Süditalien - Dialekte im Wandel
Mundarten seien im Aussterben begriffen, klagten die Verfasser italienischer Dialektwörterbücher schon im 19. Jahrhundert. In der Tat spricht heute wohl kein Italiener mehr ausschließlich den Dialekt seiner Region, ohne die Hochsprache zu verstehen. Doch bei ihrem Ortstermin mit Mikrophon und Bleistift machten Edgar Radtke und seine Mitarbeiter eine erstaunliche Entdeckung: In Neapel gewinnt die Kenntnis der heimatlichen Mundart gerade bei der jüngeren Generation wieder an Bedeutung, wird zu einer Frage des Prestiges. Am Romanischen Seminar werden die Dialekte Kampaniens nun in einem regionalen Sprachatlas zusammengetragen und der Wandel der Mundarten dokumentiert.
Die Schriftstellerin Esperance von Schwartz und zeitweilige Geliebte des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi schildert unter ihrem Pseudonym Elpis Melena in ihrer Reisebeschreibung Blick auf Calabrien und die Liparischen Inseln im Jahre 1860 ihre Ankunft im Hafen von Neapel folgendermaßen: "Eine Barke führte mich und meinen Reisegefährten, den Kapitän D..., nach der Dogana, deren öde Räume sich bei unsrer Ankunft bald mit einer Unzahl von Offizianten höheren oder niederen Ranges anfüllten. - "Abride, abride," sagte mir Einer auf das Gepäck deutend, - "Non Signore, mo non c'è chiù dogana, u re ci ha dado la cosdiduzione," intervenirte ein Anderer, einem Facchino meinen Koffer hastig wieder aufladend, - "nò, mo abbiamo u Garibardi, u Didadore, ma per la forma bisogna abrire," versetzte ein Dritter peremptorisch [...], so daß wir nach flüchtiger Untersuchung und nach dem Zahlen des üblichen Tributs die Dogana mit der Ueberzeugung verließen, daß ihre Beamten nicht eben die klarsten Begriffe von den gegenwärtigen politischen Errungenschaften hatten."
Ungeachtet der fragwürdigen Authentizität dieser Textstelle spielt sie für den heutigen Dialektologen und Soziolinguisten auf wesentliche Aufgabenbereiche der wissenschaftlichen Beschreibung sprachlicher Variation in der Region Kampanien an: Zum Zeitpunkt der politischen Einigung 1860/61 ist in Neapel nicht das Italienische, sondern der neapolitanische Dialekt die offiziell verwendete sprachliche Varietät in der Verwaltung auch gegenüber Fremden. Die dialektalen Merkmale wie die Lenisierung von p zu b und t zu d, abride statt aprite, öffnet, sind augenfällig und werden als verständlich angesehen. Der Dialekt wird auch in hochsprachlichen Bereichen verwendet, zum Beispiel didadore, "dittatore", Diktator, oder cosdiduzione, "costituzione", Verfassung, so daß ein besonderes Regionalitalienisch wiedergegeben wird. Kein Dialektsprecher würde die Worte dittatore oder costituzione mundartlich gebrauchen. Die Dynamik solcher Varietätenverwendungen ist mitgeprägt von den sprachexternen Faktoren der politischen Einigung, die in die Sprachgeschichte massiv eingreifen. Von daher kommt der Passage als Spiegel der sprachlichen Verhältnisse im neapolitanischen Raum nicht nur eine anekdotische Bedeutung zu, sondern sie enthält im Kern die Problematik der Erfassung der sprachlichen Variation. Im Grunde hat die wissenschaftliche Dialektologie in Italien eine ehrwürdige Tradition mit beachtlichen Forschungsergebnissen aufzuweisen, was für Süditalien allerdings nur bedingt gilt. Die Region Kampanien ist dabei besonders stiefmütterlich behandelt worden, so daß hier eine umfassende linguistische Aufarbeitung seit langem geboten ist. Darum konzentriert sich die Heidelberger Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit der Universität Neapel seit 1990 auf die bislang lückenhafte Dokumentation der Dialekte in der gesamten Region Kampanien und auf die Beschreibung von Verwendungsweisen sprachlicher Varietäten. Andreas Michel, Emma Milano, Stefania Raucci, sowie die studentischen Mitarbeiter Claudia Franzese, Fabrizia Venuta, Marcella Schlegel und Sandra Fischer dokumentieren die Sprach- und Dialektverwendung. Gefördert durch das Vigoni-Programm erfassen wir den Dialekt durch Befragungen vor Ort auf der Grundlage eines Fragebuchs und freier Konversation. Die Tonaufnahmen werden dann in Heidelberg auf der Grundlage der Internationalen Lautschrift transkribiert und die Formen in einem Atlas der Region Kampanien angeordnet, damit sie untereinander vergleichbar sind.
Daneben untersuchen wir die Beschreibung des Wechselverhältnisses von Sprache und Dialekt, zumal die gegenwärtig ablaufende Italianisierungsphase die Sprachverwendung neu ordnet. Die ersten Prä-Enquêten der auf sechs Jahre angelegten Untersuchung sind erfolgreich verlaufen, so daß inzwischen mit der systematischen Befragung begonnen werden konnte. Von italienischer Seite werden die Arbeitsprozesse komplementär in Neapel ergänzt, unter Leitung der Soziolinguistin Professor Rosanna Sornicola, wobei dort die Beschreibung des Regionalitalienischen stärker im Mittelpunkt steht. Die bilaterale Verknüpfung zur Projektdurchführung ermöglicht eine bessere Kontrolle des Aufnahmeverfahrens und wirkt einer von außen eingesetzten "kolonialistischen" Dialektologie entgegen.
Um Dialektdaten zu gewinnen, bietet sich die eingeführte Verfahrensweise der Geolinguistik an, den Dialekt mittels eines Fragebuchs in Interviewform zu erfragen und zu erfassen. Die gleichartig verlaufenden Explorationen liefern das sprachliche Material, das transkribiert und kartographiert werden soll, so daß der Dialektstand einzelner Aufnahmeorte verglichen werden kann. Das Verfahren hat sich in der italienischen Geolinguistik seit dem Erscheinen des Sprach-und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, AIS, Zofingen 1928-40, von Karl Jaberg und Jakob Jud bestens bewährt. Der AIS ist großräumig angelegt, er erfaßt das Terrain der gesamten Nation. Dem steht ein kleinräumiges Atlasprojekt entgegen, das mikroskopisch die Mundart einer Region dokumentiert, sozusagen ein vergrößerter Ausschnitt eines Großraumatlasses. Die Einzelregion ist also bereits im großräumigen AIS enthalten. Warum wird aber ein kleinräumiger Sprachatlas für eine einzelne Region dann überhaupt noch angestrebt?
Die Gründe dafür sind mannigfach: Der Dialekt ist eine sprachliche Varietät von begrenzter räumlicher Reichweite. In der heutigen Gesellschaft begegnen wir kaum noch Sprechern, die ausschließlich, das heißt ohne Kenntnis der italienischen Nationalsprache, den Dialekt verwenden. Die romantische Vorstellung vom "reinen", vom Kontakt mit der Nationalsprache unberührten, Dialekt ist damit hinfällig. Von daher muß der Dialektologe auch ein neues Prinzip für die Beschreibung der Mundart einführen. Die traditionelle Dialektologie richtet ihr Augenmerk auf die archaischste, konservativste Dialektschicht, den sogenannten Basisdialekt. Hingegen sollte sich eine Dialektologie, die sich an den ursprünglichen Begriff von Dialekt anlehnt, als allgemeine Variationswissenschaft definieren und somit auch der Beschreibung der zunehmenden Italianisierung der kampanischen Einzeldialekte, also dem Dialektwandel Rechnung tragen. Deshalb können wir nicht länger vorzugsweise ältere Sprecher aus sozial niederen Schichten mit großer Ortsloyalität als Informanten heranziehen. Sondern ein Aufnahmeort wird, statt von einem Informanten, von mindestens vier bis maximal sechs Sprechern repräsentiert, ausgewählt nach alters- und geschlechtsspezifischen Kriterien sowie nach sozialer Gruppierung. Dem trägt die Dokumentation Rechnung, so daß ein solcher Regionalatlas nicht mehr wie früher monostratisch, sondern nunmehr polystratisch konzipiert ist. Mit anderen Worten: Die von der Soziolinguistik eingeführten nicht an die Region gebundenen Differenzierungskriterien sprachlicher Variation, wie Alter, Geschlecht oder soziale Rolle, werden zur diatopischen Variation in Bezug gesetzt.
Wichtig ist das Atlasprojekt auch, weil die Enquêten zum AIS mehr als siebzig Jahre zurückliegen, so daß die italienische Sprachwissenschaft die dialektale Variation anhand veralteten Materials beurteilt. Zwar sind die italienischen Fachkollegen Ugo Pellis und Matteo Bartoli schon vor dem Ersten Weltkrieg der Idee eines nationalen Atlante Linguistico Italiano, ALI, nachgegangen, aber die Aufnahmen zogen sich bis in die 60er Jahre hin, und die zigtausend Karteikarten im Turiner Archiv werden wohl kaum jemals publiziert werden. Bereits 1972-1986 publizierte Giovan Battista Pellegrini, Padua, den ersten Regionalatlas Atlante Storico- Linguistico-Etnografico Friulano, ASLEF. Nach dieser Pioniertat scheint besonders das von Giovanni Ruffino, Palermo, in Angriff genommene Projekt des Atlante Linguistico Siciliano, ALS, am weitesten gediehen. Kampanien gehört bisher zu den am meisten vernachlässigten Grauzonen, die es in der italienischen Dialektologie systematisch aufzuarbeiten gilt. Die aufgezeigten Grundlinien orientieren sich an einer empirischen Vorgehensweise, die auf der Ebene der Dokumentation vor allem die Datenerfassung und -auswahl, Transkriptionsverfahren und -systeme sowie die Verbindung von Sprach- und Ethnodaten systematisch in neue methodische Perspektiven einplant. Neben dem grundsätzlichen Erkenntnisinteresse für die Dialektologie steht der spezifische Kenntniszugewinn im konkreten Fall. Einige ausgewählte Fallbeispiele sollen erste Arbeitsergebnisse vorstellen, die die Notwendigkeit und Bedeutung der dialektalen Variationserfassung unterstreichen.
In Süditalien haben sich drei Siedlungsgebiete erhalten, die unmißverständlich auf galloitalienische Sprachkolonien ursprünglich aus dem Raum Monferrato und Ligurien aus dem Mittelalter zurückgehen. Neben Sizilien und Lukanien besteht die dritte Gruppe am Golf von Policastro aus den Orten Nèmoli, Rivello, San Costantino und Trécchina. Im südlichen Kampanien, im Cilento, waren solche norditalienischen Sprachkolonien bislang nicht ausfindig gemacht worden. Zwar hatte in den dreißiger Jahren Gerhard Rohlfs bei Sapri danach gesucht, aber Sprachproben in Torraca, etwa zehn Kilometer landeinwärts, ergaben keinerlei Anzeichen dafür. Indessen weist nach unseren Aufnahmen der nächste, vierzehn Kilometer entfernte Ort Tortorella unmißverständliche Züge norditalienischer Dialekte auf. Tortorella entdeckten wir übrigens rein zufällig, dank des Internationalen Sommerkurses für Deutsch an der Universität Heidelberg, wo wir für Probeaufnahmen potentielle Dialektsprecher aus Kampanien befragten. Dabei wies die Sprachprobe "Annalisa" trotz ihrer schwachen Dialektkompetenz Ungereimtheiten auf, die uns stutzig machten. Ihr Heimatort Tortorella wollte nicht in das erwartete Dialektprofil passen. Der sehr isoliert gelegene Ort am Rande des Monte Cocuzzo konnte als eindeutige norditalienische Sprachkolonie gedeutet werden. Zum Beispiel sind a sala, für "sale", Salz, a mela für "miele", Honig, a fela für "fiele", Galle, femininen Geschlechts wie in Teilen Norditaliens; die intervokalischen Plosiva p, t, k sonorisieren und schwinden gelegentlich sogar ganz, aus lateinisch pecora wurde peora, Schaf, aus "(so') ghiuto" / "sono andato", (so) jur , ich bin gegangen, aus "stomaco", stomag , Magen. Die Possessiva stehen vor den Nomina - mi frar gegenüber dem süditalienischen frat m , mein Bruder - Personalpronomina nach Präpositionen gehen aus dem lateinischen mihi, tibi statt aus me, te hervor wie bei cu ti für con te, mit dir. Damit haben wir erstmals nachweisen können, daß sich die mittelalterliche Besiedlung aus Norditalien auch auf den Cilento erstreckt hat. Unsere Untersuchungen fügen sich in eine umfassende topographische Ermittlung aller norditalienischen Sprachkolonien am Golfo di Policastro ein. Die Beschreibung einer norditalienischen Dialektkolonie führt aber bereits zu einem wesentlichen Problem der Dialektverwendung, dem wir vom methodischen Ansatz her Rechnung tragen. Die Dialektologen waren in der Vergangenheit darauf aus, den genuinen, "reinen" älteren Dialekt zu erfassen und bedienten sich dabei eines Modells, das für einen Begriff jeweils eine Form ansetzte. Dieser Monomorphismus vermerkt zum Beispiel für den Begriff "mein Bruder" mi frar als einzige notierenswerte Äquivalente an. Ein solches Verfahren verkürzt aber die sprachliche Wirklichkeit, denn bei genauerem Nachfragen wird auch in Tortorella das für Süditalien charakteristische frat m genannt. Oftmals begegnet man also zwei oder mehreren Formen, die nebeneinander existieren, so daß von einem Polymorphismus auszugehen ist, der bei Dialekten häufig ist, da sie historisch weitgehend von Normierungsprozessen ausgespart worden sind. Für die Koexistenz von mi frar und frat m bieten sich zweierlei Erklärungen an, die die Befragten im Gespräch gelegentlich selbst geben. Zum einen wissen ältere Sprecher, daß der Typus frat m von den umliegenden Gemeinden, hier von Torraca, nach Tortorella getragen worden ist. Somit verbreitet sich eine gemeinsame dialektale Basis, die die Mundart vereinheitlicht. Zum anderen ist das vorangestellte Possessivum als Altersspezifikum zu werten, das Sprecher über 40 Jahre bevorzugt verwenden. Mi frar kann also als eine regredierende Reliktform identifiziert werden. Daraus folgern wir, daß die dialektalen norditalienischen Züge im Abbau begriffen sind und zuerst von der jüngeren Generation aufgegeben werden. Überhaupt manifestiert sich der gegenwärtige Dialektwandel für Kampanien als Regression, wobei die Italianisierung der Dialekte die Dialekttiefe abbaut. Vor allem die städtische Leitvarietät von Neapel ist von dem Prozeß der Anpassung an die Hochsprache sehr stark betroffen, indem viele Dialektlexeme nur noch in der passiven Kompetenz vorhanden sind und nicht mehr aktiv verwendet werden, wie etwa im Fall von muccaturo, "Taschentuch", das sich in höheren Schichten immer schwerer gegenüber dem dialektalisierten Standardlexem fazzoletto behauptet. Neapel hat sicherlich Vorbildcharakter und der Anpassungsdruck an das Italienische, das durch die Schule oder die Massenmedien verbreitet wird, ist groß. So werden erstmals in Neapel gut dokumentierte Dialektformen als veraltet und vor allem als ländlich "cafonesco" empfunden wie zum Beispiel die Palatalisierung von mecco statt metto, ich setze, aspecco statt "aspetto", ich warte. In Wahrheit waren diese Formen aber auch in Neapel geläufig, sie sind dort nur abgewertet worden, weil sie zum Italienischen stärker kontrastieren. Dabei nimmt aspecco neue Funktionen wahr, indem es etwa räumlich neu gliedert, wie im Fall der Insel Capri, wo es als Schibbolethform gilt - als Erkennungszeichen für eine regionale Variante, wie sie in der Bibel, Buch der Richter 12,5, am Beispiel der Aussprache schibboleth: sibboleth als Paßwort beschrieben wurde -, da der Gebrauch inzwischen auf Anacapri eingeschränkt ist, oder als Generationsspezifikum den alten Dialekt repräsentiert. Ein Blick auf den AIS bestätigt, daß genuin neapolitanische Stadtformen wie der Hispanismus semana statt settimana, Woche, früher viel verbreiteter waren. So verkörpern etwa tata, "Vater", oder crai von lateinisch cras, "morgen", Spuren einer städtisch geschwundenen Dialektschicht, die auch auf dem Lande zunehmend im Rückzug begriffen ist. Als wir zum Beispiel nach vergeblichen Befragungen die Benennungen für die linke Hand streichen wollten - auch der AIS I,K.149, notiert "la mano sinistra", la mancina - nennt ein Fünfundachtzigjähriger in einem Weiler hinter Piano di Sorrento a man zmerts , eine nicht dokumentierte Form aus lateinisch ex- vertere in der Bedeutung von "umdrehen, verdrehen". Das Beispiel zeigt, daß selbst der Basisdialekt noch unzureichend erfaßt worden ist.
Der Dialekt wandelt sich jedoch nicht ausschließlich in Richtung Dialektabbau. Vielmehr ist in vielen sozialen Schichten die Vitalität des Dialektes ungebrochen, und die stereotype Klage von dem unmittelbar bevorstehenden Aussterben der Dialekte als Topos für die Rechtfertigung der Produktion der von Laien erstellten Wörterbücher seit dem 19. Jahrhundert hat diese Konstanz nicht beeinflussen können. Dies läßt sich sehr gut am Beispiel des sogenannten Rhotazismus erläutern. Darunter versteht man die Weiterentwicklung von d zu r, wie wir sie bereits aus der galloitalienischen Kolonie Tortorella kennen: zum Beispiel mi frar aus lateinisch fratem über frad zu frar . Die jüngste Entwicklung wird als herausgehobene Dialektalitätsmarkierung empfunden, weil sie eine weitergehende Distanz zur Hochsprache aufgebaut hat. Mit der Entwicklung von t zu r entfernt sich das Wort stärker von den toskanischen und somit standardsprachlichen Entsprechungen auf t, toskanisch fratello, im Dialekt frar ; das Empfinden, eine dialektale Form zu verwenden, ist damit deutlicher ausgeprägt als bei dialektal frat . Neben dem Rhotazismus hat sich aber die ältere Ausgangsform bewahren können, so daß ein bereits angesprochener Polymorphismus eine freie Variantenwahl von dicere und ricere aus lateinisch dicere, sagen, erlauben könnte. Nun zeigt sich aber, daß in der süditalienischen Dialektologie eine wirklich freie Variantenwahl nur äußerst selten anzunehmen ist. Vielmehr steuern außersprachliche Faktoren weitgehend die Wahl, hier zum Beispiel ist eine Prestigezuweisung ausschlaggebend. Noch in den 70er Jahren wurde von einem deutlichen Minderwertigkeitsgefühl im Sprecherbewußtsein für ganz Süditalien ausgegangen. Die mehr dialektale Form galt als besonders stigmatisiert, die r-Variation war stärker geächtet als die genealogisch ältere d-Variation. Daher mutet es bei unseren Aufnahmen wie ein Anachronismus an, daß die jüngeren Sprecher in Neapel die r-Variation häufiger verwenden als die älteren, während es im Hinterland der Golfregion umgekehrt ist. Man kann diesen Sachverhalt dahingehend interpretieren, daß erstmals im Sprecherbewußtsein dialektalen Merkmalen eine Prestigequalität zugewiesen wird, ein Novum in Süditalien. In dem Maße, wie sich das Standarditalienisch durchsetzt, scheint die Wertschätzung des Dialekts zu steigen.
Die innere Dynamik des Varietätengefüges in der Region Kampanien wirkt sich auch auf die Klassifikation der Dialektgruppe aus, die durch sogenannte Isoglossen gekennzeichnet werden. Allein schon die Annahme des Polymorphismus bei ein und demselben Sprecher relativiert eine eindeutige Grenzziehung. Ein Isoglossenbündel ist zudem ein artifizielles Konstrukt, das einen homogenen Dialekt voraussetzt. So ist die angenommene Trennlinie zum Norden bei Gaeta, die die Entwicklung von lateinisch pl- zu pj- oder kj- - lateinisch plus zu italienisch più, neapolitanisch chiù - als Kriterium ansetzt, nicht leicht zu bestimmen. Erst eine wie im geplanten Atlas generationsspezifische Kontrastierung zeigt mehrere Isoglossen, die die Bewegung der kj-/pj- Linie annähernd ordnet. Außerdem wirkt die Ausstrahlungskraft der Pole Rom und Neapel auf den Isoglossenverlauf ein. Unsere Befragungen erhärten den Verdacht, daß die kj- Zone mit höherer Dialektalität nicht zurückweicht, sondern sich behauptet, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu Neapel auch in der Dialektwahl zu manifestieren. Mit der Aufgabe des Postulats eines homogenen Basisdialekts werden die Klassifikationsraster zu korrigieren sein. Ein Regionalatlas wird dabei ein zuverlässiges Instrument darstellen, die makroskopische Sichtweise bei einem nationalen Großraumatlas entsprechend zu adjustieren dank mikroskopischer Feinabstimmungen, die den augenblicklichen Dialektwandel genauer beobachten und nachzeichnen.
Autor:
Prof. Dr. Edgar Radtke
Romanisches Seminar, Seminarstraße 3, 69117 Heidelberg,
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