Milet in der Bronzezeit – ein pulsierendes Zentrum zwischen Orient und Okzident
Vor über 5000 Jahren begann die Geschichte Milets, der einstigen Metropole an der Westküste Kleinasiens. Dies zeigen neue eindrucksvolle Funde. Wolf-Dietrich Niemeier vom Archäologischen Institut schildert die aufregende Vergangenheit Milets und die mühselige Arbeit der Archäologen.
Milet hat in der abendländischen Geistesgeschichte einen klangvollen Namen. Im 6. Jahrhundert v. Chr. vollzogen hier die "vorsokratischen" Naturphilosophen Thales, Anaximander und Anaximenes die Abkehr von der rein mythologischen Welterklärung und schufen die Grundlagen für die abendländische Philosophie und Naturwissenschaft. Das archaische Milet des siebten bis sechsten Jahrhunderts vor Christus war die bedeutendste Metropole Ioniens und gründete 90 Kolonien rund um das Schwarze Meer. Milet, im Süden der Westküste Kleinasiens auf einer Halbinsel am Südrand des (heute verlandeten) Latmischen Golfes gelegen, war durch den in die Meerenge von Samos vorstoßenden Gebirgszug der Mykale gegen die im Ägäischen Meer oft so heftigen Nordwinde geschützt. Seine Lage nahe der Mündung des Mäander-Flusses, dessen Tal eine der Hauptverkehrsrouten zwischen der Ägäis-Küste und dem Innern Anatoliens darstellte, prädestinierte es als Brücke im Handelsverkehr zwischen Okzident und Orient. Dass Milet diese Funktion schon lange vor der archaischen Epoche hatte, zeigt das Grabungsprojekt des Archäologischen Instituts der Universität Heidelberg. Es erfolgt seit 1994 im Rahmen der Miletgrabung des Deutschen Archäologischen Institutes und wurde vom Institute for Aegean Prehistory, New York, bisher mit über 800 000 Mark gefördert. Das Projekt hat in den beiden vergangenen Sommern eindrucksvolle Befunde und Funde ans Licht gebracht.
Der heutige Besucher Milets muss viel Vorstellungskraft haben, will er sich vor Ort in die Blütezeit der archaischen Epoche zurückversetzen. Dort, wo in der Antike das Meer gegen die milesische Halbinsel brandete, erstrecken sich jetzt Baumwollfelder in einer sumpfigen, mückenreichen Ebene, über der im Sommer eine schwüle Hitze flimmert. Die einstige Hafenstadt liegt heute fast zehn Kilometer vom Meer entfernt.
Die Besucher Milets besichtigen gewöhnlich nur das Theater aus dem frühen 2. nachchristlichen Jahrhundert, vielleicht auch einige andere Bauten hellenistischer und römischer Zeit. Sie ahnen kaum, dass die Siedlungsgeschichte bis in das 4. Jahrtausend zurückreicht. Nur die wenigsten Besucher suchen während der Sommermonate abseits der Touristenwege die vom Grundwasser umspülte Ruine des Tempels der Athena auf. Gegenüber liegt ein bis zu drei Meter tiefes, von einer großen Pumpanlage entwässertes Grabungsareal. Dort arbeiten Archäologen und Studierende der Archäologie aus Heidelberg und aller Welt.
Mit der Frage nach den Ursprüngen Milets hat man sich bereits in der Antike beschäftigt.
Der um Christi Geburt wirkende Geograph Strabon zitiert Ephoros von Kyme, einen Historiker des 4. Jahrhunderts v. Chr.: "Ephoros sagt: Milet wurde zuerst von Kretern über dem Meer gegründet ... und von Sarpedon besiedelt, der Einwohner des kretischen Miletos herbrachte und die Stadt nach jenem Miletos benannte. Den Platz hatten zuvor die Leleger besessen."
Sarpedon war ein Bruder des mythischen Königs Minos von Knossos. Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, nannte nach König Minos die bronzezeitliche Hochkultur Kretas des 3. bis 2. Jahrtausends v. Chr. "minoisch". Die antike griechische Überlieferung wusste, dass Minos der erste war, der das ägäische Meer beherrschte. Diese Seeherrschaft des Minos und die Überlieferung des Ephoros sind als Erfindungen späterer Zeit angesehen worden. Bei den vor 100 Jahren, am 3. Oktober 1899, von Theodor Wiegand begonnenen Ausgrabungen in Milet, waren aber bereits 1907 und dann bei den Fortsetzungen 1939 und in den fünfziger Jahren im Gebiet des Athenatempels Überreste einer Siedlung des 2. vorchristlichen Jahrtausends v. Chr. zu Tage gekommen.
Drei Bauperioden konnten die Ausgräber feststellen. In der ersten hatte sich Keramik des 17. bis 15. Jahrhunderts v.Chr. der minoischen Kultur Kretas gefunden. Sie wurde in der 2. (15. bis 14. Jahrhundert v. Chr.) und 3. Periode (13. bis 12. Jahrhundert v. Chr.) von Keramik der so genannten mykenischen Kultur des griechischen Festlandes abgelöst. Dass schon lange vor dem 17. Jahrhundert v. Chr. Menschen in Milet gesiedelt hatten, zeigte dann in den siebziger und achtziger Jahren der Fund von Siedlungsschutt des späten Chalkolithikums (Kupfersteinzeit, 4. Jahrtausend v. Chr.) bei zwei Grabungen östlich des Theaters.
Im Jahr 1994 begannen wir das neue Projekt, um die Frühgeschichte Milets zu erforschen. Unser Ziel war es, Antworten auf eine Reihe von Fragen zu finden:
- War Milet zwischen dem 4. Jahrtausend und dem 17. Jahrhundert v. Chr. bewohnt oder gab es eine Lücke in der Besiedlung?
- Wann und wie begann der minoische Einfluss in Milet?
- Welchen Charakter hatte er ( tatsächliche minoische Präsenz oder Handelsbeziehungen und Akkulturation einer einheimischen Bevölkerung)?
- Wann und wie wurde der minoische Einfluss durch den mykenischen ersetzt?
- Welchen Charakter hatte dieser mykenische Einfluss (tatsächliche mykenische Präsenz oder Handelsbeziehungen und Akkulturation)?
- Welche Rolle spielte Milet in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in den Konflikten zwischen der internationalen Großmacht des spätbronzezeitlichen Anatolien, dem Reich der Hethiter, und dessen Widersachern im westlichen Kleinasien?
Die Grabungsbedingungen in Milet sind äußerst schwierig. Sogar in der Trockenzeit liegen die zu ergrabenden Schichten der Frühzeit Milets bis zu zwei Meter unter dem Grundwasserspiegel. Wir müssen daher mit einem aufwendigen Pumpsystem das Grundwasser absenken. Selbst bei optimalem Einsatz werden die Arbeitsbedingungen beim Tiefergraben immer schwieriger und stellen höchste Anforderungen an Archäologen und Grabungsarbeiter.
Bei unseren Grabungen hat sich gezeigt, dass die so genannte erste Bauperiode keineswegs die erste, sondern die vierte Besiedlungsphase im Gebiet des Athenatempels ist. Bereits im Chalkolithikum des 4. Jahrtausends v. Chr. (Milet I) haben sich hier Menschen niedergelassen. Von ihrer Siedlung sind nur in den Fels eingetiefte Pfostenlöcher und Vorratsgruben erhalten.
Die Funde zeigen aber an, dass Milet bereits damals ein Verbindungspunkt zwischen Anatolien und der Ägäis war. Schwarzpolierte, mit weißen geometrischen Mustern bemalte Keramik hat Parallelen weiter im Inland, auf den Kykladen und auf dem griechischen Festland. Hier hat also ein Ideenaustausch stattgefunden, wahrscheinlich aus Kleinasien über Milet in den ägäischen Raum. Dieser stand wohl in Verbindung mit dem Handel von Obsidian, einem zur Herstellung von Werkzeugen verwendetem vulkanischem Glas. Es stammt von der 300 Kilometer entfernten Kykladeninsel Melos. Milet spielte beim Handel allem Anschein nach eine Vermittlerrolle. Melischer Obsidian wurde sowohl in Milet als auch in Aphrodisias im oberen Mäandertal gefunden und wahrscheinlich noch weiter im Inneren Anatoliens gehandelt.
Milet II – die Siedlung der Frühen Bronzezeit des 3. Jahrtausends v.Chr. – hatte Verbindungen zu den Kykladen-Inseln. Das zeigen der Kopf eines marmornen Kykladenidols und Importe kykladischer Keramik. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Milet bereits damals ein wichtiger Umschlagplatz für Metalle – vor allem für Kupfer und Gold – aus dem metallreichen Kleinasien in die metallarme Ägäis. Gussformen aus Stein zeigen, dass zu jener Zeit in Milet Metallwerkzeuge hergestellt wurden.
Milet II hatte noch einen lokalen, südwestanatolischen Charakter. In Milet III ist am Anfang der Mittleren Bronzezeit (ab etwa 1900 v. Chr.) das Eindringen eines starken minoischen, also kretischen Elementes festzustellen. Die feine, zum Teil sehr dünnwandige "Kamares-Keramik", die mit weißen, roten und orangen Ornamenten auf dunklem Grund verziert ist, kennen wir aus den "Alten Palästen" Kretas. Sie kann als Handelsware gedeutet werden.
Kamares-Keramik war seinerzeit im östlichen Mittelmeer fast so beliebt wie chinesisches Porzellan im Europa des 18. Jahrhunderts. Sie wurde in verschiedene Regionen des ägäischen Raumes, nach Zypern, in die Levante und nach Ägypten exportiert. Die an Ort und Stelle aus dem lokalen, stark glimmerhaltigen Ton hergestellte Haushaltskeramik minoischer Typen – zum Beispiel konische Näpfe und dreibeinige Kochtöpfe – spricht dagegen für die tatsächliche Präsenz von Minoern. Denn Immigranten bringen gewöhnlich ihre Küchengeräte sowie ihre Ess- und Trinksitten aus der Heimat mit. Von besonderem Interesse sind die Funde zweier minoischer Siegel – eines mit der Darstellung einer kretischen Wildziege (Agrimi) – und einer mit Siegelabdruck versehenen Tonplombe. Keramik lokalen, südwestanatolischen Charakters aus denselben Schichten wie die minoischen Funde scheint darauf hinzuweisen, dass ein nicht geringer Anteil der Bevölkerung von Milet III immer noch aus Einheimischen bestand. Die Administration und damit die Führungsschicht war aber allem Anschein nach minoisch.
Die Ergebnisse der neuen Grabungen bestätigen also im Wesentlichen die Überlieferung des Ephoros von Kyme: Bis an das Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends hatte die Siedlung am Athena-Tempel in Milet einen einheimischen, südwestanatolischen Charakter. (Als Leleger oder Karer bezeichneten die Griechen die Ureinwohner des westlichen Kleinasien). Im frühen 2. Jahrtausend v. Chr. drang dann ein starkes minoisches Element ein. Der Grund hierfür war aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe wie für die Verbindung zwischen den Kykladen und Milet im 3. Jahrtausend v. Chr.: der Erwerb anatolischer Metalle. Indizien für minoische Kontakte zu Inneranatolien in der Mittleren Bronzezeit gab es schon länger. Nun bildet Milet III als minoischer Stützpunkt das "missing link" in dieser Verbindung.
Milet III fiel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts v. Chr. einer Zerstörung unbekannter Ursache zum Opfer. In der Nachfolgesiedlung Milet IV (circa 1700 bis 1490/50 v. Chr.) sind die Indizien für minoische Präsenz noch stärker als in Periode 3. Wiederum gibt es feine minoische Importkeramik, vor allem aber große Mengen von undekorierter, aus dem lokalen, stark glimmerhaltigen Ton hergestellte Haushaltskeramik minoischer Typen, unter anderem konische Näpfe, dreibeinige Kochtöpfe, Grillständer für Fleischspieße und scheibenförmige Webgewichte.
Immigranten pflegen nicht nur ihre Küche, Ess- und Trinksitten aus der Heimat mitzubringen, sondern vor allem Religion und Kultbräuche. In den letzten Jahren hatten wir Teile eines Gebäudekomplexes aus Magazinräumen ausgegraben. Sie waren mit Vorratsgefäßen (Pithoi) und großen Mengen von Küchen- und Haushaltskeramik gefüllt. Da wir keinerlei Wohnräume antrafen, blieb uns die Funktion dieses Gebäudekomplexes zunächst rätselhaft. Im vergangenen Sommer konnten wir dieses Rätsel lösen.
Wir stießen im selben Komplex auf einen Hof. In ihm stand ein aus Lehmziegeln errichteter Altar. Es handelt sich also um ein Heiligtum, in dessen Magazinräumen Vorräte und Gefäße für rituelle Festmähler gelagert waren. Auf den verschiedenen Bodenniveaus des Hofes konnten wir vier Phasen des Lehmziegel-Altars feststellen. Außerdem trafen wir dreizehn Opfertischchen aus Kalkstuck an. Auf den Tischchen fanden wir Opfergaben, zum Beispiel zerriebene Purpurschnecken und Fischgräten.
In einem Raum stießen wir auf die verkohlten Reste eines Holzthrones. Da wir nur sehr wenige originale Möbel aus der Bronzezeit Griechenlands und Kleinasiens kennen, wird die Rekonstruktion des miletischen Thrones von einigem Interesse sein. Von besonderer Bedeutung erscheint mir, dass der Thron in einem Heiligtum zu Tage gekommen ist. In einigen so genannten Kultszenen, die auf minoischen Siegeln abgebildet sind, sitzt eine Frau auf einem Thron und empfängt Opfergaben von Gläubigen. Von Robin Hägg, einem schwedischen Archäologen, und mir stammt die Annahme, dass hinter diesen Darstellungen tatsächlich praktizierte Riten stehen, bei denen eine thronende Priesterin die Rolle der Göttin übernahm. Solche Riten erfolgten allem Anschein nach im minoischen Heiligtum von Milet.
Aus dem Heiligtum und seiner Umgebung stammen insgesamt drei minoische Siegel. Darunter ein Lentoid aus Rosenquarz. In ihn ist der Kampf eines geflügelten Greifen im minoischen "fliegenden Galopp" mit einem Löwen eingraviert. Weiterhin fanden wir eine einzigartige Pfeilspitze aus Bergkristall mit sicherlich ritueller Funktion (in der minoischen Vorstellungswelt waren Opfer und Jagd eng verbunden), das Fragment eines Spendegefäßes (Rhyton) aus Ton mit der Reliefapplike höchster Qualität einer Löwin im "fliegenden Galopp", Fragmente von minoischen Steingefäßen ritueller Funktion und in Freskotechnik ausgeführte Wandmalereien mit kultisch-religiösen Motiven, zum Beispiel weißen Lilien auf rotem Grund.
Die Bewohner des westlichen Kleinasien sprachen und schrieben Luwisch, eine dem Hethitischen verwandte, indogermanische Sprache. Die Bewohner der Periode 4 von Milet hingegen verwendeten die minoische Linear A-Schrift. Sie konnte bisher noch nicht endgültig entziffert werden, gilt aber als vorgriechisch und nicht-indogermanisch. Wir haben mehrere, in Tongefäße eingeritzte Linear A-Inschriften gefunden. Schließlich ist von den Funden noch ein scheibenfömiger Gewichtsstein aus Marmor mit einer Markierung aus sechs Kreisen zu nennen. Er ist nach dem minoischen Gewichtssystem geeicht.
Milet IV bietet nun ein weiteres Indiz dafür, dass die Überlieferung von der Seeherrschaft des Minos historische Realität ist. Es existierte ein von Knossos aus regiertes Seereich mit zahlreichen Stützpunkten auf den Inseln des ägäischen Meeres und im Süden der Westküste Kleinasiens. Dieses Seereich endete in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. mit einer Reihe von Zerstörungen, deren Ursachen noch umstritten sind.
Sicher ist, dass sie nicht – wie lange angenommen – auf den Ausbruch des Thera-Vulkans zurückzuführen sind. Diese Eruption, die mit einem Erdbeben verbunden war, ereignete sich früher, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts v. Chr. Der Vulkan schleuderte Tephra, vulkanische Asche, bis zu 38 Kilometer hoch in die Luft. Starke Winde trieben die Asche nach Osten. Auch in Milet haben wir aus dieser Zeit Zerstörungen und niedergefallene Thera-Asche angetroffen.
Wie in minoischen Siedlungen in Ostkreta, auf Rhodos und Kos wurde die Asche auch hier zur Seite geräumt und die Siedlung wiederhergestellt. Die Thera-Eruption hat aber sicherlich zu ökonomischen Problemen geführt. Die nach Meinung der Bevölkerung von den Göttern gesandte Katastrophe untergrub die Autorität der minoischen Elite, die zugleich politische wie religiöse Führungsschicht war. Dies hat langfristig zum Untergang der minoischen Palastkultur beigetragen.
Wie viele andere Siedlungen im ägäischen Raum ging auch Milet IV in der ersten Hälfte bis Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr. in einer Brandzerstörung zugrunde. Die Ursache – Erdbeben oder Krieg – können wir noch nicht sicher bestimmen. Möglicherweise handelte es sich um eine gewaltsame Eroberung durch mykenische Griechen, die überall im ägäischen Raum in das durch die Krise der minoischen Palastkultur entstandene Machtvakuum vorstießen. So hatte auch Siedlung Milet V (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts bis gegen 1300 v. Chr.) einen mykenischen Charakter. Nicht nur die dekorierte Keramik, sondern auch die undekorierte Haushaltsware aus der betreffenden Schicht ist mykenisch. Wie in Milet IV stellt einheimische, südwestanatolische Keramik nur einen ganz geringen Prozentsatz.
Milet V hatte eine bedeutende Keramikproduktion. In einem Viertel der Siedlung sind sieben, eng beieinanderliegende Töpferöfen aus Lehmziegeln ausgegraben worden. Das Ende von Milet V erfolgte durch eine verheerende Zerstörung. Davon zeugt eine im gesamten Grabungsareal bis zu 40 Zentimer dicke Brandschuttschicht.
Von Milet VI, der letzten Phase der bronzezeitlichen Siedlung, die um 1100 v. Chr. wiederum in einer Zerstörung endete, haben wir leider noch keine Überreste gefunden. Die betreffende Schicht war in unserem Grabungsareal durch Bauaktivitäten der römischen Kaiserzeit zerstört worden.
Um für das bronzezeitliche Milet eine historische Dimension zu gewinnen, müssen wir etwa 700 Kilometer Luftlinie nach Nordwesten schauen, auf Hattusa, die Hauptstadt des Hethiterreiches. Die dortigen Tontafelarchive enthalten zahlreiche Informationen über Ereignisse im westlichen Kleinasien zwischen 1500 und 1200 v. Chr. Diese Informationen konnten bis vor kurzem nicht ausgewertet werden, da die Lokalisierung der genannten Länder und Städte nicht sicher war und kontrovers diskutiert wurde.
Neugefundene Inschriften haben jetzt zur Klärung beigetragen. So ist jetzt das Land Arzawa, der Hauptgegner der Hethiter im westlichen Kleinasien, im Gebiet um Ephesos und im Mäandertal zu lokalisieren. Unter dem Namen Apasa war das bronzezeitliche Ephesos, das gerade bei neuen Grabungen türkischer Archäologen ans Licht kommt, die Haupstadt Arzawas. Auch Milet erscheint unter dem luwisch-hethitischen Namen Millawanda in den hethitischen Quellen. Beim Regierungsantritt des jungen hethitischen Großkönigs Mursili II. ca. 1320 v. Chr. verbündete sich Arzawa mit dem Land Ahhijawa (einem von den Hethitern als Großkönigtum von gleichem Rang wie ihr eigenes anerkanntes Land, das auf dem griechischen Festland zu suchen ist) und dessen Vasall Millawanda gegen das Hethiterreich.
Nach Anfangserfolgen seiner Gegner schlug Mursili aber zurück. In seinem dritten Regierungsjahr sandte er zunächst ein Heer gegen Millawanda, das erobert und zerstört wurde, dann eroberte er selbst Arzawa und dessen Hauptstadt Apasa. Die eindrucksvolle Brandschicht, die das Ende von Milet V markiert, ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit der historisch etwa 1315 v. Chr. zu datierenden Zerstörung Millawandas durch das Heer Mursilis zu verbinden. Mykenische Keramik derselben Stilstufe wie jener aus der Zerstörungsschicht von Milet V fand sich auf dem Schiffswrack von Uluburun an der türkischen Südküste, das nach einem dendrochronologischen Datum (Baumringzählung) kurz nach 1305 v. Chr. sank.
Während des 13. Jahrhunderts v. Chr. geriet Millawanda endgültig unter hethitische Vorherrschaft. Dies spiegelt sich im archäologischen Befund von Milet VI wider. Die bei den älteren Grabungen aufgedeckte Stadtmauer jener Siedlung zeigt mit ihren in regelmäßigen Abständen vorspringenden, rechteckigen Bastionen keinen mykenischen, sondern einen anatolisch-hethitischen Typ. Schwerter, die schon 1907 eineinhalb Kilometer südwestlich des Athenatempels in Gräbern des 13. Jahrhunderts v. Chr. gefunden wurden, konnten von mir als hethitische Waffen identifiziert werden. Auf dem Fragment eines in Milet hergestellten Ton-Kraters (Mischgefäß für Wein und Wasser) erscheint eine Hörnerkrone, wie sie im hethitischen Bereich von Göttern und Großkönigen getragen wurde. Die zu ergänzende Darstellung eines hethitischen Gottes oder Großkönigs stellt zweifelsohne ein starkes Indiz für hethitischen Einfluss dar.
Um 1100 v. Chr. wurde auch Milet VI zerstört. Warum und von wem wissen wir noch nicht. Die so genannte submykenische und protogeometrische Keramik von Milet VII (11. bis 10. Jahrhundert v. Chr.) zeigt enge Verbindungen zu Athen. Dies trifft sich mit der mythischen Überlieferung, nach der Neleus, ein Sohn des athenischen Königs Kodros, das ionische Milet neu gründete. Doch das ist eine andere Geschichte.
Autor:
Prof. Dr. Wolf-Dietrich Niemeier
Archäologisches Institut, Marstallhof 4, 69117 Heidelberg,
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