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Giovanni Valentini: Kapellmeister am Wiener Kaiserhof

Sich eine Vorstellung von der Persönlichkeit Giovanni Valentinis zu machen, fällt schwer: Es existiert kein Portrait, keine privaten Äußerungen sind überliefert. Obgleich Valentini eines der höchsten musikalischen Ämter seiner Zeit bekleidete, ist der bedeutende Komponist des 17. Jahrhunderts bislang auch der Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft entgangen. Ihm widerfuhr das Mißgeschick, in einer Epoche zu leben, in der die Position des "großen Meisters" bereits anderweitig vergeben war. Das Musikwissenschaftliche Seminar hat dem beinahe Vergessenen ein Symposium gewidmet. Silke Leopold schildert das Leben des herausragenden Musikers, die weitreichende Bedeutung seiner Werke – und die Grenzen der nationalen Musikgeschichtsschreibung.

Die Musikwissenschaft ist eine Disziplin mit klaren Wertvorstellungen. Von Anbeginn an hat sie sich bevorzugt mit den Heroen der Musikgeschichte und mit ihren Meisterwerken auseinandergesetzt. Dem Geheimnis einer Matthäus-Passion, einer Jupiter-Symphonie, einer Großen Fuge analytisch auf die Spur zu kommen, gilt bis heute als eine der verdienstvollsten Aufgaben des Musikforschers. Ihr gegenüber verblaßt die Beschäftigung mit unbekannten Komponisten aus scheinbar weniger belangreichen Epochen der Musikgeschichte oft zu einer bloßen Pflichtaufgabe.

Die Musikwissenschaft ist darüber hinaus aber auch ein Gebiet mit deutlich markierten nationalen Grenzziehungen. Ebenfalls von Anbeginn an wurde die Grundlage jeder musikalischen Forschung – die Bereitstellung des Materials in Notenausgaben – als nationale Aufgabe verstanden. Die großen Gesamtausgaben des 19. Jahrhunderts – die Bach-Ausgabe in Berlin, die Couperin-Ausgabe in Paris oder die Purcell-Ausgabe in London – dienten allesamt dazu, sich des kulturellen Erbes als eines Mittels zur Abgrenzung und zur Formulierung einer nationalen Identität zu bedienen. Von isolierten Ausnahmen abgesehen hat sich daran bis heute nichts geändert: Monteverdi wird in Italien ediert, Debussy in Frankreich, Weber in Deutschland. Stillschweigend werden dabei auch solche Komponisten vereinnahmt, deren nationale Zugehörigkeit eher fragwürdig ist: So erscheint die neue Händel-Ausgabe in Halle, obwohl der achtzehnjährige Händel nichts Eiligeres zu tun hatte, als seine Heimatstadt auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, und mehr als ein halbes Jahrhundert in Italien sowie, zuletzt gar als englischer Staatsbürger, in London lebte. Und auch Christoph Willibald Gluck, geboren auf dem Territorium des heutigen Tschechien und in Italien, Wien und Paris mit italienischen und französischen Opern zu Ruhm gekommen, wird in Deutschland ediert – wohl weniger wegen seiner vereinzelten Vertonungen deutscher Texte als vielmehr aufgrund der Tatsache, daß seine Muttersprache Deutsch war. Händel und Gluck gelten freilich als Klassiker einer wie auch immer definierten "deutschen" Kultur. Diesen Rang können andere Komponisten mit ähnlich internationalem Werdegang nicht für sich verbuchen. Sie fallen durch das Raster eines musikalischen Geschichtsbildes, das geprägt ist von einer Vorstellung von Zentrum und Peripherie, von Fortschritt und Verfall, von Meistern und Kleinmeistern.

Unbekanntes Oeuvre

Giovanni Valentini, dem das Musikwissenschaftliche Seminar kürzlich ein Symposium widmete, ist einer von ihnen – und dazu vielleicht einer der erstaunlichsten Fälle von ahnungslos tradierter Geringschätzung eines weitgehend unbekannten Oeuvres von (wie sich bei genauerem Hinsehen erweist) höchster kompositorischer Qualität. Valentini widerfuhr gleichsam das Mißgeschick, in einer Zeit zu leben, in der die Position des "großen Meisters" von seiten der Musikwissenschaft bereits für andere vergeben war, dazu einem Herrn zu dienen, der in der Geschichtsschreibung als Erzreaktionär gilt, und seine Kunst in einem Genre zu entfalten, das, aus der historischen Perspektive heraus betrachtet, bereits dem Untergang und der Ablösung durch "modernere" Gattungen geweiht war. Als Italiener, der Italien verließ, noch bevor er sich als Musiker einen Namen gemacht hatte, der in Polen, Graz und Wien wirkte, fühlt sich zudem keine "nationale" Geschichtsschreibung für ihn verantwortlich. In den einschlägigen Lexika, die ohnedies die nahezu einzige Quelle für Informationen über Valentini darstellen, wird dieser regelmäßig als "konservativ" apostrophiert – für eine vornehmlich an satztechnischer Entwicklung interessierte Musikwissenschaft nicht gerade ein Anreiz, sich der Mühe einer eigenen Edition als Voraussetzung für das Studium der Musik zu unterziehen. Gerade diese ohne Kenntnis des Werkes getroffene Feststellung aber erweist sich bei näherer Betrachtung als signifikant unzutreffend – in einer Weise, die nicht nur das Bild von Valentini zu korrigieren hat, sondern auch Anlaß gibt, über den konkreten Gegenstand hinaus grundsätzliche methodische Fragen, die Musikgeschichtsschreibung betreffend, neu zu überdenken.

Um 1582 geboren und 1649 gestorben, ist Giovanni Valentini ein unwesentlich jüngerer Zeitgenosse Claudio Monteverdis – jenes großen italienischen Meisters, dessen epochemachendes Werk alles andere, was auf demselben Gebiet entstand, in den Schatten zu stellen scheint. Und er ist, wenn auch deutlich früher gestorben, ein Zeitgenosse von Heinrich Schütz – dem anderen der überragenden Komponisten aus der Musikgeschichte des 17. Jahrhunderts. Beiden ist Valentini verbunden; die Beziehung zu Heinrich Schütz ist dabei eher äußerer, biographischer Natur, während die Affinität zu Monteverdi sich vielmehr im Künstlerischen, in dem gemeinsamen Interesse an bestimmten kompositorischen Fragen, in ähnlichen Lösungen musikalischer Aufgaben manifestiert. Wie Schütz einige Jahre nach ihm studierte Valentini bei Giovanni Gabrieli, dem europaweit berühmten Markuskapellmeister in Venedig, und wie Schütz fand er seine berufliche Bestimmung als Kapellmeister eines deutschen Fürsten, dessen konfessionellen Führungsanspruch er mit seinen geistlichen Kompositionen unterstützte – Heinrich Schütz am protestantischen Hof in Dresden, Valentini am katholischen Kaiserhof in Wien.

Abgesehen von der lange nach seinem Tod formulierten Bemerkung über Gabrieli wissen wir über Valentinis Herkunft, seine Jugend und Ausbildung nichts. Erst im Alter von mehr als zwanzig Jahren tritt er als Organist und Komponist am polnischen Hof ins Licht der Überlieferung. Seine Anstellung in der Hofkapelle Zygmunds III. ist um so bemerkenswerter, als der polnische König seine italienischen Musiker bevorzugt aus Rom rekrutierte. Hätte Valentini also tatsächlich in Venedig studiert, so müßte er den Agenten des Königs in besonderer, eine Ausnahme rechtfertigender Weise aufgefallen sein. Zehn Jahre, von 1604 bis 1614, wirkte Valentini in der polnischen Hofkapelle, bevor er in die Dienste Erzherzog Ferdinands von der Steiermark trat und damit seinem Leben die entscheidende Wende gab. Mit seinem neuen Herrn, der 1619 als Ferdinand II. habsburgischer Kaiser wurde, übersiedelte er 1619 nach Wien; 1626 übernahm er das Amt des Hofkapellmeisters, das er 23 lange Jahre bis zu seinem Tod innehatte. Als Ferdinand II. 1637 starb und sein Sohn als Ferdinand III. den Kaiserthron bestieg, hätte dies normalerweise seine Entlassung bedeutet, denn jeder Herrscher setzte in der Regel seinen eigenen Kapellmeister an die Spitze der Hofkapelle; kein Geringerer als Claudio Monteverdi hatte dies schmerzlich erfahren müssen, als er nach dem Tode seines Herrn Vincenzo Gonzaga von dessen Sohn ohne Begründung und von heute auf morgen buchstäblich auf die Straße gesetzt worden war. Doch der musikliebende Ferdinand III., dem Valentini Kompositionsunterricht gegeben hatte, bestätigte, allen Gepflogenheiten zum Trotz, den mit mehr als fünfzig Jahren bereits durchaus betagten Kapellmeister seines Vaters im Amt. Hochgeehrt und wohlhabend starb Valentini 1649, ein Jahr nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, in seinem Haus nahe der Hofburg im Kreise seiner Familie.

Geschmeidiger Hofmann, geschickter Verhandler

Kein Portrait ist von Valentini überliefert, keine private Äußerung, nur wenige archivalische Fakten. Es fällt schwer, sich eine Vorstellung von der Persönlichkeit dieses Komponisten zu machen, der eines der höchsten musikalischen Ämter seiner Zeit bekleidete. Und dennoch lassen einige Indizien das Bild eines außergewöhnlichen Musikers, eines geschmeidigen Hofmannes und geschickten Verhandlers, vielleicht aber auch einfach eines liebenswürdigen und mit Sicherheit hochgebildeten Menschen entstehen. Für sich selbst, aber auch für die Mitglieder der Hofkapelle, erwirkte Valentini umfangreiche Gehaltserhöhungen. Mehrere exorbitant hohe Sonderzuwendungen aus der Schatulle beider Kaiser, die letzte nach seinem Tod an seine Witwe, zeugen von der außerordentlichen, über Jahrzehnte ungetrübten Wertschätzung, die Valentini bei seinen Herren genoß. Die wichtigsten Antworten auf die Frage nach seiner Persönlichkeit aber müssen seine Werke geben; dabei kommt einiges Überraschende zutage.

Auffällig ist zunächst, daß Valentini nicht nur als Komponist, sondern auch als Dichter Reputation genoß – eine wenn auch nicht ungewöhnliche, so doch keineswegs häufige Kombination. Neben mehreren in den vierziger Jahren gedruckten Sammlungen volkssprachlicher geistlicher Lyrik sind einige lateinische Dichtungen, darunter ein Anagramm über den Namen Jesu überliefert; außerdem vier geistliche dramatische Passionsdichtungen einer besonderen Art, wie sie sich später im Jahrhundert unter dem Gattungsnamen "Sepolcro" als eine spezifisch Wiener Form des Oratoriums etablieren sollten. Alle diese Dichtungen zeugen von einer ungewöhnlichen religiösen Inbrunst, die – sei sie nun echt oder dem Kaiser der militanten Gegenreformation nach dem Munde geredet – zumindest einen Hinweis auf die Wurzeln der engen Beziehung zu Ferdinand II. und seinem Sohn gibt. Auffällig ist weiterhin, daß Valentinis musikalische Veröffentlichungen, die zwischen 1609 und 1625 reichlich flossen, mit seiner Bestallung zum Hofkapellmeister 1626 abrupt enden, während die Dichtungen ausnahmslos nach diesem Datum gedruckt wurden. Im Falle der weltlichen Werke mag dies nicht verwundern; Ferdinand II., dessen durchaus freigeistiger Grazer Musenhof sich unter dem Einfluß der konfessionellen Auseinandersetzungen des beginnenden Dreißigjährigen Krieges in Wien zu einem kulturellen Brennpunkt der Gegenreformation wandelte, mag nicht zuletzt aus politischen Erwägungen heraus zumindest in seinem direkten Umfeld auf so leidenschaftlich schmachtende, aber auch so ausgelassene und frivole Stücke verzichtet haben, wie sie in den vier zwischen 1616 und 1622 gedruckten Sammlungen weltlicher Vokalmusik von Valentini zu finden sind.

Für die geistlichen Veröffentlichungen, deren letzte und den persönlichen Geschmack des Kaisers vielleicht am deutlichsten reflektierende aus dem Jahre 1625 stammt, bedarf es einer anderen Erklärung. Denn daß Valentini als Hofkapellmeister nicht mehr komponiert hätte, würde nicht nur jeder Regel widersprechen, sondern läßt sich auch anhand der zahlreichen handschriftlich überlieferten Kompositionen aus der Zeit nach 1626 widerlegen. Möglich wäre auch, daß Valentini, einmal zum Hofkapellmeister arriviert, es nicht mehr nötig gehabt hätte, sich der Öffentlichkeit mit neuen Publikationen zu empfehlen. Auch dies ist eher unwahrscheinlich, denn Ferdinand II. wie auch sein Sohn hatten großes Interesse daran, als Widmungsträger in Musikdrucken zu erscheinen und mit diesem Mäzenatentum zielgerichtete Kulturpolitik zu treiben; 1638 etwa, sechzehn Jahre nach Valentinis letzter weltlicher Veröffentlichung, erschien Claudio Monteverdis VIII. Madrigalbuch im Druck, gleichsam eine Summe seines weltlichen Schaffens, die ursprünglich Ferdinand II. gewidmet war und wegen dessen Tod auf Ferdinand III. umgewidmet wurde – ein weiteres Beispiel für die Kontinuität der Musikpflege und für das fortbestehende Interesse beider Kaiser an weltlichen Werken. Für Valentinis öffentliches Verstummen muß es einen anderen Grund geben: Es scheint, als habe die Musik des Hofkapellmeisters mit Bedacht und auf Wunsch des Kaisers kein Gegenstand öffentlichen Interesses mehr sein dürfen, um die Exklusivität der kaiserlichen Hofmusik zu wahren und vor Nachahmung zu schützen. Die Musikgeschichte kennt mehrere Fälle solcherart exklusiver, nur wenigen Auserwählten zugänglicher und deshalb ins Mythische entrückter Kunst; die bekanntesten Beispiele sind die "Concerto delle Donne" genannten drei Sopran-Virtuosinnen am Hof Alfonsos II. in Ferrara und Gregorio Allegris Miserere für die Sixtinische Kapelle, das erst der junge Mozart mehr als ein Jahrhundert später "entzauberte", indem er es nach einmaligem Hören aus dem Kopf niederschrieb.

Welcher Art aber war diese Musik Valentinis, die beide Kaiser so sehr schätzten, daß sie sie ganz für sich behalten wollten? Und wie geriet seine Musik in den Ruf, konservativ zu sein, obwohl doch kaum jemand sie je studiert hatte? Das Jahr 1600 gilt in der Musikwissenschaft als eine Epochenzäsur, deren musikgeschichtliche Bedeutung nur mit historischen Wendepunkten wie 1492 oder 1789 verglichen werden kann. Diese einzigartige Prominenz verdankt es zwei Gattungen, die im Jahre 1600 erstmals in gedruckter Form verbreitet wurden, und die bis heute im Musikleben den Ton angeben: die Oper und das Oratorium. In beiden Gattungen stand das Individuum im Zentrum der Aufmerksamkeit. Anders als im polyphonen Madrigal, das die Worte eines Einzelnen – etwa die Liebesklage eines Hirten – in musikalische Mehrstimmigkeit umsetzte und auf diese Weise gleichsam "entpersönlichte", verschmolzen Darsteller und dargestellte Person in den neuen dramatischen Gattungen nun zu einer Einheit. Der akkordbegleitete Sologesang, über Jahrhunderte der epischen Rezitation, also dem musikalischen Geschichtenerzählen gleichsam aus der emotionalen Distanz der dritten Person heraus vorbehalten, verband sich mit der ursprünglich dem polyphonen Madrigal eigenen Idee des musikalischen Affektausdrucks. Aus der affektiven Textdarstellung in der Mehrstimmigkeit entwickelte sich die dramatische Menschendarstellung im Sologesang.

Diese neue Idee löste eine musikalische Entwicklung mit epochalen Konsequenzen aus. Glaubte man freilich der älteren Musikgeschichtsschreibung, so hätte der Sologesang alle bestehenden Formen der Vokalmusik hinweggefegt. Der Siegeszug der Oper und der Kammerarie hätte dem Madrigal gleichsam die Daseinsgrundlage entzogen, und dieses hätte sich nach einigen Jahrzehnten uninspirierten Dahinsiechens aus dem Konzert der musikalischen Gattungen für immer verabschiedet. Weder das eine noch das andere ist wahr. Die Oper benötigte fast ein halbes Jahrhundert, um sich als feste Größe im Musikleben ihrer Zeit zu etablieren, und das Madrigal wie überhaupt die mehrstimmige Vokalmusik erlebte nach 1600 eine Blüte und eine schöpferische Weiterentwicklung, die jede Behauptung vom Niedergang der Gattung ins Reich der Fabel verweist. Mehr noch: Das Madrigal und seine "Capriccio", "Bizzarrie", "Concerti" oder schlicht "Musiche" genannten mehrstimmigen Verwandten sollten sich als eine Art Werkstatt für generelle musikalische Entwicklungen sowohl im Ausdruck wie auch in der Satztechnik qualifizieren. Und bevor das Oratorium überhaupt eine tragfähige Form gefunden hatte, bildeten die Komponisten in der geistlichen Mehrstimmigkeit eine Musiksprache weiter, die sich in ihrer emotionalen Ausdruckskraft der weltlichen Musik annäherte, in ihrem inbrünstigen Gottvertrauen aber eine durchaus eigene musikalische Gefaßtheit erreichen konnte, die den hektischen Gefühlsausbrüchen der weltlichen Musik abging.

Welch maßgebliche Rolle das Madrigal nach 1600 spielte, läßt sich nicht zuletzt an den wichtigsten Leitworten ablesen, die die ästhetische Diskussion um die Zukunft des Komponierens in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beherrschten – allen voran die viel- (und meist falsch) zitierte "Seconda pratica": Claudio Monteverdi beschrieb damit im Vorwort seines 1605 veröffentlichten V. Madrigalbuches nicht etwa den neuen dramatischen Sologesang, sondern eine unübliche, die Regeln des Kontrapunktes um eines gesteigerten Affektausdruckes und der spontanen Erschütterung willen gezielt mißachtende Kompositionsweise innerhalb des polyphonen Madrigals. Und auch das "genere concitato", mit dem Monteverdi die Affektbreite der Musik um das alte pyrrhichische Versmaß, um die äußerste, gleichsam kriegerische Erregung zu erweitern trachtete, wurde im Vorwort eines Madrigalbuches (des VIII., Kaiser Ferdinand III. gewidmeten von 1638) formuliert.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorwurf, Giovanni Valentini sei ein konservativer Komponist gewesen, in einem neuen Licht. Die dieses Urteil fällten, schlossen offensichtlich von der Form auf den Inhalt: Valentini komponierte weder Opern noch Oratorien, und wenn er die geistlichen Spiele, die er verfaßte, auch selbst vertonte, so ist diese Musik verloren und entzieht sich damit einer Beurteilung. Statt dessen blieb er den überkommenen Gattungen treu – dem Madrigal und der Motette, deren Zeit angeblich, in Wirklichkeit aber keineswegs abgelaufen war. In diesem Sinne kann Valentini also tatsächlich als Konservativer bezeichnet werden. Doch wer daraus schließt, daß auch seine Musik rückwärtsgewandt sei, sieht sich bei genauerem Studium eines Besseren belehrt.

Denn welch ein Reichtum an musikalischen Gedanken, an satztechnischem Können. Welch unbegreifliche Schönheit einer Musik, mit der sich ein militanter Kaiser in Zeiten des Krieges umgab. Und schließlich: Welch ungeahnte Modernität der musikalischen Konzeptionen in der großen Form wie im kompositorischen Detail. In dem großen musikalischen Laboratorium, das das 17. Jahrhundert für den Übergang von der Modalität zur harmonischen Tonalität, von den linearen zu den zyklischen Formen, von der textgezeugten zu einer rein musikalisch erfundenen Motivik darstellt, gehört Valentini zu den Vordenkern. Zeitgleich mit Monteverdi, das heißt im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts, entwickelt er jene Ritornellformen im Madrigal und in der Motette, die den traditionellen Gattungen einen Modernisierungsschub mit weitreichenden Folgen auch für die Soloarie geben. Ebenfalls wohl zeitgleich (bei Monteverdi klafft oft eine große Lücke zwischen Entstehung und Veröffentlichung einer Komposition) gibt er dem Madrigale concertato, einer aus Vokal- und Instrumentalstimmen gemischten Besetzung, eine eigene Physiognomie, bei der die Instrumentalstimmen einen individuellen, von der Vokalmelodie gänzlich unabhängigen Duktus erhalten, und entwickelt auf diese Weise die übliche gemischtbesetzte Aufführung eines für Stimmen komponierten polyphonen Madrigals schöpferisch und idiomatisch weiter. Die allzu enge "madrigalische" Bindung der thematischen Erfindung an den jeweiligen Vers einer Textvorlage, die dazu führt, daß ein musikalischer Soggetto dem anderen nur gleichen kann, wenn ein Textgedanke im Gedicht noch einmal aufgegriffen wird, überwindet er, indem er die musikalische Erfindung vom Textverlauf löst und Soggetti schafft, die motivisch aufeinander bezogen und dennoch individuell verschieden sind. Wie Monteverdi erkennt er die besonderen Vorzüge ostinaten Komponierens nicht nur für die Formbildung, sondern auch für die inhaltliche Interpretation eines Textes – etwa, wenn er die schier endlosen Wiederholungen im Text der Lauretanischen Litanei durch ein ostinates Baßmodell betont und gleichzeitig jedes Textglied in der Melodiestimme anders gestaltet. Und wie Monteverdi hat er ein offenes Ohr für die "fremde" Musik, die man außerhalb der Paläste in den Gassen und Feldlagern hören kann, und scheut sich nicht, diese ohne Rücksicht auf die verbindliche Stilhöhenregel auch in seine Madrigale zu integrieren.

Die Frage, warum ein Komponist dieses künstlerischen Formats, dieses Einflusses auch auf die nachfolgende Generation, der Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft entgehen konnte, führt zurück zu den eingangs formulierten Überlegungen. Von Zufall allein kann dabei kaum die Rede sein; Komponisten wie Valentini, bei denen eine eindeutige nationale oder künstlerische Zuordnung Schwierigkeiten bereitet, finden seltener eine "Lobby". Dieses Schicksal teilt Valentini mit Zeitgenossen wie Biagio Marini, dem Italiener am Hof des Herzogs von der Pfalz-Neuburg, aber auch mit so bedeutenden Persönlichkeiten wie Agostino Steffani, dem kosmopolitischen Komponisten, Diplomaten und Bischof an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, mit Michael Haydn, der aus dem Blick der Nachwelt zwischen seinem Bruder Joseph Haydn und seinem Freund Wolfgang Mozart verschwand, oder mit Joseph Martin Kraus, dessen kurze Karriere zwischen Buchen im Odenwald und Stockholm ebenfalls nur lückenhaft aufgearbeitet ist.

Dazu kommt freilich, daß das 17. Jahrhundert derzeit in der akademischen Welt generell wenig Interesse findet. Im Reich und in Frankreich ein Jahrhundert konfessioneller Auseinandersetzungen und hegemonialer Kämpfe, in Italien eine Zeit wirtschaftlichen Niedergangs, ist es in der Kulturgeschichtsschreibung als Einbruch des Bizarren zwischen Renaissance und Aufklärung gebrandmarkt, als Jahrhundert des (hohlen) Pathos, der (schädlichen) Passionen, der (nichtigen) Vanitas, der Trugbilder und Labyrinthe – kurz, als ein Jammertal, in dem zu verweilen kaum lohnt. Zu Unrecht – so meine ich. Es mag der Geschichtswissenschaft vorbehalten bleiben, die Gegenwärtigkeit und Exemplarität eines Jahrhunderts zu erwägen, dessen erste Hälfte von einem dreißig Jahre währenden, alle Lebensgrundlagen in Frage stellenden Krieg und dessen zweite Hälfte von Stabilisierung bis hin zur Stagnation, gefährdet vor allem durch eine islamische Bedrohung, geprägt ist.

Für eine Musikgeschichtsschreibung, die sich als Teil einer allgemeinen Historiographie begreift, bieten Persönlichkeiten wie Giovanni Valentini Anlaß, ihre Sicht des 17. Jahrhunderts wie auch ihren methodischen Zugriff auf die Musikgeschichte generell neu zu überdenken. Statt sich um nationale Stilunterschiede zu sorgen, wie es derzeit vornehmlich in der Forschung zum 17. Jahrhundert – aber nicht nur dort – Mode ist, könnte die Musikgeschichte dieses Jahrhunderts, aus einer europäischen Perspektive heraus betrachtet, durchaus eine Vorbildfunktion bekommen: Giovanni Valentini ist nur einer von zahlreichen Musikern, die in ganz Europa zu Hause sind, die von Italien nach Polen, von England nach Brandenburg, von Salzburg nach Paris, von Spanien nach Rom, von Venedig nach Wien, von Leipzig nach Venedig ziehen, Komponisten, die italienische Vokalmusik mit instrumentalen Elementen aus dem Balkan vermengen, die die Musik der Herren und der Diener so gleich behandeln, als gäbe es keine Standesunterschiede, deren "katholische" Kirchenmusik von protestantischen Komponisten kopiert und für den protestantischen Gottesdienst aufbereitet wird. Diesen fast anarchischen, jeder konfessionellen, ständischen oder gar nationalen Ordnung hohns sprechenden Aspekt des europäischen Musiklebens stärker ins Blickfeld zu rücken, statt im Wiener Hofkomponisten den Italiener zu suchen, könnte nicht nur der Musikwissenschaft neue kompositionsgeschichtliche Einsichten vermitteln, sondern vielleicht auch darüber hinaus dem durch seine politischen Handlungen festgeschriebenen Bild so manchen Herrschers anhand seiner kulturellen – etwa musikalischen und literarischen – Vorlieben neue Facetten hinzufügen.

Autorin:
Professor Dr. Silke Leopold
Musikwissenschaftliches Seminar, Augustinergasse 7, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 27 81

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