Quälend faszinierende Ästhetik
Ob in London oder New York, Los Angeles oder Barcelona – wo immer die Prinzhorn-Sammlung gezeigt wird, zieht sie enorme Aufmerksamkeit auf sich. Sie gilt als eine der eindrucksvollsten Sammlungen von Kunst psychisch kranker Menschen. Bettina Brand-Claussen und Christoph Mundt von der Psychiatrischen Universitätsklinik beschreiben die Geschichte der Sammlung und erläutern die Bedeutung der faszinierenden "Bildnereien Geisteskranker". Achtzig Jahre nachdem der Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn die eigenartigen Werke zusammengetragen hat, entsteht derzeit in Heidelberg ein Museum für die Prinzhorn-Sammlung. Es soll im Herbst eröffnet werden.
Franz Hamminger, "Judas. D. Aug. Popp. Antichrist. D. Dr. Rehm", um 1899, Feder auf Papier |
Tausende von Zeichnungen und Malereien trug Hans Prinzhorn aus deutschen und europäischen Kliniken um 1920 wie in einem Sammelrausch in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg zusammen – darunter versponnene, andächtige Blätter, ungestüme Entwürfe unendlicher Systeme, Bitten um Freiheit oder Farben und Anklagen voller Ironie und Hohn; abgründig schöne Hefte und emsig zusammengeklebte Bücher, einzelne Collagen von hoher Präzision, Schriftstücke, hastig, verdüstert oder glasklar, verwirrte Stickereien, mal fein, mal großzügig und befremdliche, ja monströse Schnitzereien.
Wie Prinzhorn beobachtet hatte, entstanden Werke "mit dem Ausdruck eigenen Erlebens" eher selten; doch genau diese hatte er von den Heil- und Pflegeanstalten erbeten. Mit den ,andersartigen' Bildfindungen der meist unter der Diagnose Schizophrenie dauerhospitalisierten Patienten schuf er eine der eindrucksvollsten Sammlungen von Kunst psychisch Kranker. Sie wurde von ihm nicht als diagnostisches Material angesehen, sondern als Entdeckung einer Ästhetik besonderer Art.
Seine Publikation "Bildnerei der Geisteskranken" aus dem Jahr 1922, in der er den eigenwilligen, damals oft als obszönes Gesudel verurteilten Malereien ästhetischen Reiz, ja Schönheit zuschreibt, gilt daher noch heute als gültige Aussage über die Kunst psychisch Kranker oder "outsider-art", wie sie heute oft bezeichnet wird.
Karl Genzel ("Brendel"), Gebärender Christus, um 1920, Holz |
Der Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Psychiatrischen Klinik begründete seine Sammelaktion mit der Suche nach den Ursprüngen menschlicher Kreativität in Anbetracht einer ihm oberflächlich erscheinenden Kunst der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Angesichts der kunstvoll ausgebreiteten Wahnsysteme in den Werken der Sammlung entdeckte er gerade in den Zeichnungen akademisch nicht vorgebildeter Hospitalisierter eine ursprüngliche "reine" Kreativität, deren Bedingung ihm die schizophrene Weltabkehr zu sein schien. Prinzhorn, Freund Emil Noldes, knüpfte damit an eine Sichtweise an, die etwa die Künstler des Blauen Reiter schon vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hatte, als sie in bäuerlicher Hinterglasmalerei und exotischen Masken die Quellen ursprünglicher Kunst zu finden meinten.
Die seltsame Sammlung, die zunächst über Prinzhorns reich bebildertes Buch bekannt wurde, elektrisierte Künstler und Kulturschaffende. Ausstellungen in Kunstvereinen von 1929 bis 1933 erreichten eine breitere Öffentlichkeit, die NS-Presse reagierte bald verächtlich. 1938 überließ der damalige Direktor der Psychiatrischen Klinik, Carl Schneider, einige Werke der Wanderausstellung "Entartete Kunst". Bis 1941 wurden Bilder der Sammlung in diesem Rahmen gezeigt, mit dem Ziel, Künstler der Avantgarde zu pathologisieren.
Die Sammlung geriet danach in Vergessenheit bis sie in den 60er Jahren gewissermaßen periodisch wiederentdeckt wurde (Harald Szeemann, 1963; Graf Wittgenstein, 1965). Den Durchbruch zu einer dauerhaften Auseinandersetzung mit der Sammlung, an deren Beginn die konservatorische Rettung stehen musste, ist der Energie von Maria Rave-Schwank zu verdanken. Die Klinik stattete dann die Sammlung unter Leitung von Werner Janzarik mit einer halben akademischen Stelle aus, aus der alsbald eineinhalb wurden. Kustodin wurde Inge Jádi.
Die "Hexenkopf-Landschaft", entstanden um 1915, (recto, verso, Nachtansicht) von August Natterer (1868-1933) setzt ein halluzinatorisches Geschehen bildnerisch um. |
Unter Leitung von Inge Jádi wurde der gefährdete Fundus ab 1979 mit Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk nach museologischen Regeln aufgearbeitet, wobei er sich von zwei Schränken auf ein professionell geführtes Depot von 30 Laufmetern ausdehnte. Zwar ging der authentischen Aura des Improvisierten manches verloren, dafür erreichten die äußerst empfindlichen Gegenstände der Sammlung Reise- und Ausstellungsfähigkeit. Obgleich Ausstellungen für lange Zeit innerhalb des Klinikums nicht möglich sein sollten, gelang es doch, die Aufmerksamkeit einer nationalen und internationalen Öffentlichkeit zunehmend für die Sammlung zu gewinnen.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung jetzt mit der Fertigstellung eines historischen Gebäudes des Altklinikums, das mit entscheidender Unterstützung durch den Vorstand des Klinikums der Universität Heidelberg, der Landesregierung und des Bundes renoviert und für die speziellen Zwecke der Beherbergung und Präsentation der Sammlung in wechselnden Ausstellungen präpariert werden konnte. Seine Übergabe ist für den Mai, die Eröffnung mit einem internationalen Kongress für Mitte September 2001 vorgesehen.
Joseph Schneller ("Sell"), 1878-1943, "Person = Ausweis: Zeugnis", 1907, Collage |
Die in den letzten Jahren außerordentlich gestiegene positive internationale Resonanz der Sammlung resultiert aus einer gesteigerten sozialen und ästhetischen Sensibilität; der Faszination, Neugier, künstlerischen und sozialen Empathie für Verlorenes, Brüchiges, Rätselhaftes und Hässliches sowie der Bereitschaft, sich mit verwirrten und gescheiterten Lebensentwürfen, ihren Selbstrettungsversuchen und der aus ihnen entstehenden vitalen Kreativität zuzuwenden. Der von den Künstler-Patienten durchlittene Kreativitätsprozess zeigt wie unter dem Vergrößerungsglas Angst, Entfremdung, Verzweiflung, wie sie jedem Menschen in Grenzsituationen zugänglich sind.
Nathalie Wintsch (1871-1944), Stickerei, um 1918 |
Die Ausstellungstätigkeit der letzten zwanzig Jahre verfolgte vor allem zwei Ziele: eine größere Öffentlichkeit zu erreichen und eine differenzierte Sicht auf den vielgestaltigen Fundus der Sammlung zu ermöglichen. Kleinere monographische Projekte wie die über Franz Karl Bühler oder die Bremer Künstler der Prinzhorn-Sammlung stehen neben thematischen Monographien ("Texte der Prinzhornsammlung", "Muzika"). Eine große Wanderausstellung ("Wahnsinnige Schönheit") konzentrierte in den 90er Jahren den Blick auf die ästhetischen Dimensionen der Sammlung. Der Erfolg gerade auch der internationalen Ausstellungen war außerordentlich. Im Zusammenhang mit den genannten Projekten wurde auch die Frage der Bedingungen für die Entstehung der Sammlung, ihre Einbettung in die Geschichte und die Frage nach den Intentionen des Sammlers Prinzhorn wiederholt bearbeitet ("Heidelberger Patienten", "Wahnsinnige Schönheit").
Die Konzentration auf eine Ästhetik der Grenzüberschreitung trägt bis heute zu dem Missverständnis bei, schizophrene Patienten seien primär Produzenten des Originären, Phantastischen und einer archetypischen Wahrheit. Indessen gerieten aber auch Blätter in die Heidelberger Sammlung, deren Nähe zum offiziellen ästhetischen Kanon ihrer Zeit offensichtlich ist. Sie gelten auch heute noch als unschöpferisch. Mitverbannt wurden aber auch andere, meist gegenständlich aufgefasste Werke. Aufgrund scheinbar dürftiger ,Expressivität' grenzte man sie als ,normal' aus, ohne die Breite der formalen Möglichkeiten für "Ausdruck" im Blickfeld zu haben.
Eine der "Gemahlinnen" von August Natterer. Das offensichtlich nach einer Fotografie gefertigte Bildnis ist dem neusachlichen Verismus der zwanziger Jahre verblüffend nahe. |
Beispiele gibt es im nichthalluzinatorischen Werkkomplex August Natterers. Den gewünschten "Ausdruck eigenen Erlebens", der laut Prinzhorn aus den weltabgewandten Anstaltspatienten hervorbrach, lieferten sie nicht. Gerade Natterers unexpressiv steife, offensichtlich nach Photographien gefertigte Bildnisse der "Gemahlinnen" (eine Gemahlin zeigt das Bild auf Seite 20) sind dem neusachlichen Verismus der zwanziger Jahre verblüffend nahe. Kulturhistorisch interessante Werke wie diese kommen nur zögernd ans Licht, weil sie die Erwartung der Betrachter nicht bedienen können.
Eine differenzierte Sicht
auf die legendäre Sammlung kann diese verborgenen Werke heute nicht
mehr aussparen. Ebenso sind sorgfältige kunst- und
kulturwissenschaftliche Einzeluntersuchungen notwendig im Hinblick auf
das Gesamtwerk eines Künstlers oder auf thematische Felder. Um
angesichts manch rätselhaft anmutender Bildkonstruktionen nicht ins
Raunen zu fallen, kann der Versuch hilfreich sein, sie in das
kulturelle Bildgedächtnis jener Zeit einzufügen und mit den
künstlerischen Intentionen ihres Autors zu verknüpfen. Dazu das
folgende Beispiel:
Die Hexenkopf-Landschaft (um 1920; siehe Abbildung Seite 17) von August
Natterer (1868-1933), die nachweislich ein halluzinatorisches Geschehen
bildnerisch umsetzte, wurde von Prinzhorn zwar inventarisiert, aber bei
seiner Suche nach einer "quälend faszinierenden" Ästhetik übergangen.
Vermutlich war sie ihm zu banal, denn harmlos und "herzig" wirke das
Bild, schreibt auch 1931 der "Pfälzer Bote". Konträr dazu wurde es 1967
im Katalog der Heidelberger Galerie Rothe als "grauenhaft" empfunden.
Rudolf Arnheim schließlich erkannte 1986 darin ein psychotisches Bildmuster, in dessen angeblich unvereinbaren Elementen das verwirrte Gedächtnis einer Identitätsstörung aufschien. Seither bilden zahlreiche angelsächsische Lehrbücher zum Thema Persönlichkeitsstörungen das Blatt als passende Illustration in immer neuen Auflagen ab.
Tatsächlich gehört zum sichtbaren Konzept des Blattes die Mehrdeutigkeit, das kippelige Spiel, worin ein großer, wie pockennarbiger Kopf und eine Miniaturlandschaft verwickelt sind. Doch was hier in einem psychopathologischen Konsens recht schlicht als Mangel an Kohärenz gelesen wird, ist zunächst eigentlich ein Vexierspiel, das so ungewöhnlich nicht ist. Berühmt sind die physiognomisch-landschaftlichen Schwebezustände der Manieristen des 16. Jahrhunderts, doch gehören Vexier-, Such-, Kippbilder, Kompositköpfe und anamorphotische Verzerrungen von Köpfen und Schädeln zur Praxis von Kunst und Bildindustrie bis ins 20. Jahrhundert. Beherrscht wird die Landschaft von dem eingefügten Kopf einer "Hexe", die als Welterzeugerin auch im Mittelpunkt einer ausführlich von Natterer berichteten Halluzination von 1907 steht. Natterer führte das Motiv der Hexe seit 1911/1913 immer wieder und fast identisch aus, mit den Merkmalen einer Märchenhexe, wie halbblindem Auge, großer Nase und einer Nachthaube, die sich an den Rändern verwandelt und zu einem Totenschädel mutiert.
Das kunstvoll inszenierte Vexierbild zeigt den Kopf zwischen Wiese und Teich balancierend inmitten einer sorgfältig organisierten vedutenartigen Landschaft mit einer Kleinstadt im Zentrum und bäuerlicher Natur an der Peripherie. Für die vermutlich ausnahmslos zitierten Gebäude können zwei Vorlagen nachgewiesen werden, beide lebensgeschichtlich bedeutsam für Natterer. Links ist die Kirche von Sankt Jodok aus Natterers Heimatstadt Ravensburg wiedergegeben, während die Fabrik rechts, im Ostteil der Stadt neben Wohnblick und herrschaftlicher Fabrikantenvilla, auf die berühmte, 1909 im maurischen Stil erbaute (1995 renovierte) Tabakfabrik Yenidze in Dresden anspielt; zugleich ein Zeichen, mit dem Natterer die Dresdner Station seiner Wanderjahre vermerkt.
Das Vexierbild war seit 1920 rückseitig mit dem Passepartout fest verleimt, seine Rückseite also unbekannt. Erst bei der Restaurierung 1985 wurde sichtbar, dass es doppelseitig lasierend bemalt und mit Transparenzeffekten wie gemalten Dächern und aufgeklebten Schablonen ausgestattet ist. Mit diesem dioramatischen Transparent bewegt sich Natterer in einer gängigen Technik aus der Frühzeit der lichtaktivierten Bildprojektionen für häusliche Zwecke. Die heute kaum zu reinszenierende rückseitige Beleuchtung, bei der man die gesamte Fläche durch ein separates, mit Ausschnitten versehenes Blatt abdeckt, erzeugt Abend- und Nachteffekte mit illuminierten Fenstern und Einblicken in die von Fischen und Pflanzen belebte Tiefe des Sees.
Das mit wenigen Materialien überlegt konzipierte Vexierbild mitsamt der Lichtregie ist ein universales Bild von großer Bedeutung für den gescheiterten Elektrotechniker, anhand dessen er das Undurchschaubare der Welt erhellen und das überraschende und entrückende Bewegungsmuster seiner halluzinatorischen Erscheinungen vorzuführen vermochte.
Seh-Konventionen zu verschieben ist nicht einfach. Trotz ihrer Präsentation in vielen Ausstellungen spinnt sich um die Heidelberger Sammlung von Anstaltskunst noch immer ein zähes Netz von Projektionen und Spekulationen, von Mystifikationen oder wortreicher Sprachlosigkeit. Fast magische Anziehungskraft geht von ihr aus und doch ist sie kunst- und kulturhistorisches Niemandsland. Das Sichten der Archive und das Entziffern der Arbeiten scheinen ein Wagnis, dem sich selten jemand stellt. So reduziert sich der Zugang auf die Zwiesprache Einzelner mit den Werken. Der Betrachter erliegt der Aura von Bildern und bestürzenden Lebensgeschichten und liest sie in eigene Gefühlslagen ein. Häufig genug rücken dabei stilistische Vielfalt und das gezielte Auswählen schöpferischer Verfahren gar nicht erst ins Blickfeld. Dabei werden zugleich die individuellen künstlerischen Intentionen der ohnehin hinsichtlich Zeitstellung und Vorbildung differenten Werke der marginalisierten Anstaltskünstler unter einem Gesamtkonzept vereinheitlicht wie Bildnerei der Geisteskranken, Art Brut, Outsider Art, Raw Creation ...
Selten erfährt ein Oeuvre, was bei jedem Werk von der Hand eines nicht-hospitalisierten Künstlers selbstverständlich ist: eine sorgfältige Analyse, die nicht die Vita in den Vordergrund stellt, sondern – unabhängig von ästhetischen oder psychopathologischen Urteilen – zuerst einmal die Wahl der ästhetischen Mittel und Strategien genau untersucht, sie in den Kontext von Krankheits- und Anstaltserfahrung, aber auch Diskursen, Lektüre, Zeitgeschehen und Bilderleben einzeichnet und dem Werk damit gerecht zu werden versucht.
Erst dann, wenn hier Ergebnisse vorliegen, kann eine zur Bildwissenschaft erweiterte Kunstgeschichte sich Überlegungen zur Bildpraxis in den Anstalten um 1900 oder zum Umgang dort mit Bildern zuwenden und eine historisch-anthropologische Öffnung der Fragen versuchen, wie sie im Bildbegriff mit dem "Doppelsinn innerer und äußerer Bilder" (Hans Belting) bereits anklingen.
Im Herbst 2001 wird eine Monographie zum Werk August Natterers vorliegen, dessen verrätselte Zeichnungen "Antichrist", "Wunderhirte" oder "Weltachse mit Haase" zu den Ikonen der Sammlung zählen. Auf seine Hexenkopf-Landschaft wurde oben kurz eingegangen und eine der "Gemahlinnen" zuvor abgebildet. Die monographische Publikation erfasst und ediert sorgfältig alle nachweisbaren Zeichnungen, Malereien und Konstruktionsentwürfe Natterers sowie ein umfangreiches Briefkonvolut: Leben und Werk werden in einem theoretischen Abschnitt von Autoren unterschiedlicher Provenienz diskutiert: Inge Jádi, Ferenc Jádi, Marielène Weber, Bettina Brand-Claussen.
Vielleicht weckt dieser kurze Ausblick auf einen der bekanntesten Künstler der Prinzhorn-Sammlung, von dessen Werk Max Ernst inspiriert worden ist, das Interesse, sich künftig der Sammlung, dem Leben und Erleben psychotischer Menschen und der Brüchigkeit auch des ‚gesunden' Seelenlebens mit vertieftem Verständnis zuzuwenden.
Autoren:
Dr. phil.
Bettina Brand-Claussen und Prof. Dr. med. Christoph Mundt,
Psychiatrische Universitätsklinik, Voßstraße 2, 69115 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 56 44 78, Fax (0 62 21) 56 59 98