Neuanfang im Ursprungsland
Die Wiederentdeckung des Buddhismus in Indien
von Michael BergunderDie Renaissance des indischen Buddhismus ist ein Fallbeispiel für die globale Dynamik kultureller Austauschprozesse.
Gibt es noch Buddhisten in Indien? Vor 100 oder 150 Jahren hätte ein Inder nicht einmal die Frage verstanden. Er hätte wahrscheinlich überhaupt nicht gewusst, was Buddhismus ist, und wäre wohl auch nie in seinem Leben auf einen Buddhisten getroffen. Um das Jahr 1890 lebten auf dem Gebiet des heutigen Indiens gerade einmal 50.000 Buddhisten, vorwiegend in den unzugänglichen Bergregionen des Himalaja. Der Buddhismus, einst in Indien entstanden, hatte sich auf dem Subkontinent nicht bis in die Neuzeit behaupten können.
Heute sind immerhin 0,8 Prozent der indischen Bevölkerung Buddhisten. Abgesehen von den in Indien lebenden tibetischen Flüchtlingen, handelt es sich dabei größtenteils um Inder, die sich im letzten Jahrhundert vom Hinduismus zum Buddhismus bekehrt haben.
Diese Entwicklung begann im Jahr 1898 in der südindischen Stadt Madras (heute Chennai) mit dem Besuch einer Delegation von Indern unter Führung von Iyothee Thass (1845–1914) beim Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft, dem US-Amerikaner Henry Steel Olcott (1832-1907). Die Inder teilten Henry Steel Olcott ihre Absicht mit, zum buddhistischen Glauben überzutreten. Wer war dieser Iyothee Thass? Und wer war Henry Steel Olcott? Wieso wollten Iyothee Thass und seine Begleiter zum Buddhismus übertreten? Und warum wandten sie sich mit diesem Anliegen ausgerechnet an einen ausländischen Amerikaner? Die Antworten auf diese Fragen können exemplarisch zeigen, wie im kolonialen Indien neue, global vermittelte Identitäten entstanden, die gesellschaftliche und kulturelle Diskurse nachhaltig veränderten.
Aus heutiger Sicht war Henry Steel Olcott ein Esoteriker. Zusammen mit der Russin Helena Blavatsky (1831-1891) gründete er 1875 in New York die „Theosophische Gesellschaft“, deren erste Mitglieder zumeist aus spiritistischen Zirkeln stammten. Das Ziel der Theosophischen Gesellschaft war, „unerklärte Naturgesetze“ und die geheimen, „im Menschen schlummernden Kräfte“ zu erforschen. Eine universelle und überreligiöse Bruderschaft der Menschheit sollte das vergleichende Studium der Religionen der Welt fördern, um die dahinter stehende theosophische „uralte Weisheit“ zu erkennen.
Das theosophische Interesse an anderen Religionen war mitverursacht von der westlichen Begeisterung für asiatische Religionen: Im 19. Jahrhundert waren klassische Texte des Buddhismus und Hinduismus von Indologen in europäische Sprachen übersetzt worden. Vom Leben Buddhas und seinen Lehren waren einige westliche Leser derart begeistert, dass sie sich als Buddhisten bekannten. Dies geschah zunächst ohne jeden persönlichen Kontakt zu einem lebenden Buddhisten.
Auch Helena Blavatsky und Henry Olcott waren von der westlichen Begeisterung für asiatische Religionen angesteckt. Da sie vermuteten, dass die uralte Weisheit in den asiatischen Religionen noch am besten erhalten sei, integrierten sie ausdrücklich buddhistische und hinduistische Vorstellungen in das Lehrgebäude der Theosophie und verlegten das Hauptquartier der Theosophische Gesellschaft im Jahr 1879 nach Indien, um so einen besseren Zugang zu den vermeintlichen asiatischen Weisheitsquellen zu erlangen. Blavatsky und Olcott waren wahrscheinlich die ersten Westler, die den direkten Kontakt zu real existierenden Buddhisten suchten – in Indien aber konnten sie keine Buddhisten finden.
Eine Aufsehen erregende Reise führte die beiden deshalb 1880 auf die buddhistisch geprägte Insel Ceylon (heute Sri Lanka), die unter britischer Kolonialherrschaft stand. Dort traten Blavatsky und Olcott in einer öffentlichen Zeremonie zum Buddhismus über, um gleich darauf als frischgebackene Buddhisten nach Indien zurückzukehren. Dass sie keine Inder, sondern Weiße waren, machte die Sache noch spektakulärer. Sie dürften damals die einzigen, in Indien lebenden buddhistischen Konvertiten gewesen sein. Im Jahre 1898 war Blavatsky bereits gestorben, und die Delegation um Iyothee Thass konnte sich in Indien praktisch an niemanden anderen als den aus Amerika stammenden buddhistischen Konvertiten Henry Olcott wenden.
Wie aber kamen Iyothee Thass und seine Begleiter überhaupt auf die Idee, sich zum Buddhismus zu bekehren? Iyothee Thass begründete seine Konversionsabsicht damit, dass die Kaste der Paraiyar, zu der er und die Mitglieder seiner Delegation gehörten, ursprünglich Buddhisten gewesen seien und die angestammte Bevölkerung des Landes gebildet hätten. Durch das Eindringen arisch-brahmanischer Eroberer seien sie ihrer Kultur, ihrer Religion und ihres Reichtums beraubt worden und verelendet. Die erfolgreiche Emanzipation von der brahmanisch-hinduistischen Unterdrückung könne des halb nur durch das Rückbesinnen auf die vermeintliche Religion der Ahnen erfolgen.
Über das Leben von Iyothee Thass wissen wir nur wenig. Er war Heilpraktiker, seine Muttersprache war Tamil, und er besaß eine gute Kenntnis der klassischen tamilischen Literatur, beherrschte aber zugleich die englische Sprache. Anscheinend gehörte er zu einer Paraiyar-Oberschicht, der in den Anfangsjahren der britischen Kolonialherrschaft ein gesellschaftlicher Aufstieg gelungen war, sei es als Soldaten, als Angestellte in medizinischen Diensten, als Mitarbeiter in christlichen Missionsgesellschaften, als Hausdiener bei Europäern oder auch als Minenarbeiter.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann der britische Kolonialismus, verstärkt Brahmanen und ihnen nahe stehende Kasten für die koloniale Administration und Rechtsprechung zu rekrutieren, die dadurch zur neuen einheimischen politischen Führungsschicht wurden. Dies war nicht im Interesse der kleinen Paraiyar-Mittelklasse, die sich in ihrem gesellschaftlichen Status bedroht sah. Die zunehmende Brahmanisierung der kolonialen Gesellschaft erschwerte es anderen Bevölkerungsgruppen, sozial aufzusteigen. Aus Sicht der Brahmanen waren die Paraiyar kastenlos und damit „Unberührbare“, was sie für niedere Arbeiten prädestinierte – nicht aber für gehobene Posten im Staatsdienst. Das im Deutschen gebräuchliche Wort „Paria“, das laut Duden jemanden „von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßenen“ bezeichnet, ist übrigens eine sprachliche Entlehnung von Paraiyar.
Der Masse der Paraiyar ging es im 19. Jahrhundert wirtschaftlich tatsächlich sehr schlecht, sodass diese Bevölkerungsgruppe verstärkt ins Blickfeld von Kolonialbehörden und christlichen Missionsgesellschaften geriet. Studien und Abhandlungen zur Kultur, Geschichte und zu den Ursachen der schlechten Lebensbedingungen der Paraiyar wurden erstellt. Sie kamen unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Paraiyar „enterbte Kinder des Bodens“ seien.
Die Paraiyar-Intellektuellen nahmen diesen, von westlichen Kolonialbeamten und Missionaren entwickelten Gedanken, die ältesten Bewohner des Südens zu sein, rasch auf und verbanden ihn mit einer anderen orientalistischen Idee, dem „Dravidentum“. Die Vorstellung vom „Dravidentum“ geht zurück auf den englischen Missionar Robert Caldwell, der 1856 eine „Vergleichende Grammatik des Dravidischen“ veröffentlichte, die zum ersten Mal die südindischen Sprachen als eigene dravidische Sprachfamilie zusammenfasste, die sich von den indo-arischen Sprachen Nordindiens grundsätzlich unterscheide. Sprache und Volk galten im 19. Jahrhundert oft als deckungsgleich. So wurde Caldwells Grammatik zugleich als Begründung für das Vorhandensein einer besonderen südindischen kulturellen und ethnischen Tradition verstanden. Diese Versatzstücke westlicher kolonialer Repräsentationen formten die Paraiyar-Intellektuellen in einen eigenen Identitätsanspruch um. So gründete der indische Christ John Ratnam, der ebenfalls aus einer Paraiyar-Familie stammte, im Jahre 1886 eine Gesellschaft für Paraiyar-Intellektuelle mit dem programmatischen Namen „Vereinigung der Draviden“. Es ist belegt, dass Iyothee Thass in engem Kontakt zu John Ratnam stand. Iyothee Thass gründete im Jahre 1891 eine eigene Paraiyar-Vereinigung, die er „Dravidische Versammlung“ nannte. Sie forderte unter anderem den Zugang von Paraiyar zum Bildungssystem, zum öffentlichen Dienst, zu öffentlichen Brunnen und Teichen. Iyothee Thass ging noch einen Schritt weiter und verknüpfte die Idee von den Paraiyar als den dravidischen Urbewohnern Südindiens mit der Annahme, dass die Paraiyar ursprünglich Buddhisten gewesen seien. Wie aber kam er auf diese Verknüpfung?
Zunächst gilt es festzuhalten, dass Iyothee Thass dem Hinduismus sehr kritisch gegenüber stand. Im Jahre 1892 hatte er auf einer Versammlung konservativer Hindus den freien Zugang der Paraiyar zu den großen brahmanischen Hindu-Tempeln gefordert und dabei den geballten Widerstand der Brahmanen erlebt. Erfahrungen wie diese ließen Iyothee Thass wohl annehmen, dass eine Emanzipation der Paraiyar innerhalb des Hinduismus nicht möglich sei. In einem Brief aus dem Jahre 1893 betrachtete er die Bekehrung zum Christentum oder zum Islam ausdrücklich nicht als Alternativen: Im indischen Christentum bestünden die Kastenunterschiede weiter; ein Übertritt zum Islam erschien ihm als Emanzipationsstrategie aufgrund der großen sozialen Rückständigkeit der damaligen Muslime unattraktiv.
In den 1890er Jahren erregte „Manimekalai“, ein klassisches buddhistisches Epos, das in Tamil verfasst war, Aufmerksamkeit. Es brachte die vergessenen buddhistischen Traditionen der Tamilen wieder ins Bewusstsein der tamilischen Intellektuellen. Hinzu kam, dass der „Tirukkural“, eine alte und bedeutende ethische Spruchsammlung, zu neuen Ehren kam und zum tamilischen Nationalgedicht stilisiert wurde. In der westlich-indologischen Forschung des 19. Jahrhunderts war die Annahme verbreitet, dass der Tirukkural auf einen buddhistischen Autor zurückgeht. Dies dürfte auch Iyothee Thass bekannt gewesen sein.
Der Buddhismus wurde als Teil der tamilischen Kultur wiederentdeckt, und als deren besondere Erben verstanden sich die Paraiyar. Die Hinwendung von Iyothee Thass zum Buddhismus wird in dieser konkreten kulturellen Konstellation durchaus plausibel. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern wollte Iyothee Thass das vermeintliche buddhistische Erbe antreten – und zwar möglichst öffentlichkeitswirksam und nachhaltig. Dabei sollte ihnen Olcott helfen. In dessen Tagebuchaufzeichnungen ist zu lesen: „Natürlich interessierte mich das alles ... und kurz danach nahm ich Dr. Iyothee Thass und Herrn P. Krishnaswamy ... mit nach Colombo, um ihren Fall dem gelehrten Hohen Priester, H. Sumangala, vorzulegen. Er empfing sie mit vollendeter Herzlichkeit, präsentierte sie einer überfüllten öffentlichen Versammlung in seiner Predigthalle, und er gab ihnen, mich als Pate nehmend, die fünf Vorschriften und erkannte sie als Buddhisten an. So weit so gut; wir kehrten nach Madras zurück und begannen uns der Frage nach der Bildung einer Buddhistischen Gesellschaft zu widmen.“
Durch Olcotts Vermittlung waren also Iyothee Thass und einer seiner Mitstreiter in Ceylon zum Buddhismus übergetreten. Dies war überdies im Beisein von Hikkaduve Sumangala (1826-1911) geschehen, dem führenden buddhistischen Amtsträger auf der Insel. Der Anspruch der Paraiyar, ursprünglich Buddhisten gewesen zu sein, war damit an den zeitgenössischen Buddhismus angebunden worden. Die von Iyothee Thass daraufhin gegründete „Sakya Buddha-Gesellschaft“ konnte für sich beanspruchen, ein legitimer Zweig des ceylonesischen Buddhismus zu sein. Aus Ceylon kamen auch die Mönche, die die religiöse Praxis der neuen tamilischen Buddhisten absicherten.
Dennoch unterschied sich der Buddhismus, wie ihn Iyothee Thass vertrat, grundsätzlich von dem auf Ceylon. Denn Iyothee Thass begründete eine besondere buddhistische Pariayar-Identität. In zahlreichen Traktaten und in einer 1907 gegründeten eigenen Zeitschrift wurde eine umfassende tamilisch-buddhistische Theologie und Geschichtssicht entwickelt.
Kernbestandteil der Argumentation war eine radikale Inversion der arischen Einwanderungsthese. Diese war von westlichen Orientalisten für die Prähistorie Südasiens rekonstruiert worden: Indoeuropäische Stämme, die sich als „Arya“ (Arier) bezeichneten, waren danach um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. von Norden her nach Indien eingewandert. Sie unterwarfen sukzessive die einheimische Bevölkerung und wurden zur neuen Herrschaftsschicht. Im kolonialen und postkolonialen Indien erfuhr die „arische Einwanderungsthese“ eine erstaunliche und vielfältige Rezeption. Iyothee Thass ist ein typisches Beispiel: Ihm zufolge drangen „arische Barbaren“ aus dem Norden in den Süden des Landes vor, um die dravidischen Paraiyar zu erniedrigen und ihre buddhistische Religion zu zerstören. Die Arier hätten den Draviden ihre Gesetze, ihre Religion und ihre Kultur aufgezwungen, die buddhistischen Lehren zu hinduistischen verdreht und ein Kastensystem errichtet. Aus dieser geschichtlichen Konstellation erklärte sich für Iyothee Thass eine unversöhnliche Feindschaft zwischen Brahmanen und Paraiyar. Die Emanzipation der Paraiyar konnte für ihn deshalb nur durch eine konsequente Rekonstruktion der tamilisch-buddhistischen Tradition erfolgen.
Diese Rekonstruktion der tamilischen Geschichte und Kultur geschah umfassend und ausführlich. Dabei setzte sich Iyothee Thass bewusst von den damaligen Paradigmen und Forschungsergebnissen der westlichen Indologie ab. In ihr sah er einen Bündnispartner der brahmanischen Sicht auf die Kultur und Geschichte Indiens, in dem Paraiyar nur als Bürger zweiter Klasse einen Platz hatten. Damit nahm Iyothee Thass in gewisser Weise eine Diskussion voraus, die heute in Indien sehr heftig geführt wird: Inwieweit ist der westlichen Forschung ein brahmanisches Indienbild zu eigen, das andere kulturelle Traditionen und Bevölkerungsgruppen diskriminiert und herabsetzt? Im Kontrast zur brahmanischen Kastengesellschaft rekonstruierte Iyothee Thass eine glorreiche buddhistische Vergangenheit und versuchte, ein umfangreiches „kollektives Gedächtnis“ und damit eine kollektive Identität für die bis dahin „geschichtslosen“ Paraiyar zu erschaffen.
Der tamilische Paraiyar-Buddhismus hatte nur eine kurze Blütezeit. Die eigentliche Renaissance des Buddhismus in Indien ist B. R. Ambedkar (1891-1956) zuzuschreiben. Er entstammte ebenfalls einer Bevölkerungsgruppe, die nach brahmanischer Sicht als „Kastenlose“ galt. Unter seiner Führung fand im Jahr 1956 in Indien eine Massenbekehrung von Hindus zum Buddhismus statt. Auf dieses Ereignis gehen die meisten heutigen buddhistischen Konvertiten in Indien zurück. Den Anfang aber machte Iyothee Thass.
Die Geschichte des Neuanfangs des Buddhismus in Indien illustriert eindrücklich, wie dynamisch und positionell religiöse Identitäten entstehen. Innerhalb eines kolonialen Diskurses wurden westliche Repräsentationen indischer Kultur und Geschichte zu einem zentralen Fokus der Auseinandersetzung aller Beteiligten. In diesem Kontext eruierte oder auch erfundene Traditionen dienten dabei als Ressourcen, die beansprucht werden konnten, um aktuelle Identitätspositionierungen zu markieren. Derartige Fallbeispiele stellen nachhaltig die Behauptung kultureller Essenzialismen vom „Kampf der Kulturen“ in Frage: Sie unterschätzen oder leugnen die globale Dynamik moderner kultureller Austauschprozesse.
Heute sind immerhin 0,8 Prozent der indischen Bevölkerung Buddhisten. Abgesehen von den in Indien lebenden tibetischen Flüchtlingen, handelt es sich dabei größtenteils um Inder, die sich im letzten Jahrhundert vom Hinduismus zum Buddhismus bekehrt haben.
Diese Entwicklung begann im Jahr 1898 in der südindischen Stadt Madras (heute Chennai) mit dem Besuch einer Delegation von Indern unter Führung von Iyothee Thass (1845–1914) beim Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft, dem US-Amerikaner Henry Steel Olcott (1832-1907). Die Inder teilten Henry Steel Olcott ihre Absicht mit, zum buddhistischen Glauben überzutreten. Wer war dieser Iyothee Thass? Und wer war Henry Steel Olcott? Wieso wollten Iyothee Thass und seine Begleiter zum Buddhismus übertreten? Und warum wandten sie sich mit diesem Anliegen ausgerechnet an einen ausländischen Amerikaner? Die Antworten auf diese Fragen können exemplarisch zeigen, wie im kolonialen Indien neue, global vermittelte Identitäten entstanden, die gesellschaftliche und kulturelle Diskurse nachhaltig veränderten.
Aus heutiger Sicht war Henry Steel Olcott ein Esoteriker. Zusammen mit der Russin Helena Blavatsky (1831-1891) gründete er 1875 in New York die „Theosophische Gesellschaft“, deren erste Mitglieder zumeist aus spiritistischen Zirkeln stammten. Das Ziel der Theosophischen Gesellschaft war, „unerklärte Naturgesetze“ und die geheimen, „im Menschen schlummernden Kräfte“ zu erforschen. Eine universelle und überreligiöse Bruderschaft der Menschheit sollte das vergleichende Studium der Religionen der Welt fördern, um die dahinter stehende theosophische „uralte Weisheit“ zu erkennen.
Das theosophische Interesse an anderen Religionen war mitverursacht von der westlichen Begeisterung für asiatische Religionen: Im 19. Jahrhundert waren klassische Texte des Buddhismus und Hinduismus von Indologen in europäische Sprachen übersetzt worden. Vom Leben Buddhas und seinen Lehren waren einige westliche Leser derart begeistert, dass sie sich als Buddhisten bekannten. Dies geschah zunächst ohne jeden persönlichen Kontakt zu einem lebenden Buddhisten.
Auch Helena Blavatsky und Henry Olcott waren von der westlichen Begeisterung für asiatische Religionen angesteckt. Da sie vermuteten, dass die uralte Weisheit in den asiatischen Religionen noch am besten erhalten sei, integrierten sie ausdrücklich buddhistische und hinduistische Vorstellungen in das Lehrgebäude der Theosophie und verlegten das Hauptquartier der Theosophische Gesellschaft im Jahr 1879 nach Indien, um so einen besseren Zugang zu den vermeintlichen asiatischen Weisheitsquellen zu erlangen. Blavatsky und Olcott waren wahrscheinlich die ersten Westler, die den direkten Kontakt zu real existierenden Buddhisten suchten – in Indien aber konnten sie keine Buddhisten finden.
Eine Aufsehen erregende Reise führte die beiden deshalb 1880 auf die buddhistisch geprägte Insel Ceylon (heute Sri Lanka), die unter britischer Kolonialherrschaft stand. Dort traten Blavatsky und Olcott in einer öffentlichen Zeremonie zum Buddhismus über, um gleich darauf als frischgebackene Buddhisten nach Indien zurückzukehren. Dass sie keine Inder, sondern Weiße waren, machte die Sache noch spektakulärer. Sie dürften damals die einzigen, in Indien lebenden buddhistischen Konvertiten gewesen sein. Im Jahre 1898 war Blavatsky bereits gestorben, und die Delegation um Iyothee Thass konnte sich in Indien praktisch an niemanden anderen als den aus Amerika stammenden buddhistischen Konvertiten Henry Olcott wenden.
Wie aber kamen Iyothee Thass und seine Begleiter überhaupt auf die Idee, sich zum Buddhismus zu bekehren? Iyothee Thass begründete seine Konversionsabsicht damit, dass die Kaste der Paraiyar, zu der er und die Mitglieder seiner Delegation gehörten, ursprünglich Buddhisten gewesen seien und die angestammte Bevölkerung des Landes gebildet hätten. Durch das Eindringen arisch-brahmanischer Eroberer seien sie ihrer Kultur, ihrer Religion und ihres Reichtums beraubt worden und verelendet. Die erfolgreiche Emanzipation von der brahmanisch-hinduistischen Unterdrückung könne des halb nur durch das Rückbesinnen auf die vermeintliche Religion der Ahnen erfolgen.
Über das Leben von Iyothee Thass wissen wir nur wenig. Er war Heilpraktiker, seine Muttersprache war Tamil, und er besaß eine gute Kenntnis der klassischen tamilischen Literatur, beherrschte aber zugleich die englische Sprache. Anscheinend gehörte er zu einer Paraiyar-Oberschicht, der in den Anfangsjahren der britischen Kolonialherrschaft ein gesellschaftlicher Aufstieg gelungen war, sei es als Soldaten, als Angestellte in medizinischen Diensten, als Mitarbeiter in christlichen Missionsgesellschaften, als Hausdiener bei Europäern oder auch als Minenarbeiter.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann der britische Kolonialismus, verstärkt Brahmanen und ihnen nahe stehende Kasten für die koloniale Administration und Rechtsprechung zu rekrutieren, die dadurch zur neuen einheimischen politischen Führungsschicht wurden. Dies war nicht im Interesse der kleinen Paraiyar-Mittelklasse, die sich in ihrem gesellschaftlichen Status bedroht sah. Die zunehmende Brahmanisierung der kolonialen Gesellschaft erschwerte es anderen Bevölkerungsgruppen, sozial aufzusteigen. Aus Sicht der Brahmanen waren die Paraiyar kastenlos und damit „Unberührbare“, was sie für niedere Arbeiten prädestinierte – nicht aber für gehobene Posten im Staatsdienst. Das im Deutschen gebräuchliche Wort „Paria“, das laut Duden jemanden „von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßenen“ bezeichnet, ist übrigens eine sprachliche Entlehnung von Paraiyar.
Der Masse der Paraiyar ging es im 19. Jahrhundert wirtschaftlich tatsächlich sehr schlecht, sodass diese Bevölkerungsgruppe verstärkt ins Blickfeld von Kolonialbehörden und christlichen Missionsgesellschaften geriet. Studien und Abhandlungen zur Kultur, Geschichte und zu den Ursachen der schlechten Lebensbedingungen der Paraiyar wurden erstellt. Sie kamen unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Paraiyar „enterbte Kinder des Bodens“ seien.
Die Paraiyar-Intellektuellen nahmen diesen, von westlichen Kolonialbeamten und Missionaren entwickelten Gedanken, die ältesten Bewohner des Südens zu sein, rasch auf und verbanden ihn mit einer anderen orientalistischen Idee, dem „Dravidentum“. Die Vorstellung vom „Dravidentum“ geht zurück auf den englischen Missionar Robert Caldwell, der 1856 eine „Vergleichende Grammatik des Dravidischen“ veröffentlichte, die zum ersten Mal die südindischen Sprachen als eigene dravidische Sprachfamilie zusammenfasste, die sich von den indo-arischen Sprachen Nordindiens grundsätzlich unterscheide. Sprache und Volk galten im 19. Jahrhundert oft als deckungsgleich. So wurde Caldwells Grammatik zugleich als Begründung für das Vorhandensein einer besonderen südindischen kulturellen und ethnischen Tradition verstanden. Diese Versatzstücke westlicher kolonialer Repräsentationen formten die Paraiyar-Intellektuellen in einen eigenen Identitätsanspruch um. So gründete der indische Christ John Ratnam, der ebenfalls aus einer Paraiyar-Familie stammte, im Jahre 1886 eine Gesellschaft für Paraiyar-Intellektuelle mit dem programmatischen Namen „Vereinigung der Draviden“. Es ist belegt, dass Iyothee Thass in engem Kontakt zu John Ratnam stand. Iyothee Thass gründete im Jahre 1891 eine eigene Paraiyar-Vereinigung, die er „Dravidische Versammlung“ nannte. Sie forderte unter anderem den Zugang von Paraiyar zum Bildungssystem, zum öffentlichen Dienst, zu öffentlichen Brunnen und Teichen. Iyothee Thass ging noch einen Schritt weiter und verknüpfte die Idee von den Paraiyar als den dravidischen Urbewohnern Südindiens mit der Annahme, dass die Paraiyar ursprünglich Buddhisten gewesen seien. Wie aber kam er auf diese Verknüpfung?
Zunächst gilt es festzuhalten, dass Iyothee Thass dem Hinduismus sehr kritisch gegenüber stand. Im Jahre 1892 hatte er auf einer Versammlung konservativer Hindus den freien Zugang der Paraiyar zu den großen brahmanischen Hindu-Tempeln gefordert und dabei den geballten Widerstand der Brahmanen erlebt. Erfahrungen wie diese ließen Iyothee Thass wohl annehmen, dass eine Emanzipation der Paraiyar innerhalb des Hinduismus nicht möglich sei. In einem Brief aus dem Jahre 1893 betrachtete er die Bekehrung zum Christentum oder zum Islam ausdrücklich nicht als Alternativen: Im indischen Christentum bestünden die Kastenunterschiede weiter; ein Übertritt zum Islam erschien ihm als Emanzipationsstrategie aufgrund der großen sozialen Rückständigkeit der damaligen Muslime unattraktiv.
In den 1890er Jahren erregte „Manimekalai“, ein klassisches buddhistisches Epos, das in Tamil verfasst war, Aufmerksamkeit. Es brachte die vergessenen buddhistischen Traditionen der Tamilen wieder ins Bewusstsein der tamilischen Intellektuellen. Hinzu kam, dass der „Tirukkural“, eine alte und bedeutende ethische Spruchsammlung, zu neuen Ehren kam und zum tamilischen Nationalgedicht stilisiert wurde. In der westlich-indologischen Forschung des 19. Jahrhunderts war die Annahme verbreitet, dass der Tirukkural auf einen buddhistischen Autor zurückgeht. Dies dürfte auch Iyothee Thass bekannt gewesen sein.
Der Buddhismus wurde als Teil der tamilischen Kultur wiederentdeckt, und als deren besondere Erben verstanden sich die Paraiyar. Die Hinwendung von Iyothee Thass zum Buddhismus wird in dieser konkreten kulturellen Konstellation durchaus plausibel. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern wollte Iyothee Thass das vermeintliche buddhistische Erbe antreten – und zwar möglichst öffentlichkeitswirksam und nachhaltig. Dabei sollte ihnen Olcott helfen. In dessen Tagebuchaufzeichnungen ist zu lesen: „Natürlich interessierte mich das alles ... und kurz danach nahm ich Dr. Iyothee Thass und Herrn P. Krishnaswamy ... mit nach Colombo, um ihren Fall dem gelehrten Hohen Priester, H. Sumangala, vorzulegen. Er empfing sie mit vollendeter Herzlichkeit, präsentierte sie einer überfüllten öffentlichen Versammlung in seiner Predigthalle, und er gab ihnen, mich als Pate nehmend, die fünf Vorschriften und erkannte sie als Buddhisten an. So weit so gut; wir kehrten nach Madras zurück und begannen uns der Frage nach der Bildung einer Buddhistischen Gesellschaft zu widmen.“
Durch Olcotts Vermittlung waren also Iyothee Thass und einer seiner Mitstreiter in Ceylon zum Buddhismus übergetreten. Dies war überdies im Beisein von Hikkaduve Sumangala (1826-1911) geschehen, dem führenden buddhistischen Amtsträger auf der Insel. Der Anspruch der Paraiyar, ursprünglich Buddhisten gewesen zu sein, war damit an den zeitgenössischen Buddhismus angebunden worden. Die von Iyothee Thass daraufhin gegründete „Sakya Buddha-Gesellschaft“ konnte für sich beanspruchen, ein legitimer Zweig des ceylonesischen Buddhismus zu sein. Aus Ceylon kamen auch die Mönche, die die religiöse Praxis der neuen tamilischen Buddhisten absicherten.
Dennoch unterschied sich der Buddhismus, wie ihn Iyothee Thass vertrat, grundsätzlich von dem auf Ceylon. Denn Iyothee Thass begründete eine besondere buddhistische Pariayar-Identität. In zahlreichen Traktaten und in einer 1907 gegründeten eigenen Zeitschrift wurde eine umfassende tamilisch-buddhistische Theologie und Geschichtssicht entwickelt.
Kernbestandteil der Argumentation war eine radikale Inversion der arischen Einwanderungsthese. Diese war von westlichen Orientalisten für die Prähistorie Südasiens rekonstruiert worden: Indoeuropäische Stämme, die sich als „Arya“ (Arier) bezeichneten, waren danach um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. von Norden her nach Indien eingewandert. Sie unterwarfen sukzessive die einheimische Bevölkerung und wurden zur neuen Herrschaftsschicht. Im kolonialen und postkolonialen Indien erfuhr die „arische Einwanderungsthese“ eine erstaunliche und vielfältige Rezeption. Iyothee Thass ist ein typisches Beispiel: Ihm zufolge drangen „arische Barbaren“ aus dem Norden in den Süden des Landes vor, um die dravidischen Paraiyar zu erniedrigen und ihre buddhistische Religion zu zerstören. Die Arier hätten den Draviden ihre Gesetze, ihre Religion und ihre Kultur aufgezwungen, die buddhistischen Lehren zu hinduistischen verdreht und ein Kastensystem errichtet. Aus dieser geschichtlichen Konstellation erklärte sich für Iyothee Thass eine unversöhnliche Feindschaft zwischen Brahmanen und Paraiyar. Die Emanzipation der Paraiyar konnte für ihn deshalb nur durch eine konsequente Rekonstruktion der tamilisch-buddhistischen Tradition erfolgen.
Diese Rekonstruktion der tamilischen Geschichte und Kultur geschah umfassend und ausführlich. Dabei setzte sich Iyothee Thass bewusst von den damaligen Paradigmen und Forschungsergebnissen der westlichen Indologie ab. In ihr sah er einen Bündnispartner der brahmanischen Sicht auf die Kultur und Geschichte Indiens, in dem Paraiyar nur als Bürger zweiter Klasse einen Platz hatten. Damit nahm Iyothee Thass in gewisser Weise eine Diskussion voraus, die heute in Indien sehr heftig geführt wird: Inwieweit ist der westlichen Forschung ein brahmanisches Indienbild zu eigen, das andere kulturelle Traditionen und Bevölkerungsgruppen diskriminiert und herabsetzt? Im Kontrast zur brahmanischen Kastengesellschaft rekonstruierte Iyothee Thass eine glorreiche buddhistische Vergangenheit und versuchte, ein umfangreiches „kollektives Gedächtnis“ und damit eine kollektive Identität für die bis dahin „geschichtslosen“ Paraiyar zu erschaffen.
Der tamilische Paraiyar-Buddhismus hatte nur eine kurze Blütezeit. Die eigentliche Renaissance des Buddhismus in Indien ist B. R. Ambedkar (1891-1956) zuzuschreiben. Er entstammte ebenfalls einer Bevölkerungsgruppe, die nach brahmanischer Sicht als „Kastenlose“ galt. Unter seiner Führung fand im Jahr 1956 in Indien eine Massenbekehrung von Hindus zum Buddhismus statt. Auf dieses Ereignis gehen die meisten heutigen buddhistischen Konvertiten in Indien zurück. Den Anfang aber machte Iyothee Thass.
Die Geschichte des Neuanfangs des Buddhismus in Indien illustriert eindrücklich, wie dynamisch und positionell religiöse Identitäten entstehen. Innerhalb eines kolonialen Diskurses wurden westliche Repräsentationen indischer Kultur und Geschichte zu einem zentralen Fokus der Auseinandersetzung aller Beteiligten. In diesem Kontext eruierte oder auch erfundene Traditionen dienten dabei als Ressourcen, die beansprucht werden konnten, um aktuelle Identitätspositionierungen zu markieren. Derartige Fallbeispiele stellen nachhaltig die Behauptung kultureller Essenzialismen vom „Kampf der Kulturen“ in Frage: Sie unterschätzen oder leugnen die globale Dynamik moderner kultureller Austauschprozesse.
Prof. Dr. Michael Bergunder ist Professor für Religionsgeschichte und Missionswissenschaft an der Theologischen Fakultät und kooptiertes Mitglied der Philosophischen Fakultät für das Fach Religionswissenschaft.
Weitere Informationen unter: http://theologie.uni-hd.de/rm
Kontakt: michael.bergunder@wts.uni-heidelberg.de
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