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Die Entdeckung zweier verlorener Städte

Ein Zufall führte Heidelberger Forschungsreisende in eine Schlucht Anatoliens, wo eine sensationelle Entdeckung auf sie wartete: die Reste eines in den Felsen geschlagenen antiken Bauwerks. Damit begann im Jahr 2000 eine rege Forscherarbeit, an der sich unter Heidelberger Leitung mittlerweile über 60 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und Länder beteiligen. Vera Hirschmann und Peter Lampe von der Theologischen Fakultät schildern die spannende Entdeckungsgeschichte und die derzeitigen Arbeiten, die sichtbar machen, was lange verloren geglaubt.


Karte des Fundorts


Im anatolischen Phrygien, der Heimat des sagenhaften Königs Midas, folgte vor hundertzwanzig Jahren der britische Epigraphiker Sir William Ramsay den Spuren der frühchristlichen Bewegung des Montanismus (2. bis 6. Jh. n. Chr.). Er reiste mit der Bahn und zu Pferde.

Mit Laptop und GPS-Gerät folgen im Jahre 2000 Heidelberger Forschungsreisende denselben frühchristlichen Spuren. Im schattigen Garten einer Moschee führen sie mit dem Museumsdirektor der phrygischen Stadt Us¸ak ein Gespräch, das weitreichende Folgen haben soll. Denn der Direktor erwähnt gegenüber den beiden Leitern des Teams, Peter Lampe aus Heidelberg und William Tabbernee aus Tulsa, USA, die Reste eines antiken Bauwerks, das er nicht einordnen könne und nach alter kleinasiatischer Tradition in den Felsen eingehauen sei. Eine halbe Autostunde von Us¸ak entfernt liege diese "church in a cave". Schon am Nachmittag macht sich eine kleine Gruppe auf, um mit eigenen Augen zu sehen.
Die Reste eines antiken Klosters, eingehauen in die Canyonwand

Die Reste eines antiken Klosters, eingehauen in die Canyonwand


Die Fahrt zu den Resten des antiken Bauwerks führt durch eine dramatische Naturkulisse. Als auch noch ein Gewittersturm aufzieht, der die ungesicherten Wege aufweicht, scheint es fast, als solle die Gruppe davon abgehalten werden, weiter ins Hinterland vorzudringen.

Nirgendwo in der wissenschaftlichen Literatur ist in dieser Gegend ein derartiges Felsenbauwerk erwähnt. Die Spannung wächst. Am Eingang in ein Flusscanyon muss der Wagen zurückgelassen werden. Zu Fuß trotzt die kleine Forschergruppe dem Regen und stapft durch den Morast des unwirtlichen Flussufers. Nach einer dreiviertel Stunde tauchen in der Canyonwand schemenhaft die gigantischen Reste eines Gebäudes auf.

Die Strukturen eines alten Klosters sind zu erkennen. Felsenklöster dieser Art sind bislang nur aus weit östlicher gelegenen Gebieten, vor allem aus Kappadokien, bekannt.

Der Aufstieg zum Kloster führt über einen Steilhang und wird von prasselndem Regen und Donnergrollen begleitet. Oben angekommen, entschädigt der Anblick alle Mühen. Die Reste einer zentralen Kuppel sind gut erhalten, einzelne Mönchszellen in drei Etagen übereinander in den Fels gehauen. Einarbeitungen in den Fels deuten auf aufwendige Holzeinbauten, die ein Brand zerstört hat. Von Ruß geschwärzte Graffiti zeigen griechische Buchstaben und byzantinische Kreuze. Der Blick zurück in den Flusscanyon ist Atem beraubend.
Asketische Mönchszellen

Asketische Mönchszellen

Welche historische Bedeutung das Felsenkloster hat, belegt eine Entdeckung, die das Team zwei Tage zuvor gemacht hat. Im Garten des Museums der Stadt Us¸ak fand das Heidelberger Team einen Stein, auf dem die Bewohner eines antiken Ortes namens Tymion erwähnt werden. Dieser Stein wurde "in situ", also in seiner mutmaßlichen Originallage, von einem Bauern aus dem Acker geborgen. Er erlaubt es, die antike Ortschaft Tymion, nach der seit Sir William Ramsay mehrere Forschergenerationen gefahndet haben, auf einer kaiserlichen Domäne zu lokalisieren.


Geophysikalische Messung mit dem Cäsium-Magnetometer

Geophysikalische Messung mit dem Cäsium-Magnetometer

Tymion wird neben einer anderen Stadt, Pepouza, in den antiken Quellen als zentraler Ort der frühchristlichen Bewegung des Montanismus erwähnt. Diese spätantike Bewegung wühlte die Kirche zuerst in Kleinasien und dann reichsweit auf und forderte sie zu einem Jahrhunderte dauernden Ketzerkampf heraus. Pepouza und Tymion galten der montanistischen Bewegung als heilige Orte. Als berühmtester Vertreter der Montanisten gilt der Kirchenvater Tertullian, der sich in seiner späteren Schaffenszeit vom Montanismus in den Bann ziehen ließ.

Obwohl diese prophetisch-charismatische Bewegung aus Phrygien bereits früh von der Kirche attackiert wurde, breitete sie sich rasch von ihrem phrygischen Ursprungsland nach Afrika, Gallien, Rom und Byzanz aus. Die Anziehungskraft der phrygischen Bewegung war ungeheuer groß. Sogar der Codex Justinianus und der Codex Theodosianus erwähnen den Kampf gegen sie.


Unterirdische Scala

Unterirdische Scala

Pepouza wurde als Zentralort des Montanismus um 550 n. Chr. von Soldaten Justinians ausgehoben, die die dortigen montanistischen Gebäude für die orthodoxe Kirche konfiszierten. Doch erst im 9. Jh. verschwinden die Nachrichten über die phrygische Bewegung völlig.

Die Montanisten lebten askestisch, lehnten eine zweite Heirat nach dem Tod des Ehepartners ab und übten strenge Bußdisziplin. Anstoß in orthodox-kirchlichen Kreisen erregte, dass Frauen in Priester- und Bischofsämter zugelassen wurden. Eine montanistische Prophetin konnte sich Christus gar in weiblicher Gestalt vorstellen. Und die Urmutter Eva brachte nach montanistischem Verständnis Weisheit und Erkenntnisfähigkeit in die Welt. Montanistische Christinnen verfassten eigene Bücher und wurden nicht zuletzt vom Kirchenvater Origenes dafür gerügt.
Mönchszellen

Mönchszellen


Das Hauptcharakteristikum der Montanisten war ihre ekstatische Prophetie, deren Form in den paganen Religionen Phrygiens wurzelte. Die vorchristlichen Kulte Phrygiens – vor allem der Kult der großen anatolischen Muttergöttin Kybele und ihrer kastrierten Priester – kannten eine lange Tradition ekstatischer Prophezeiung. Der Montanismus stand in der Tradition der alten Religiosität und verband deren Elemente wirksam mit der neuen Lehre des Christentums.

Das brachte dem Montanismus bereits in seinen Anfängen den Vorwurf heidnischer Beeinflussung ein. Hieronymus überliefert, einer der drei Gründer, Montanus, sei ein Eunuchenpriester der Göttin Kybele gewesen, bevor er Christ wurde.

Verdiente Mittagspause nach anstrengender Forscherarbeit

Verdiente Mittagspause nach anstrengender Forscherarbeit


Als kaiserliche Soldaten auf Geheiß des Bischofs Johannes von Ephesus um das Jahr 550 in Pepouza die von montanistischen Pilgern verehrten Gräber der drei Gründer öffneten, fanden sie die Münder der Propheten mit Goldplatten bedeckt. So pflegten in der paganen Kultur Phrygiens vor allem die Propheten der Götter bestattet zu werden. Das Gold deutet auf die Heiligkeit des prophetischen Mundes, durch das die inspirierende Gottheit sprach.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Die Montanisten bezeichneten die Städte Pepouza und Tymion als das "Neue Jerusalem": Hier sollte das kommende Reich Gottes seinen Platz finden. Doch nicht das Weltende, sondern der Dornröschenschlaf ereilte beide Orte. Sie verschwanden im vergangenen Jahrtausend von der Landkarte.

Nur für Schwindelfreie: der beschwerliche Aufstieg ins Kloster

Nur für Schwindelfreie: der beschwerliche Aufstieg ins Kloster

Die moderne Forschung suchte hundertzwanzig Jahre lang vergeblich nach den beiden Orten. Wissenschaftler und Kenner des antiken Kleinasiens wie Sir Walter Ramsay, William Calder oder Louis Robert durchstreiften das phrygische Kernland. Sie folgten den Angaben der antiken Quellen – so wie einst Schliemann anhand der Ilias nach Troja suchte. Bisher hielt keine ihrer Theorien zur Lokalisierung von Pepouza und Tymion stand, was einige Forscher argwöhnen ließ, hier werde lediglich nach Chimären und nicht nach historischen Siedlungen gefahndet.

Das im Jahr 2000 in der Canyonwand entdeckte Kloster und die im Ackerboden geborgene Tymioninschrift bahnte eine archäologische Sternstunde an. Nach der Entdeckung des Steines, der die Lage eines der beiden heiligen Orte sichert, war klar, dass der zweite Ort, Pepouza, im nächsten Umland gesucht werden müsse. So beschreiben es die antiken Quellen. Epiphanius, Bischof von Salamis, berichtet, dass Pepouza nach dem Tod der Gründerpropheten zur Wallfahrtsstätte für Montanisten wurde, die "dort in die geheimen Riten eingeführt" wurden. Das heißt, es müssen Herbergen für Pilger bereitgestanden haben. Ferner muss es in der Stadt mehrere Kirchen und ein Kloster gegeben haben, dessen Vorsteher in den Quellen erwähnt wird. Pepouza war interessant genug, um in einem spätantiken Reiseführer, dem Synekdemos, dem "Reisegefährten" des Hierokles, erwähnt zu werden. Die Informationen der Quellen lassen das Bild Pepouzas als einer größeren Stadt mit mehreren sakralen Gebäuden und einer ausgeprägten Infrastruktur lebendig werden. Alle diese Hinweise der antiken Quellen finden sich in dem abgelegenen Flusstal bestätigt, in dem das Kloster entdeckt wurde.

Als das Heidelberger Team das Flusstal genauer durchforschte, zeigten sich nicht nur kleinere Dependancen des Hauptklosters in Felsenwohnungen, sondern unweit des Hauptklosters auch eine ausgeprägte urbane kontinuierliche Besiedlung seit hellenistischer Zeit. Keramikscherben, Münzen, Gräber und zum Teil monumentale Architekturfragmente belegen dies. Reste einer Wasserleitung, einer römischen Brücke und einer römischen Straße sind Anzeichen der damaligen Infrastruktur. Zwei antike Marmorsteinbrüche lassen in das antike Wirtschaftsleben einblicken, das zusätzlich von der Tymioninschrift erhellt wird.

Dem Stein zufolge lag in der Gegend der beiden montanistischen Orte eine kaiserliche Domäne, auf der freie Landpächter von unrechtmäßigen Abgaben bedrückt wurden: Wer ökonomisch gestresst war, konnte in der ekstatischen Religiosität des Montanismus ein Ventil finden. Die Inschrift belegt erstmals ein kaiserliches Gut in dieser Gegend.

Seit 2001 untersucht ein mittlerweile aus 60 Mitarbeitern bestehendes internationales und interdisziplinäres Forscherteam unter der Leitung des Heidelberger Theologieprofessors Peter Lampe systematisch das Kloster und seine Umgebung. Ein intensiver siedlungsarchäologischer Survey, zu dem auch Vermessung, Geophysik und Geomorphologie gehören, wurde begonnen. Die Siedlungsspuren aller Epochen, auch der prähistorischen Zeit, sollen an beiden Orten, Pepouza und Tymion, dokumentiert werden.

Voraussetzung dafür ist, dass beide Siedlungskammern zunächst mit so genannten Lasertachymetern und satellitengestützten Geräten vermessen werden. Auf diese Art und Weise entstehen verlässliche Karten und Pläne sowie dreidimensionale Geländemodelle, in die Siedlungsspuren eingezeichnet werden können.

Die an der Oberfläche sichtbaren Besiedlungsspuren – Brückenreste, Häuserfundamente, Stützmauern monumentaler öffentlicher Gebäude, prähistorische Höhlen, Architekturblöcke – werden archäologisch dokumentiert, indem sie in die Karte eingemessen, maßstabgetreu gezeichnet und fotografiert werden. Die archäologischen Zeichnungen werden sodann digitalisiert und im Computer zu dreidimensionalen Modellen aufbereitet.

Die systematisch zu erfassenden Kleinfunde am Boden aus unterschiedlichen Epochen – sie stammen aus hellenistischer, römischer und byzantinischer Zeit, aber auch aus der Prähistorie – ergänzen das Bild. Die für diese Region Anatoliens noch relativ unerforschte Keramik soll in den nächsten Jahren systematisch erfasst werden.

Im Jahre 2003 wurden künftige Grabungen vorbereitet. Um unterirdisch verborgene Strukturen zu erfassen, wurde der Boden mit so genannten Cäsium-Magnetometern ähnlich einer Röntgenaufnahme sondiert. Die bisherigen Ergebnisse bestätigen, dass in den Siedlungskammern einst Straßennetze, Gebäude und Nekropolen lagen.

Ebenfalls im Jahr 2003 begannen geomorphologische Untersuchungen, die es erlauben, von Erosionsspuren in der Landschaft auf (prä)historischen Ackerbau zu schließen. Das neue Verfahren der "optisch stimulierten Lumineszenz" erlaubt es, Sedimente, die durch prä- beziehungsweise historischen Landbau entstanden sind, zu datieren. Phytolithen und Pollen in den Sedimenten werden analysiert, um Vegetation und Anbauarten der vergangenen Zeiten zu rekonstruieren. Von dem Projekt sind darüber hinaus entscheidende Beiträge zur Religions- und Kulturgeschichte Anatoliens zu erwarten. Wichtig im Projekt ist die Integration geistes- und naturwissenschaftlicher Disziplinen.

Ein zukünftiges Ziel der Wissenschaftler, insbesondere des Heidelberger Archäologen Prof. Reinhard Stupperich, ist die Ausgrabung der unterirdischen antiken Gebäude und Straßenstrukturen – auf dass wieder sichtbar werde, was lange verloren geglaubt war.

Autoren:
Dr. Vera Hirschmann und Prof. Dr. Peter Lampe,
Wissenschaftlich-Theologisches Seminar, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 33 19,
e-mail:
peter.lampe@urz.uni-heidelberg.de und vera.hirschmann@urz.uni-heidelberg.de

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