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Zu klein geraten

Mehrere Faktoren bestimmen, wie groß ein Mensch einmal werden wird. Einen wesentlichen Anteil daran haben die Gene: Große Eltern haben in der Regel auch große Kinder. Die humangenetische Grundlagenforschung hat sich in den letzten Jahren dieses spannenden Themas angenommen und erstmals Erbanlagen auf den Geschlechtschromosomen benennen können, die bei kleinwüchsigen Menschen verändert sind oder fehlen. Gudrun Rappold vom Institut für Humangenetik der Universität Heidelberg beschreibt den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und eröffnet Perspektiven für neue Therapien des kindlichen Kleinwuchses.

Illustration
Zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn?

Zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn – das von George Cruikshank im Jahr 1852 mit spitzer Feder gezeichnete Cartoon zeigt vier Extreme des menschlichen Körperbaus. Abweichungen von der Norm – und dazu von einer so augenscheinlichen wie der des Körperbaus – wurden schon immer mit neugierigem Interesse bedacht. So waren Menschen mit extremem Klein- oder Zwergenwuchs über Jahrhunderte bestaunte Attraktionen im Zirkus, bei Ausstellungen und auf Jahrmärkten. Nach dem Guiness Buch der Rekorde lebte die kleinste Frau der Welt, Pauline Musters, von 1876 bis 1895 und maß gerade 55 Zentimeter. Der Inder Gul Mohammed, im Jahr 1957 geboren, kann mit 57 Zentimeter von sich behaupten, der kleinste Mann der Welt zu sein. Als menschliche "Normvarianten" waren Kleinwüchsige in früheren Zeiten auch gern gesehene Mitglieder des höfischen Lebens und dort als weise Ratgeber oder Unterhalter tätig. In Mythen, Märchen und Legenden haben Zwerge, Gnome und andere kleinwüchsige Fabelwesen schon immer die Phantasie der Zeitgenossen angeregt.

Die Geschlechtschromosomen X und Y sind für das Körperlängenwachstum besonders bedeutsam. Unregelmäßigkeiten der Chromosomen können verschiedene Formen von Kleinwuchs verursachen.

Was aber ist "Kleinwuchs"? Klinisch ist die Sachlage klar definiert: Die drei kleinsten einer Population von 100 Personen werden als kleinwüchsig bezeichnet. Die Einteilung erfolgt in Perzentilen, die mit Hilfe von Wachstumskurven abgelesen werden können. Im klinischen Jargon bedeutet ein unter der dritten Perzentile wachsendes Kind, dass 97 Prozent seiner gleichgeschlechtlichen Altersgenossen größer sind. Ein Kind deutscher Eltern, das nach den deutschen Wachstumstabellen als kleinwüchsig eingestuft wurde, würde etwa in Japan, wo japanische Wachstumskurven zu Grunde gelegt werden, noch durchaus innerhalb des Normbereiches wachsen. Dieses Beispiel zeigt: Um Kleinwuchs gegen Normalwuchs – und damit Krankheit gegen Gesundheit – abzugrenzen, müssen neben klinischen auch soziologische Parameter herangezogen werden. Nicht ohne Grund definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit nicht nur als "Abwesenheit von Krankheit", sondern schließt auch gesellschaftlich induzierten Leidensdruck ein: "health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease and infirmity", lautet die WHO-Definition im Wortlaut. Aus medizinischer Sicht wird Kleinwüchsigkeit als Krankheit gesehen und nicht als bloße Variante normalen Wachstums. Diese Schlussfolgerung unterstützen zahlreiche krankhafte Veränderungen des Skeletts und anderer Organe, die mit Kleinwuchs verbunden sein können.

Genetisch betrachtet handelt es sich bei der Körpergröße des Menschen um ein klassisches "polygenes Merkmal". Der Einfluss der Gene ist offensichtlich, ist doch die Zielgröße der Kinder meist direkt von der Körpergröße der Eltern abhängig. Eine große erbliche Komponente bedeutet jedoch nicht, dass die Umwelt nicht auch eine beachtliche Rolle bei der Körpergröße spielt. Über die Jahrtausende hinweg ist die Körpergröße des Menschen relativ konstant geblieben. Dies belegen Skelettuntersuchungen von der Früh- und Spätsteinzeit bis in die Neuzeit. In den letzten 150 Jahren sind die Menschen jedoch stetig größer geworden. Bessere Ernährungsbedingungen und der Wegfall vieler, die Entwicklung beeinträchtigender Infektionskrankheiten haben sicherlich einen wesentlichen Teil zu dieser Größenzunahme beigetragen.

Menschen mit einer klinisch definierten reduzierten Körpergröße können aus sehr verschiedenen Gründen kleinwüchsig sein. Eine mehr oder weniger proteinreiche Ernährung ist besonders in der frühen Kindheit von großer Bedeutung. Auf die seit dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden systematisch durchgeführten Impfprogramme ist es wahrscheinlich zurückzuführen, dass die Niederländer heute die größten Europäer sind. Hormonmangel oder psychosoziale Bedingungen können ebenfalls die Körpergröße beeinflussen. Die gewichtigste Rolle spielen aber die Gene. Diesem spannenden Thema hat sich die Grundlagenforschung in den letzten Jahren zugewandt. Erstmals konnte Kleinwuchs auf Veränderungen (Mutationen) bestimmter Gene zurückgeführt werden. Allen genetischen Erkrankungen – in der Fachsprache Hypoplasien, Dysplasien und Dysostosen genannt – liegen Mutationen unterschiedlicher Gene zu Grunde.

Der Hofzwerg Perkeo
Der Heidelberger "Hofzwerg" Perkeo – eine Mutationsanalyse würde heute wahrscheinlich die Diagnose "Pseudoachondroplasie" ergeben.
Würde der französische Maler Henri de Toulouse-Lautrec heute noch leben, folgte der (wahrscheinlichen) klinischen Diagnose "Pyknosystosis" eine molekulargenetische Mutationsanalyse, um den Gendefekt zu bestätigen. Bei Giovanni Clementi – besser bekannt als Heidelberger Hofzwerg Perkeo – würde die wahrscheinliche klinische Diagnose "Pseudoachondroplasie" heute durch eine Mutationsanalyse der Erbanlage für den so genannten Fibroblastenwachstumsfaktor-Rezeptor (FGFR3) gesichert werden.

Schon seit langem wird angenommen, dass die Geschlechtschromosomen (XX bei Frauen, XY bei Männern) für das Körperlängenwachstum besonders bedeutsam sind. Erste Hinweise dafür erbrachte der Körpergrößenvergleich von Patienten, deren Geschlechtschromosomen mit Hilfe des Mikroskopes erkennbare Veränderungen aufwiesen. Eine genaue zytogenetische und molekulare Analyse ermöglichte es dann, bestimmte Regionen der Chromosomen vorherzusagen, deren Verlust immer mit einer Kleinwüchsigkeit einherging. So konnte auf dem langen Arm des Y-Chromosoms ein Gen vorausgesagt werden, welches die Körpergröße des Mannes wesentlich mitbestimmt und nur bei Männern vorkommt. Mittels spezieller molekularbiologischer Methoden wie der Deletionskartierung, Klonierung und Sequenzierung konnte meine Arbeitsgruppe inzwischen die Chromosomenregion, in der dieses Wachstumsgen zu finden ist, auf eine Größe von 700 Kilobasen auf dem Erbmolekül DNS eingrenzen. Zur Zeit wenden wir verschiedene Methoden der Molekularbiologie und Bioinformatik an, um die Gene dieser eingegrenzten Region zu isolieren und einen ursächlichen Zusammenhang zu einem ganz bestimmten Wachstumsgen zu belegen.

Eine andere weit verbreitete Unregelmäßigkeit der Geschlechtschromosomen ist das "Turner-Syndrom", medizinisch definiert als das Fehlen eines Geschlechtschromosoms bei der Frau. Weltweit kommt auf 2500 Frauen eine Frau, die statt zwei X-Chromosomen lediglich ein X-Chromosom besitzt. Die Erkrankung wird deshalb auch "Monosomie X" genannt. Sie äußert sich mit verschiedenen klinischen Problemen, die wahrscheinlich auftreten, weil mehrere, auf dem X-Chromosom lokalisierte Gene verloren gegangen sind. Schlüsselsymptome sind Kleinwuchs und Sterilität; weitere Merkmale wie Lymphödeme, verschiedene Skelett-, Nieren- und Herzfehlbildungen in unterschiedlich ausgeprägter Stärke können, müssen aber nicht vorkommen. Diese Variabilität erklärt sich dadurch, dass die meisten – wenn nicht alle lebenden Frauen mit Turner-Syndrom – neben Zellen mit nur einem Geschlechtschromosom (so genannter 45,X-Karyotyp) auch Zellen mit dem normalen Chromosomensatz (46,XX-Karyotyp) aufweisen. Im Mutterleib heranwachsende Feten, deren Zellen ausschließlich einen 45,X-Karyotyp aufweisen, sterben in 99 Prozent der Fälle ab: Der komplette Verlust eines X-Chromosoms kann offenbar doch nicht ausgeglichen werden.

Chromosomen
Karyogramm
Die Chromosomen einer kleinwüchsigen Frau (Bild oben): bei den grün "aufleuchtenden" Chromosomen handelt es sich um die beiden X-Chromosome. Mit Hilfe von Gensonden ist feststellbar, dass auf einem der x-Chromosomen eine bestimmte Erbanlage, das so genannte SHOX-Gen, fehlt. Es wird schon früh während der Entwicklung gebraucht. Wenn von den Zellen nur die Hälfte des normalerweise gebildeten Genproduktes hergestellt wird, verringert sich die Körpergröße um zirka 20 Zentimeter. Das Bild zeigt ein Karyogramm – die geordnete Darstellung der einzelnen Chromosomen einer normalwüchsigen Frau.

Auch im Falle des Kleinwuchses beim Turner-Syndrom wiesen uns Deletionskartierungen und Positionsklonierungen den Weg, um das zu Grunde liegende Gen zu finden und zu isolieren. Das Gen, das den Kleinwuchs beim Turner-Syndrom verursacht, heißt SHOX ("short stature homeobox containing gene on the X chromosome"). Es handelt sich um eine Erbanlage, die schon früh in der Entwicklung eines Lebewesens benötigt wird. Wenn auf Grund eines Gendefektes von den Zellen nur die Hälfte des normalerweise gebildeten Genproduktes hergestellt wird, reduziert sich die Körpergröße um circa 13 bis 20 Zentimeter. Die größte Aktivität des SHOX-Gens findet man in den entstehenden Knorpel- und Knochenstrukturen.

Das Körperlängenwachstum ist ein biologischer Prozess, der bereits im Innern der Gebärmutter beginnt und bis zum frühen Erwachsenenalter anhält. Er ist an bestimmte anatomische Strukturen der Knochenenden, die so genannten Wachstumsfugen, gebunden. Zellen in diesem Bereich teilen und spezialisieren sich innerhalb eines hierarchischen Gefüges.

Embryo
Die Abbildung oben zeigt die entstehenden Gliedmaßen eines etwa 50 Tage alten menschlichen Embryos (rot=heranwachsender Oberarm; grün=Unterarm; gelb=gesamter Arm und Handplatte). Das Gen SHOX2 ist für den Ober-, SHOX für den Unterarm und SOX9 für den gesamten Arm zuständig. Molekularbiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass der Verlust des SHOX-Gens mit vier verschiedenen Krankheitsbildern des Kleinwuchses (siehe Grafik unten) einhergehen kann.
Grafik

Da SHOX in einer Chromosomenregion liegt, die auf dem X-und dem Y-Chromosom identisch ist, können Defekte oder das komplette Fehlen dieses Gens auch bei Frauen wie Männern mit normalem 46,XX- und 46,XY-Chromosomensatz zu Kleinwuchs führen. Mittels Mutationsanalyse an mehr als 2000 kleinwüchsigen Kindern, bei denen die Ursache ihrer Kleinwüchsigkeit bislang unbekannt war, konnten wir inzwischen zeigen, dass etwa zwei Prozent aller idiopathisch Kleinwüchsigen ein defektes SHOX-Gen in ihren Zellen tragen. Darüber hinaus können SHOX-Mutationen zu einer weiteren Kleinwuchserkrankung, dem Leri-Weill-Syndrom führen. Sind beide SHOX-Kopien defekt, führt dies zu extrem ausgeprägtem Kleinwuchs.

Verschiedene Kleinwuchsformen
Dargestellt ist die Aktivität der Gene SHOX und SHOX2 bei verschiedenen Kleinwuchsformen. Ist SHOX defekt, bilden sich Unterarme und Unterschenkel nur verkürzt aus und es entsteht der so genannte mesomale Kleinwuchs. Arbeitet SHOX2 nicht ordnungsgemäß, ist ein "rhizomelischer" Kleinwuchs die Folge, bei dem Oberarme und Oberschenkel verkürzt sein können.

Um den Kleinwuchs von Frauen zu behandeln, die am Turner-Syndrom leiden, wird schon seit vielen Jahren gentechnisch hergestelltes (rekombinantes) Wachstumshormon erfolgreich verwendet. Da es sich um den identischen SHOX-Gendefekt auch bei Patienten mit Leri-Weill-Syndrom sowie der zwei Prozent idiopathisch Kleinwüchsigen handelt, war es naheliegend zu prüfen, ob diese Form der Therapie auch bei den beiden anderen Patientengruppen hilfreich ist.

Gegenwärtig erfolgt eine klinische Studie mit Patienten, bei denen SHOX-Mutationen festgestellt wurden. Meine Arbeitsgruppe ist Referenzzentrum, um die dazu notwendigen Chromosomenanalysen sowie die molekulare SHOX-Diagnostik vorzunehmen. Wir sind außerdem das Zentrum der Datenerhebung. Da es sich bei der Behandlung mit rekombinantem Wachstumshormon nicht um eine ursächliche Therapie im strengen Sinne handelt, konzentrieren wir uns zurzeit darauf, mit Hilfe von Zellkultur- und Tiermodellen die natürlichen Zielgene, so genannte Targets, des SHOX-Proteins zu erforschen. Wir hoffen, damit dazu beizutragen, neue und rationale Therapien zu entwickeln, mit denen der kindliche Kleinwuchs erfolgreich behandelt werden kann.

Autorin:
Prof. Dr. Gudrun Rappold,
Institut für Humangenetik,
Im Neuenheimer Feld 328, 69112 Heidelberg,
Telefon (06221) 565059, Fax (06221) 565332,
e-mail: gudrun_rappold@med.uni-heidelberg.de

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