Projekt
Narrative des Terrors und Verschwindens. Fantastische Dimensionen kollektiver Erinnerungen an die letzte Diktatur in Argentinien (1976-1983)
Das Projekt untersucht die Auswirkungen des Staatsterrorismus auf die argentinische Kultur und Gesellschaft konzeptuell an der Grenze zwischen den Registern des Realen und der Fantastik.
Die Desaparecidos sind Opfer ohne Grab. Das wenige, was man über ihre Leidenswege nach der Gefangennahme weiß, wurde auf der Basis von Fragmenten (Berichte von Überlebenden, forensische Untersuchung der Leichen) rekonstruiert: Indizien einer durch die „Staatsgewalt, die verschwinden lässt“ („Poder desaparecedor“, Calveiro) zum Schweigen verurteilten Geschichte. Die Figur der Desaparecidos und der Versuch ihre Geschichten auszuradieren bedeutet für ihre Verwandten und einen großen Teil der argentinischen Gesellschaft eine Katastrophe der Bedeutungen (Gatti), die herkömmliche Darstellungs- und Erzählweisen herausfordert. Das Projekt wird sich multidisziplinär den Korrelationen zwischen dem historischen Phänomen des Terrors, seinen kollektiven Bewältigungsstrategien und den Erzählungen widmen, die von Strukturen der Fantastik (Todorov) durchzogen oder berührt werden: Sind Bedingungen der Entstehung und Verbreitung von Terror mit jenen Mechanismen des Fantastischen strukturell analog? Auf welche Weise evoziert das Fantastische selbst Elemente, die für den Terror charakteristisch sind? Inwiefern sind gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse, Darstellungen und Vorstellungen davon geprägt? Die Analyse sozialer Praktiken, kulturelle Konstellationen und literarischer und künstlerischer Produktionen im Hinblick auf die Desaparecidos soll diese Zusammenhänge mit einem Schwerpunkt auf der Fragestellung erforschen, welche Mechanismen die Wirkungen des Terrors möglicherweise perpetuieren. Das Projekt stützt sich auf die aktuelle Forschung und die Zeugenberichte, die im Cono Sur über die Erfahrungen während der Diktaturen der 1970er und 80er Jahren existieren. Zudem rekurriert es auf begriffliches Instrumentarium, das seit der Shoah entwickelt worden ist sowie auf Schlüsselkonzepte wie Trauma (Freud), Zeugenbericht (Laub), Schrift und (Mikro-)Historie (Benjamin, Ginzburg), die im Hinblick auf die argentinische Geschichte, Politik und Gesellschaft zur Anwendung gebracht werden. An der Studie sind Perspektiven, Theorien und Methoden aus der Literaturwissenschaft, Geschichte, Psychoanalyse, Medienwissenschaft, Pädagogik und Sozialanthropologie beteiligt. Das Projekt hat seinen Sitz am Romanischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert. Die Laufzeit begann im April 2010 und ist für eine Dauer von fünf Jahren vorgesehen.