenzielle und kinetische Energie des Skalarfelds – später Quintessenz genannt – verringert sich über kosmologische Zeiten ähnlich wie die anderen Energieformen. Der winzige Betrag der dunklen Energie kann dann durch das enorme Alter des Universums erklärt werden. Für eine große Klasse solcher Modelle folgt die richtige Größenordnung der dunklen Energie dann aus der Existenz von "kosmischen Attraktorlösungen", für die sich die dunkle Energie an die anderen Materieformen anpasst. Für eine realistische Kosmologie muss die Quintessenz in der heutigen Epoche die dunkle Materie übertrumpfen.
Lassen sich die Alternativen Quintessenz und kosmologische Konstante durch Beobachtungen unterscheiden? Ein wesentlicher Unterschied liegt im Zeitverhalten. Die kosmologische Konstante kann in den frühen Stadien der Entwicklung des Universums völlig vernachlässigt werden. Im Gegensatz dazu mag Quintessenz schon zu Zeiten der Nukleosynthese, der Entstehung der kosmischen Hintergrundstrahlung, oder während der Strukturbildung eine gewisse Rolle gespielt haben. Auch die Beschleunigung der Expansion des Universums könnte für Quintessenz etwas geringer ausfallen als für eine kosmologische Konstante. Bisherige Messungen schließen bereits einige der vorgeschlagenen Quintessenzmodelle aus.
Eine besonders interessante Klasse von Quintessenzmodellen kann jedoch erst bei weiter gesteigerter Präzision der Beobachtungen von einer kosmologischen Konstante unterschieden werden. Hier wird in den kommenden Jahren von neuen Satelliten sowie einer detaillierten Durchmusterung des Himmels mit leistungsstarken Teleskopen eine große Flut spannender Daten erwartet.
Quintessenz basiert auf der Quantenfeldtheorie für das skalare Kosmon-Feld. Durch den Austausch von virtuellen Kosmon-Quanten wird eine Kraft vermittelt – ebenso wie die elektrischen und magnetischen Kräfte durch den Austausch virtueller Photonen zustande kommen. Statt des "fünften Elements" der Antike haben wir es nun mit einer neuen "fünften Kraft" zu tun. Im Gegensatz zur kosmologischen Konstanten impliziert Quintessenz eine neue fundamentale makroskopische Wechselwirkung. Auf der Erde oder in unserem Sonnensystem ist diese Wechselwirkung zwar bedeutend schwächer als die Gravitation – aber ihre Existenz hätte recht spektakuläre Konsequenzen, die mit zukünftigen Präzisionsmessungen nachgewiesen werden könnten.
Insbesondere wird das Äquivalenzprinzip verletzt. Körper mit gleicher Masse aber verschiedener Zusammensetzung fallen auch im Vakuum nicht mehr gleich schnell. Der Unterschied in ihrer relativen Beschleunigung ist zwar nur winzig – typische Modelle kommen auf einen Wert von 10-14 – dennoch wird der Satellit "Microscope" in der Lage sein, dies zu testen. Vielleicht noch spektakulärer ist, dass Quintessenz eine Zeitabhängigkeit der fundamentalen "Konstanten" vorhersagt. Die elektrische Ladung und Masse des Protons hatten in der frühen Kosmologie nicht exakt den gleichen Wert wie heute. Der Grund dafür ist einfach: Die fundamentalen "Konstanten" hängen vom Wert des Kosmon-Feldes ab, und dieses verändert sich mit der Zeit. Zum Glück ist auch dieser Effekt nur winzig – sonst würden Aussagen über den Zustand des frühen Universums viel komplizierter.
Die vielleicht präziseste Möglichkeit, nach einer Zeitänderung der Kopplungskonstanten im frühen Universum zu fahnden, misst die Änderung der Feinstrukturkonstanten durch Absorptionslinien im Licht ferner Quasare. Die Auswertung dieser Messung ergab mit hoher statistischer Signifikanz, dass die Feinstrukturkonstante im sehr frühen Universum um etwas weniger als ein Hunderttausendstel kleiner war als heute. Bei einer ersten Beobachtung muss immer mit systematischen Fehlern gerechnet werden. Hätte die Gruppe jedoch recht, geriete ein weiterer Pfeiler eines statischen Weltbildes ins Wanken: Selbst die fundamentalen Kopplungen ändern sich. Wie schon die Griechen der Antike wussten: "panta rei" – "alles fließt". Die fundamentalen Gesetze der Welt werden zeitabhängig – wenn auch nur ein wenig. Sie hängen ab vom Zustand des Kosmon-Feldes. Und das ist schon fast wieder so etwas wie der feine Urstoff, der Äther, der antiken griechischen Philosophen.
Autor:
Prof. Dr. Christof Wetterich
Institut für Theoretische Physik
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