Von Ute von Figura
Wir schreiben das Jahr 1970: Ein junger Mann macht sich in einem ausgemusterten Postbus über den Landweg auf in Richtung Indien. Der angehende Jurist hat beschlossen, sein Studium Studium sein zu lassen, um die Welt und das Leben kennenzulernen – eine Entscheidung, die weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen soll. Heute ist dieser ehemalige Rechtsstudent ein international renommierter Indologe, der sein Fach maßgeblich weiterentwickelt hat und als Begründer eines neuen Forschungszweigs, der Ethno-Indologie, gilt: Prof. Dr. Axel Michaels (Foto: Benjamin) hat, wie er selbst sagt, durch eine Fügung zu seiner Berufung gefunden. Die Faszination für den indischen Kulturraum, die ihn bei seiner ersten Reise ergriffen hat, ließ ihn nie mehr los.
Ende vergangenen Jahres hat der Indologe, Direktor des Exzellenzclusters „Asien und Europa im globalen Kontext“ und Wissenschaftler am Südasien-Institut (SAI) der Ruperto Carola den mit 250 000 Euro dotierten Lautenschläger-Forschungspreis erhalten. Die Auszeichnung gelte einer „Forscherpersönlichkeit in den Geisteswissenschaften, die durch herausragende wissenschaftliche Leistungen und große internationale Strahlkraft ausgewiesen ist“, betonte der Preisstifter und Ehrensenator der Ruperto Carola, Dr. h.c. Manfred Lautenschläger. Anfang Februar wird Axel Michaels der Höffmann-Wissenschaftspreis für Interkulturelle Kompetenz von der Universität Vechta verliehen.Die Indologie befasst sich mit den Sprachen, der Geschichte sowie den Kulturen und Ritualen des südasiatischen Kontinents. Seinen Ursprung nahm das Fach im 18. Jahrhundert mit Übersetzungen und Studien zu klassischen Sanskrittexten. Noch heute beschäftigen sich viele Indologen vorrangig mit rein philologischen Fragestellungen. Für Axel Michaels greift das zu kurz: „Die indische Gegenwartskultur weist eine einmalige Besonderheit auf: Viele der jahrtausendealten Schriften wirken bis in die heutige Zeit hinein. Sie lässt sich nicht verstehen, ohne Praxis und Text gleichermaßen in den Blick zu nehmen.“
In der Ethno-Indologie verknüpft er daher die ethnographischen Methoden der Feldforschung mit Studien klassischer und moderner Sprache. „Mich interessiert das Lebendige, die Menschen – die gelebte Wirklichkeit eben“, so der Hochschullehrer, zu dessen Schwerpunkten die Ritualforschung zählt. Auch lasse sich die Geschichte nicht ausschließlich aus Textstudien heraus verstehen: „Klassische indische Schriften zeichnen sich häufig durch stark normative Inhalte aus. Stellen Sie sich vor, ein Forscher findet in 2000 Jahren unsere heutige Straßenverkehrsordnung. Sollte er lediglich auf Basis dieses Textes Rückschlüsse auf unseren Verkehr ziehen, wird sein Bild mit der Realität wenig gemein haben.“
Nach der Rückkehr von seiner ersten Indienreise – unzählige weitere sollten folgen – begann Axel Michaels, Indologie und im Nebenfach Philosophie und Rechtswissenschaft zu studieren, zunächst in München, später in Hamburg sowie an der indischen Benares Hindu University. „Indien und der Hinduismus haben von Beginn an einen besonderen Reiz auf mich ausgeübt. Durch meine gesamte berufliche Laufbahn zieht sich das Abarbeiten an der Frage, was den Hinduismus ausmacht – und was es ist, das diese Glaubensgemeinschaft im Innersten zusammenhält.“ Michaels’ umfassendes Buch über Geschichte und Praxis des Hinduismus gilt international als Standardwerk.
Im Gegensatz zu Religionen wie dem Christentum oder dem Islam hat der Hinduismus einen polytheistischen Charakter. „Er hat nichts Gemeinsames, nichts Bindendes“, erläutert der Indologe. Der Hinduismus habe kein Oberhaupt, kein religiöses Zentrum, wie es Rom für die Katholiken sei, keinen von allen anerkannten Text wie den Koran und kein gemeinsames Symbol wie etwa das Kreuz. „Meine These ist, dass gerade die Fähigkeit, das Verschiedene gleichsetzen zu können, das wesentliche Charakteristikum des Hinduismus darstellt. In diesem Habitus – mehr als in Dogmen, in Lehren, in Göttern – ist die Gemeinsamkeit zu finden.“
Dies sei auch der Grund, warum der Hinduismus zu einer Art Schwamm habe werden können, der viele andere Kulturen, Religionen und Traditionen aufgesaugt habe, ohne dabei mit diesen in Opposition zu geraten. „Die Entschiedenheit, die wir aus unseren Religionen kennen – schwarz oder weiß, richtig oder falsch –, ist dem Hinduismus weitgehend fremd“, sagt Axel Michaels. Sinnbildlich hierfür steht eine Beobachtung, die der Indologe bei einem Fest in Nepal machen konnte: Neben Hunderten kleinen Tempeln und Götterfiguren verehrten die Pilger auch einen Wasserhydranten, dessen Form Ähnlichkeit mit einem Linga hatte, dem Symbol der Hindu-Gottheit Shiva. „Aus der Tatsache, dass ein Hindu nie weiß, in welcher Erscheinungsform sich das Göttliche manifestiert, ist eine Art Demutshaltung entstanden, die alle Lebensbereiche umfasst.“
Axel Michaels ist ein Forscher, dem der Dialog zwischen unterschiedlichen Fächerkulturen äußerst wichtig ist: „Ich bin überzeugt davon, dass wir wahre Disziplinarität nur in der Interdisziplinarität betreiben und schärfen können.“ Insbesondere gelte dies für die Geisteswissenschaften. „Sicher – es bedarf der soliden Kenntnis des eigenen Faches, um einen sinnvollen interdisziplinären Austausch zu entwickeln. Dann aber ist der Dialog notwendig: Denn die Aufgaben der Wissenschaft – Erkenntnisgewinn und Orientierungsfunktion – lassen sich nur durch das Lernen im Vergleich erreichen. Erst wenn wir unser Wissen auf eine Metaebene heben, kann wahre Erkenntnis entstehen.“
Für diese Überzeugung hat sich Michaels auch innerhalb der Hochschule stets stark gemacht – unter anderem in seinen Funktionen als Direktoriumsmitglied des Exzellenzclusters „Asien und Europa im globalen Kontext“ sowie als Mitbegründer und geschäftsführender Direktor des Heidelberger Centrums für Transkulturelle Studien (HCTS) und des Centre for Asian and Transcultural Studies (CATS). Elf Jahre war er zudem Sprecher des von ihm maßgeblich mitgestalteten Sonderforschungsbereichs „Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive“, der die Universität Heidelberg zu einem internationalen Zentrum der Ritualforschung gemacht hat. Axel Michaels’ Forschungsansatz, der von der strukturellen, historischen und gesellschaftlichen Dynamik von Ritualen statt von ihrer Formalität, Starrheit und Stereotypie ausgeht, hat weltweit Niederschlag gefunden und sich als neues Forschungsparadigma etabliert.
Derzeit hält den 66-Jährigen besonders sein Engagement für das durch die verheerenden Erdbeben zerstörte Nepal in Atem. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen sowie der Vereinigung der Freunde und Förderer des Südasien-Instituts hat er den „SAI HELP NEPAL“-Hilfsfonds Heidelberg gegründet, um Spendengelder für humanitäre Zwecke und für den Wiederaufbau von Kulturdenkmälern zu sammeln. „Als Wissenschaftler, der die nepalesische Kultur intensiv erforscht hat, sehe ich es als meine Pflicht an, dem Land und seinen Menschen etwas zurückzugeben“, betont Michaels, der auch die Forschungsstelle „Religions- und rechtsgeschichtliche Quellen des vormodernen Nepal“ an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und in Kathmandu leitet. Das Leid der stolzen und zurückhaltenden Nepalis habe ihn auf das Tiefste berührt.
Siehe auch: „Wissenschaftliche Kompetenz und individuelle Überzeugungskraft“
Siehe auch: „Axel Michaels erhält Wissenschaftspreis für Interkulturelle Kompetenz“