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Alltagsskizzen aus Aphrodisias

Nicht anders als heute haben auch die Menschen der Spätantike all das, was sie bewegte, an die Wände öffentlicher Gebäude, an Pfeiler und Mauern geschrieben. Besonders viele solcher Grafitti haben sich in der kleinasiatischen Stadt Aphrodisias erhalten, seinerzeit ein blühendes urbanes Zentrum. Angelos Chaniotis, gebürtiger Grieche und Direktor des Seminars für Alte Geschichte, untersucht seit 1995 die schriftlichen Hinterlassenschaften der Menschen aus Aphrodisias. Sein Beitrag macht anschaulich, wie wichtig selbst scheinbar unbedeutende Zeugnisse sind, um unser Bild vom antiken Leben zu vervollständigen. Die Graffiti zeigen in unmittelbarer Weise, wovon andere historische Quellen oft schweigen: die Sorgen und Gefühle der einfachen Menschen.

Aphrodisias, die Stadt der Aphrodite, war vom späten ersten Jahrhundert vor Christus bis zum siebten Jahrhundert nach Christus eine der wichtigsten Städte Kleinasiens. Die Bündnistreue der Aphrodisieis gegenüber Rom und die mythologisch begründete Verwandtschaft ihrer Göttin zur Familie des Oktavian verschafften ihnen politische und wirtschaftliche Privilegien. Reiche Bürger ließen in der Stadt im späten ersten Jahrhundert vor Christus prächtige Bauten errichten: Theater und Stadion, die beiden von aufwendig dekorierten Hallen umstandenen Marktplätze oder die Stätte des Kaiserkultes (Sebasteion) beeindrucken den heutigen Besucher. Die kaiserliche Unterstützung, das fruchtbare Territorium und die berühmte Bildhauerschule von Aphrodisias machten die Stadt zu einem blühenden urbanen Zentrum. Seit dem Ende des dritten Jahrhunderts war Aphrodisias die Hauptstadt der Provinz Karien.

Der zeitgenössische Besucher von Aphrodisias wird von den in der Sonne strahlenden Bauten geblendet. Dabei vergisst er die Probleme des Alltags einer antiken Stadt: Schmutz, baufällige Gebäude, mangelhafte Wasserversorgung und eine schlechte Kanalisation. Diese Stadt war von Menschen bewohnt, die arbeiteten, feierten, sich stritten oder sich verliebten. Nicht anders als heute haben sie das, was sie bewegte, mit Zeichnungen, Schlagworten oder kurzen Texten an den Wänden öffentlicher Bauten, an Säulen oder den Sitzplätzen der Versammlungsorte festgehalten. Wenn sich in Aphrodisias – anders als in vielen anderen Städten – Hunderte dieser Graffiti erhalten haben, dann vielleicht deshalb, weil sie nicht nur gemalt oder geritzt, sondern tief in den Stein eingemeißelt wurden.

Eine Erklärung dafür ist die Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den Bildhauerwerkstätten von Aphrodisias arbeitete. Einige der Zeichnungen sind so anspruchsvoll, dass sie nur von künstlerisch tätigen Menschen stammen können, die das Theater, das Stadion oder den Markt mit ihrem Handwerkszeug besuchten. Ein nettes Beispiel dafür ist das kleine Gesicht, welches ein Bauarbeiter auf eines der Kapitelle des Aphrodite-Tempels eingemeißelt hat. (Abbildung Seite 5).

Die Graffiti von Aphrodisias sind von jedweder Art: Es finden sich Skizzen von Gegenständen und Bauten, vereinzelte Buchstaben, anzügliche Texte, Namen, Liebeserklärungen und Gebete, politische Parolen und religiöse Symbole. Der Quellenwert solcher Graffiti kann nicht genug betont werden. Sie zeigen uns unmittelbar die Sorgen und Gefühle der einfachsten Menschen, die literarische Quellen manchmal verschweigen. Oft lässt sich der Hintergrund der Graffiti nur schwer oder gar nicht interpretieren: Nicht immer ist ein Text so leicht zu verstehen wie "Ich liebe Apollonios, den Herren", der sich auf einer Säule des Sebasteion findet. Doch auch dieser Text lässt Fragen offen: Spiegelt das Graffito die Treue eines Sklaven oder Liebeskummer wider? Ist es von einer Sklavin oder von einem Sklaven geschrieben worden?

Größere historische Aussagekraft haben Graffiti, die sich in vier Gruppen ordnen lassen: Graffiti aus Stadion und Theater, die mit Schaustellungen zusammenhängen; Graffiti vom Marktplatz, die uns in die soziale Schichtung der Stadt und das Berufsleben einblicken lassen; Graffiti, die von Bauarbeitern stammen, und Graffiti, die mit religiösen Konflikten zusammenhängen. Einige dieser Graffiti möchte ich hier exemplarisch vorstellen.

Ein erster Komplex umfasst Zeichnungen und Texte, die Schaustellungen betreffen. Sie finden sich vor allem im Theater und im Stadion. Es handelt sich um Platzreservierungen, Zeichnungen von Schauspielern und Gladiatoren, deren Namen – beispielsweise des Gladiators Thrax – oder die Namen der Besucher. Unter diesen Graffiti findet sich die grobe Zeichnung eines Seiltänzers (Abbildung Seite 4). Er ist dargestellt, wie er mit einem Stab in der Hand auf dem Seil balanciert. Vom Seiltanz gibt es kaum ikonographische Zeugnisse, sieht man von zwei Satyrn ab, die auf ausgestrecktem Seil in einem Haus in Herculaneum dargestellt sind.

Der Seiltanz war seinerzeit sehr beliebt und wurde sogar ein Fall für die römische Jurisprudenz. In den so genannten Digesten wird beispielsweise folgender Rechtsfall behandelt: Ein Sklave, der das Seiltanzen erlernt hat, wird von seinem Herrn verkauft. Auf Geheiß des alten Herrn – aber unter dem neuen Besitzer – bricht sich der Sklave ein Bein. Ist der alte Herr, der ihn dazu aufgefordert hat, oder der neue Herr dafür verantwortlich? Die Meinungen der Juristen hierüber gehen auseinander. Für uns ist dieses juristische Problem wichtig, weil es belegt, dass Sklavenbesitzer ihre Sklaven wohl von frühester Kindheit an zu Akrobaten ausbilden ließen, um daraus Gewinn zu schlagen. Sie verkauften die spezialisierten Sklaven zu einem guten Preis oder sie vermieteten sie anlässlich verschiedener Feiern. Die Darstellung im Theater von Aphrodisias zeigt, dass derartige Darbietungen zum Programm der lokalen Feste gehörte.

Auf einer Säule der Nordhalle des Südmarktes von Aphrodisias sind die Skizzen von zwei Löwen (Abbildung Seite 5 rechts) zu sehen. Die beiden Tiere haben wahrscheinlich einen Besucher der Gladiatoren- und Tierkämpfe im Stadion beeindruckt. Die Angaben zur Herkunft der Schausteller oder die Kommentare über ihre Leistungen oder Persönlichkeit – zum Beispiel "Karmidianos ist eine Tunte" – geben uns einen lebendigen Einblick in eines der wichtigsten Aspekte des öffentlichen und kulturellen Lebens kaiserzeitlicher Städte.

Eine zweite große Gruppe von Graffiti besteht aus Texten, die uns auf den Bau und die Funktion von Gebäuden hinweisen. Wer Bauten wie den Tempel oder das Theater errichtet oder finanziert hat, wem die Bauten gewidmet waren und unter welchem Statthalter sie restauriert worden sind – darüber informieren uns die monumentalen "Weih- und "Bauinschriften". Wie aber die Bauarbeiter ihre Arbeit organisiert haben, erfahren wir von diesen Texten nicht. Darüber geben uns eher einzelne Buchstaben oder Zahlen Aufschluss. Sie finden sich beispielsweise hinter einer Säule oder unterhalb eines Mauerblocks.

Ein charakteristisches Beispiel sind zwölf mit roter Farbe bemalte Inschriften auf großen Blöcken entlang der Außenwand des im zweiten Jahrhundert nach Christus restaurierten Rathauses. Es handelt sich immer um das gleiche Wort: "PROBATA" (Abbildung Seite 6 links außen). In drei Fällen steht der Text auf dem Kopf. Er muss also geschrieben worden sein, bevor die Blöcke für den Bau des Rathauses benutzt worden sind.

Als Grieche dachte ich zunächst an das griechische Wort próbata (Schafe) – aber es war nicht klar, was das Wort "Schafe" an der Wand eines Rathauses zu suchen hatte (ob eine Parallele zwischen den Parlamentariern und "Schafen" gezogen werden sollte, sei dahingestellt). Wie sich schließlich herausstellte, handelt es sich um das mit griechischen Buchstaben geschriebene lateinische Wort probata. Es bedeutet "geprüft und genehmigt".

Die Zusammenhänge stellten sich nun so dar: Größere Blöcke, vermutlich von einem abgerissenen Gebäude, wurden für den Bau des Rathauses verwendet. Die Blöcke wurden von einen Baumeister für geeignet erklärt, der mit roter Tinte probata schrieb. Heute würde er wohl eher "o.k." schreiben. Man wusste wohl schon im voraus, wo die Blöcke anzubringen waren, denn sie bilden alle eine einheitliche Schicht, die rund um den Bau läuft.

Von den zahlreichen Zeichen von Steinmetzen, die sich im Rathaus finden, ist ein kurzer Schriftzug hervorzuheben. Am Ende des Korridors hinter der Bühne des Rathauses befinden sich Fenster. Neben einem Fenster erkennt man mit großer Mühe und nur unter besonderen Lichtverhältnissen den Text DEKATAKLES. Man erkennt das Wort katakleis (Fenster), auch wenn nicht sicher ist, was DE bedeutet. Etwa die Abkürzung von de(ka) = zehn oder das Ende von ide = siehe? Dennoch kann man davon ausgehen, dass der Text die Bauarbeiter anwies, nach diesem Mauerblock Platz für ein Fenster zu lassen.

Dass Graffiti mit ideologischen, politischen und religiösen Konflikten zusammenhängen, ist uns bestens bekannt. Graffiti in Pompei geben uns beispielsweise einen lebhaften Eindruck von der Wahlpropaganda in dieser Stadt. Die Graffiti sprechen allerdings nicht "von selbst" – sie lassen sich erst dann in einen historischen Zusammenhang einordnen, wenn man die literarischen, dokumentarischen und archäologischen Quellen berücksichtigt. Über derartige Quellen verfügen wir glücklicherweise in Aphrodisias.

Die für die Religionsgeschichte relevanten Graffiti stammen aus der Spätantike (viertes bis sechstes Jahrhundert nach Christus), einer Zeit, die mit religiösen Auseinandersetzungen aufgeladen war. Die Graffiti betreffen alle drei religiösen Gruppen, die für diese Zeit in Aphrodisias bezeugt sind: Christen, Heiden und Juden. Das Toleranzedikt des Jahres 311 ließ in Kleinasien einen "Markt der Religionen" entstehen; Christen, Juden und Heiden konkurrierten untereinander. Die Reden der Kirchenväter lassen keinen Zweifel an den Erfolgen des Judentums, sie bezeugen aber auch den erbitterten Widerstand der Heiden. Dass die Christen den Siegeszug ihrer Religion dokumentierten, in dem sie das Kreuz auf die Wände paganer Tempel einmeißelten, ist gut belegt.

In Aphrodisias ist die kämpferische Auseinandersetzung der Anhänger der griechischen Religion mit den Juden bis ins sechste Jahrhundert interessant. Die Existenz einer großen jüdischen Gemeinde ist durch zwei auf einem Pfeiler aufgezeichnete Texte überliefert (viertes beziehungsweise fünftes Jahrhundert nach Christus). Sie nennen die Namen, Vatersnamen und teilweise die Berufsbezeichnungen von 68 Juden, drei Proselyten und 52 "Gottesfürchtigen" ,das heißt Sympathisanten der Judentums. Unter den Gottesfürchtigen befinden sich reiche und wichtige Männer, darunter neun Mitglieder des Rates.

Diese Texte lassen sich historisch besser einordnen, berücksichtigt man die anderen Zeugnisse jüdischer Präsenz in Aphrodisias. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um Graffiti: kurze Texte (Gebete), vor allem aber um gezeichnete jüdische Symbole. Sie befinden sich an mehreren Orten der Stadt: im Rathaus, im Sebasteion und in der Agora. Auf den Sitzplätzen des Rathauses befinden sich Platzreservierungen für die Hebraioi (siehe Abbildung Seite 6 Mitte), deren Ältesten und möglicherweise einer jüdischen Jugendorganisation. Das Rathaus (Bild oben) wurde in der Spätantike unter anderem auch für Schaustellungen verwendet und für Letztere wurden diese Plätze reserviert (fünftes Jahrhundert nach Christus).

An mehreren Orten der Stadt sind jüdische Graffiti gefunden worden. Bei den insgesamt zwanzig Graffiti handelt es sich um Darstellungen jüdischer Kultgegenstände, die Privathäuser und vor allem Läden schmückten. Nach der Unterbrechung des Kaiserkultes im frühen vierten Jahrhundert nach Christus wurde das Sebasteion von Händlern okkupiert, die zwischen den Säulen der Nord- und Südhalle ihre Läden errichteten (Abb. Seite 10 oben). Auf diesen Säulen sind bisher neun Darstellungen von Siebenarmleuchtern (Menoroth) registriert worden (Abbildung Seite 6/7 Mitte). Man darf annehmen, dass die derart gekennzeichneten Läden Juden gehörten. Sie machten mit den Darstellungen bei den eigenen Leuten Werbung; doch auch Nicht-Juden gehörten zu ihrer Kundschaft. Der Kontext führt zu einer Datierung in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts.

Die Juden und die Sympathisanten des Judentums vertreten ein weites Spektrum sozialer Positionen und wirtschaftlicher Tätigkeiten. In dieser Zeit treten die Juden selbstbewusst auf: Sie bringen Zeichen ihrer Präsenz und ihres Glaubens auf den Wänden öffentlicher Bauten an. Für sie sind Plätze im Rathaus reserviert; drei Personen bekennen sich offen als Proselyten; die Säulenhallen der entweihten Stätte des Kaiserkultes werden von jüdischen Händlern besetzt; neun Mitglieder des Rates besuchen regelmäßig die Synagoge. Und all dies in einer Zeit, in der die kaiserliche Gesetzgebung die Diskriminierung der Juden unterstützte, die Konversion verbot und die Juden aus dem öffentlichen Dienst ausschloss. In Aphrodisias kommen die Zeichen, die für eine Verfolgung und Diskriminierung der Juden sprechen, erst später.

In einer Zeit, in der die Juden die Symbole ihrer Religion einritzten und in der die Christen die Wände öffentlicher Bauten mit Kreuzen bedeckten, blieben die zahlreichen Anhänger der griechischen Religion nicht untätig. Das Studium der Graffiti führt zur – an sich nicht überraschenden – Feststellung, dass die Symbole der drei religiösen Gruppen sehr häufig direkt nebeneinander stehen, was auf einen "Dialog" hindeutet. Dass es zu einem Dialog mit Hilfe von Graffiti kommen kann, ist jedem zeitgenössischen Bewohner einer modernen Stadt bekannt.

Im spätantiken Kontext und stets in unmittelbarer Nähe zu anderen religiösen Symbolen, insbesondere zu Kreuzdarstellungen, sieht man sehr viele Darstellungen von Doppeläxten. Beispielsweise auf dem Boden des Tores, das zum Tempel der Aphrodite führte (Abbildung Seite 7 Mitte und Abbildung Seite 9), oder auf der Wand einer Zisterne. Der Labrys (Doppelaxt) war in Aphrodisias das Symbol des karischen Zeus. Der Kontext legt den Verdacht nahe, dass die Doppeläxte von Heiden eingeritzt wurden, und zwar als Reaktion auf das sehr ähnlich aussehende Symbol der Christen.

Im Falle der Juden von Aphrodisias sind wir ausschließlich auf die Graffiti und die Inschriften angewiesen. Für den Kampf zwischen Heiden und Christen verfügen wir jedoch auch über archäologische, literarische und andere epigraphische Zeugnisse. Im siebten Jahrhundert wurde die Stadt in Stauroupolis – "Stadt des Kreuzes" – umbenannt. Der alte Name Aphrodisias wurde wie der Name der Göttin aus älteren Inschriften entfernt.

Diese Beispiele zeigen: Auch die scheinbar unbedeutendsten Zeugnisse können dazu beitragen, unser Bild vom antiken Leben zu vervollständigen. Dies bedeutet keineswegs, dass der Althistoriker bei der Untersuchung antiker Zeugnisse keine Prioritäten setzt und zwischen Trivialem und Innovativem, Bedeutsamem und Gewöhnlichem nicht unterscheidet. Aber erst die Berücksichtigung aller Kategorien von Quellen – das heißt schriftlicher und ikonographischer, literarischer und dokumentarischer – macht die Erforschung antiker Kultur sinnvoll.

Autor:
Prof. Dr. Angelos Chaniotis, Seminar für Alte
Geschichte, Marstallhof 4, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 22 32, Fax (0 62 21) 54 22 34;
e-mail: angelos.chaniotis@urz.uni-heidelberg.de

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