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Zivilgesellschaft – Karriere eines Modebegriffs

Es gibt derzeit kaum einen Antrag auf Projektförderung in Ost- europa, der nicht das förderungswürdige Wort "Zivilgesellschaft" im Titel trüge: Die Vokabel ist zum Modebegriff avanciert. Klaus von Beyme vom Institut für Politische Wissenschaft betrachtet die ungewöhnliche Karriere des Begriffs, seine Bedeutung als normatives, nach Gerechtigkeit strebendes Gesellschaftskonzept und die Fortschritte auf dem Weg dorthin. Dabei besonders wichtig sind die Bürger, die "citizen", mit ihren verschiedenen rechtlichen, kulturell-nationalen, politischen und wohlfahrtsstaatlichen Rollen.

150 Jahre lang ging nach dem berühmten Diktum von Karl Marx ein Gespenst um in Europa – der Kommunismus. Dann kam es wie im Märchen. Der Bann löste sich, das Gespenst verschwand und an seine Stelle trat gleichsam eine gute Fee: die Zivilgesellschaft. Der Westen, der sich zunehmend in einem platten Neoliberalismus verstrickt hatte, schien plötzlich einen Ansatz für ein konsensfähiges normatives Konzept zu erhalten. Daß normative Konzepte über Nacht geschichtsmächtig werden können, haben die Vordenker der Zivilgesellschaft in der osteuropäischen Intelligencija erstmals vorexerziert. Der erstarrten Utopie eines real gewordenen Sozialismus wurde eine konkrete Utopie, die Zivilgesellschaft, entgegen gesetzt.
Die normative Theorie hat seit John Rawls eine Renaissance erfahren. Der Neo-Kontraktualismus als "Grammatik des wechselseitigen Anerkennungsmodus der Bürger", ist zivilgesellschaftlich geworden und verzichtet zunehmend auf ethnische oder staatliche souveränitätstheoretische Stützungslehren. Der postmoderne Konstruktivismus erlaubt es, die Vertragstheorie als gedankenexperimentelles Testverfahren einzusetzen, ohne historische Realitätsannahmen oder metaphysische Rechtfertigungslehren zu bemühen. In Konzeptionen der deliberativen und reflexiven Demokratie wird von einem individualistischen Ausgangspunkt die wechselseitige Anerkennung von Rechten und Pflichten der Bürger konstituiert. Die gegenseitige Verpflichtungsleistung ist dabei nicht nur prozedural-konventionalistisch abgesteckt. Seit Rawls sind minimale Vorstellungen einer materialen Gerechtigkeit mit dem Vertragsgedanken verbunden. Empirie und "normativ-prozedurales Ideal" nähern sich einander an, wenn die normativen Annahmen mit den Regeln einer Rational-Choice-Theorie oder gar der Spieltheorie zunehmend verbunden werden.
Kommunitarier und Neoliberale bekämpften einander in den 80er Jahren. Aber sie waren einig in der Ablehnung eines bloß empiristischen und antinormativen Bildes der Gesellschaft und ihrer Legitimation. Beide aber entwickelten divergente Begriffe von Zivilgesellschaft. Der Neoliberalismus war dabei anti- oder wenigstens minimalstaatlich gesonnen und legte den Akzent auf die bürgerliche Marktwirtschaft. Der Kommunitarismus hat die politische und kulturelle Dimension der Zivilgesellschaft stärker betont und den Staat als Katalysator von Bürgertugenden weniger abgelehnt. Nur selten gingen Neoliberale aber soweit wie die osteuropäischen Ziviltheoretiker, die den Staat schlechthin mit der pervertierten bürokratischen Herrschaft des Systems identifizierten. Da sie den Staat weder erobern noch moralisch verändern konnten, ließen sie ihn links liegen und absentierten sich in einem Konzept der "Antipolitik".
Wo das richtige Konzept eines Begriffs nicht konsensfähig ist, treten Heere von Rekonstruktionisten auf. Zivilgesellschaft als Begriff entstand mit der Herausbildung des absolutistischen Staates und im Kampf um Religionsfreiheit. Die alte Formel "Societas civilis sive politica" kannte keine Trennung von Staat, Religion und Gesellschaft. "Lo stato", der Staat, hat sich als Begriff erst in der Neuzeit langsam etabliert. Noch für Niccolò Machiavelli war er kein zentraler Begriff, wenn er auch betonte, daß ihm obliege "ragionare dello stato".
Bei Thomas Hobbes wurde durch den Vertrag eine politische Herrschaft konstituiert – nicht eine Gesellschaft, wie bei den Kontraktualisten, die eine zweistufige Entwicklung des Vertrages annahmen, wie John Locke. Für Locke war die absolute Monarchie mit der Civil Society nicht vereinbar. In der Formel "political or civil society" konnte immer noch auf eine Einheit von Staat und Gesellschaft geschlossen werden, aber dennoch unterschied er beide vom "Staat" und seinen "Gewalten". Civil society als Begriff bei Locke erlaubte jedenfalls nicht, den citizen, den tugendhaften citoyen, den "homme" als Träger von Menschenrechten und den "bourgeois" als wirtschaftendes egoistisches Individuum auseinander zu dividieren.
Zivilgesellschaft wurde in der empirischen Theoriegeschichte den jeweiligen nationalen Traditionen angepaßt. Nur in Deutschland erhielt die Dichotomie Staat und bürgerliche Gesellschaft, verbunden durch ständische intermediäre Organisationen in der Hegel-Schule ihren Ausdruck als resignative Akzeptierung eines Übergewichtes des Staatlichen. Erst in einer postmodernen Gesellschaft mit starker Individualisierung löste sich auch in Deutschland der Begriff aus der staatlichen Umklammerung und wurde zu einer Reflexionsform der modernen Ordnung, die ihre Stabilität und Legitimität aus sich selbst, das heißt aus den Interaktionsbeziehungen der individuellen Subjekte hervorbringt, und nicht mehr auf transzendente Tugendlehren zurückgreifen konnte. Diese Interaktionsbeziehungen haben in modernen diskursiven Tugendlehren die bloß passive Toleranz gegenüber den Mitmenschen zu verlassen versucht, wie sie in der Lockeschen Konzeption noch überwog und den aktiven partizipatorischen Einsatz für das Wohl der anderen postuliert.
Die Erneuerung der Bürgertugend sollte als Gegenmittel gegen die Fragmentierung der Politik eingesetzt werden. Bezeichnenderweise haben jedoch nur Immigranten in den USA wie Hannah Arendt oder Alasdair Mac-Intyre so direkt an antike Konzeptionen angeknüpft, daß sie in der Betätigung der Menschen als "bourgeois", als Wirtschaftsbürger, eine Gefahr für die Tugend der Bürger sahen. Vor allem in der deutschsprachigen Welt wurde gern hegelianisierend das Reich der Freiheit gegen das der Notwendigkeit ausgespielt.
Die osteuropäische Theorie der Zivilgesellschaft stand – wie ihr marxistisches Gegenbild – stark unter dem Einfluß dieser weltfremden intellektualistischen Weltauffassung. In Osteuropa mag dies eine läßliche Sünde gewesen sein. Der Anti-Realsozialismus der Freiheitsbewegung war hinreichend vom Fortschritts- und Periodisierungsschema des bekämpften Marxismus-Leninismus infiziert. Er wurde zur Verbesserung des Feinderlebnisses häufig als Stalinismus stilisiert, obwohl es sich längst um einen autoritären aber sklerotischen Poststalinismus handelte. Eine bloße Rückkehr zum "Kapitalismus" war unerwünscht. Träume vom "Dritten Weg" zwischen den Gesellschaftsformationen breiteten sich aus. Aber auch die westlichen Diskursethiker wie Jürgen Habermas hatten noch teil an der antiökonomischen Tendenz des zivilgesellschaftlichen Denkens. Das starre Basis-Überbau-Schema der Marxisten war längst dem flexiblen Lebenswelt-System-Antagonismus gewichen. Aber die Primärgruppen-Kommunikation der Lebenswelt blieb antiwirtschaftlich. Denn Wirtschaft drängt nach Globalisierung und befördert die Prozesse der Kolonialisierung von Lebenswelt durch Kommerzialisierung; indirekt auch durch Bürokratisierung und Verrechtlichung der Lebensbeziehungen.
Wenn in Anlehnung an Jean Cohen und Andrew Arato ein Substrat der Zivilgesellschaft gesucht wurde, kamen allenfalls die Organisationen in Frage, die nicht der Wirtschaft dienten, und ihre zivilgesellschaftliche Basis in der Lebenswelt hatten. Pluralität, Privatheit und Legalität waren die gewünschten Merkmale. Niklas Luhmann meinte zwar, daß die Betonung von Zivilgesellschaft und Citizenship nicht so sehr gegen wirtschaftliche Interessen ausgespielt werde, sondern in breiter Front gegen Organisationen gerichtet sei, weil Organisationen der Interdependenzunterbrechung in Funktionssystemen dienten. Aber gerade nach der Entdeckung der Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaates durch Habermas kann ihm eine generelle Organisationsfeindschaft nicht mehr unterstellt werden. Lediglich einige frühe neue soziale Bewegungen haben sich noch so vernehmen lassen, als ob sie die Gesellschaft gegen den Staat mobilisieren müßten. Parteien als intermediäre Organisationen zwischen Zivilgesellschaft und Politik hatten bei Habermas eine wichtige Mittlerfunktion. Aber den Kern der Zivilgesellschaft können nur jene nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis "bilden, die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit in der Gesellschaftskomponente Lebenswelt verankern". Advokatorisch-humanitäre Organisationen haben nach dieser Konzeption die größeren Aussichten zivilgesellschaftlich zu bleiben. Er setzt sich bewußt von Marx ab, der noch die privatrechtlich konstituierte Ökonomie in die bürgerliche Gesellschaft einschloß.
Keine Organisation ist freilich ein für alle Mal zivilgesellschaftlich. Je mehr in privaten Lebensbereichen die vergesellschaftende Kraft kommunikativen Handelns erlahmte, desto leichter lassen sich die "isolierten und entfremdeten Akteure in der beschlagnahmten Öffentlichkeit massenhaft formieren". Hier schimmerte ein Jargon der Hegelschule noch einmal durch. Zivilgesellschaft ist hochgradig gefährdet durch:
– populistische Bewegungen, die verhärtete Traditionsbestände einer von kapitalistischer Modernisierung gefährdeten Lebenswelt blind verteidigen;
– die "kommunikativ verflüssigte Souveränität des Volkes" muß auf Einfluß beschränkt bleiben und sollte nicht Macht erwerben;
– Vorstellungen einer sozialen Revolution mit einem geschichtsphilosophisch ausgezeichneten Großsubjekt.
Die Zivilgesellschaft wird gleichsam autopoietisch: sie kann sich nur selbst transformieren – nicht die ganze Gesellschaft.
Eine solche Konzeption der Zivilgesellschaft auf der Basis der Diskurstheorie entwickelte unterschiedliche Feindbilder. Sie reichten von der elitären Demokratie bis zum paternalistischen Wohlfahrtsstaat und griffen auch die liberale Vorstellung an, das Recht habe Vorrang vor der demokratischen Partizipation. Zivilgesellschaft grenzt sich somit gegen Staat und Markt, aber auch gegen Parteien und bürokratischen Großgruppen ab, die in der repräsentativen Demokratie das Feld beherrschen. Die Bürger nehmen in dem Konzept der Zivilgesellschaft ihr Schicksal in die eigene Hand. Der "Runde Tisch" war gleichsam das Substrat dieses normativen Konzepts in den friedlichen Kerzenrevolutionen.
Dennoch haben die aufgeklärten Diskurse sich gegen den universellen Verblendungszusammenhang träger Bürgermehrheiten nicht durchsetzen können. Die deutsche Einigung war eine atypische Transformation, weil die Demokratisierung sich in einem kompletten Institutionentransfer in Zusammenhang mit der Wiederherstellung eines historischen Nationalstaats vollzog. Dennoch bleibt bemerkenswert, wie stark der Anteil der para-staatlichen und gesellschaftlichen Akteure an der Transformation war.
Weite Bereiche vom Gesundheitssystem bis zur Landwirtschaft wurden daher von gesellschaftlichen Akteuren transformiert. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen im engeren Sinn, die advokatorisch und gemeinwohlorientiert auftraten, spielten eine vergleichsweise marginale Rolle. Ein paar Intellektuellenverbände, die von ihren westdeutschen Äquivalenten nicht gleich in toto aufgenommen wurden, waren die letzten organisatorischen Ansatzpunkte einer eigenständigen ostdeutschen Zivilgesellschaft. Wenn in einem Witz der noch traditional-patriotisch gemeinte Ruf der Ostdeutschen "wir sind ein Volk" von einem westdeutschen Witzbold mit "wir auch" beantwortet wurde, lag darin eine paradoxe Wahrheit. Die Organisationsformen des westdeutschen Volkes prägten überwiegend die Transformation Ostdeutschlands. Die zivilgesellschaftlichen Bannerträger blieben nach Verdrängung der runden Tische schmollend zurück.
Zivilgesellschaft ist ein normatives Konzept – daher muß es nicht durch jedes Faktenbeispiel überholt sein. Normative Modelle sind nun einmal nicht empirisch falsifizierbar. Dennoch wird die Kluft zwischen Sein und Sollen, die Kant so stark betont hatte, in der modernen politischen Theorie gerade im Bereich der Zivilgesellschaft eingeebnet. Linke Theoretiker hatten einst den empiristischen Antinormativismus auf die bipolare Konstellation der Welt und den penetranten Antikommunismus zurückgeführt, der alle normativen Kriterien in den Hintergrund treten ließ, die nicht bereits durch institutionelle Strukturen in beiden Systemen vorgeprägt waren. Das Ende der Bipolarität schien in der Zivilgesellschaft ein Ost und West verbindendes normatives Konzept wieder möglich zu machen. Und doch trat das Gegenteil des Erwarteten ein: Die normative Theorie kehrte zurück, aber sie hatte sich so weit an die politische Realität der Systeme angenähert, daß sie ihren normativen Impetus verlor.
Eine grundsätzliche Systemkritik war auch von Theorien der Zivilgesellschaft kaum noch zu erwarten. Der Minimalkonsens, der in den 90er Jahren entstand, reichte so weit, daß sich unter der Vielfalt der Termini geringfügige Meinungsverschiedenheiten versteckten, ob nun Verhandlungsdemokratie, Zivilgesellschaft, Netzwerk-Kooperation oder Subpolitisierung zum zentralen Begriff der theoretischen Bemühungen wurde. Die Hoffnung auf eine neuartige Bewegungsgesellschaft hat nicht einmal die Bannerträger der Zivilgesellschaft erreicht. Der Gesellschaft wurden in der Theorie der Zivilgesellschaft keine mythischen Kräfte mehr zugeschrieben, die Strukturen für eine authentische zivilgesellschaftliche Partizipation jeweils naturwüchsig hervorzubringen. Es entstand eher eine Pattsituation zwischen Zivilgesellschaft und System, da auch die Partizipationsangebote, die der demokratische Staat bereitstellt, unvollkommen sind. Es herrscht eine Art Komplementärverhältnis zwischen beiden Bereichen. Die Räteromantik der letzten großen sozialen Bewegung der klassischen Moderne hatte in der Doppelstrategie letztlich die Überwindung der Systemwelt angepeilt. In der Mobilisierung der neuen sozialen Bewegungen für die Zivilgesellschaft kam es eher zu einem risikolosen instabilen Gleichgewicht zwischen dem Status quo der Institutionen des Systems und den kreativen gesellschaftlichen Partizipationsformen der Zivilgesellschaft auf der Basis von Lebenswelt. Zivilgesellschaft gilt nur als relevant, solange sie sich nicht selbst einkapselt und sich auf den Prozeß der Demokratie fokussiert. Kein altmarxistisches Bildverbot hindert die heutigen "utopischen Sozialisten", ihre Modelle einer besseren Gesellschaft auszumalen. Kein neukantianischer Rigorismus kann die Kluft zwischen Sein und Sollen noch erhalten, die über ein Jahrhundert die normative Theorie an der Entfaltung hinderte. Aber mit zunehmender Konkretisierung geht die Norm verloren, die eine andersartige kritische Instanz darstellt, an der eine deformierte soziale Realität gemessen werden kann. Status-quo-orientiert oder konservativ bleibt die normative Idee, je näher sie an die Realität heranrückt. Normativ leer bleibt sie, so weit sie den Abstand zwischen Sein und Sollen in weiser Selbstbeschränkung wahrt.
Bei Amitai Etzioni wird die normative Idee der zivilen Gemeinschaft zur Kenntlichkeit verzerrt, wenn "bürgernahe Polizei" und "neighbourhood watch groups" als das Resultat der großen normativen Idee angeboten werden – ohne selbstkritischen Sinn für die Gefahren einer neuen sozialen Kontrolle, die für die Betroffenen peinlicher sein kann als die notwendig unvollkommene staatliche soziale Kontrolle. Ein Paradoxon tut sich auf: Erst in der postmodernen Ära der Transformation, in der die liberale Demokratie konkurrenzlos zurückblieb, wurde der Vorwurf wahr, den die Linke in den 60er und 70er Jahren gegen jede "bürgerliche" Theoriebemühung schleuderte, daß selbst die normative Theorie nur die phantasiearme Duplizierung einer tristen sozialen und politischen Realität sei.

Citizenship als neuer Weg

Bleibt die Zivilgesellschaft also letztlich ein kastriertes normatives Konzept für neue soziale Bewegungen? Gegen Habermas' Diskursmodell der Zivilgesellschaft ist eingewandt worden, daß es eine bestimmte Art von Öffentlichkeit unkritisch zur Zivilgesellschaft stilisierte, weil in ihr kommuniziert wird. Damit verbunden ist die Abwertung einer bloß durch Meinungsbefragung extrapolierten Meinung, die nicht öffentlich diskutiert worden ist. Da auch Habermas nach parlamentarischen Mehrheiten für seine Konzeptionen sucht, wird die politische Elite jedoch die bloße abgefragte öffentliche Meinung ernster nehmen müssen als die Intellektuellen. Die empirischen Befunde zeigen zudem, daß selbst in der politischen Arena in der öffentlich diskutiert wird, die am intensivsten diskutierte Meinung nicht notwendiger-weise die einflußreichste ist. Die Idee blamiert sich immer vor dem Interesse, hat schon Marx erkannt. Der Aushandlungsprozeß der organisierten Interessen zeigt, daß die traditionellen Großorganisationen von Gewerkschaften und Statusgruppen bis zu den Kirchen, die oft von den Bannerträgern der neuen sozialen Bewegungen totgesagt worden sind, noch immer in der Vorhand sind.
Dennoch bleibt die Zivilgesellschaft ein wichtiges normatives Konzept. Sie wird dies vor allem durch den Rekurs auf die Individuen, welche die Zivilgesellschaft konstituieren. Das Korrelat der Zivilgesellschaft als Abstraktum ist der konkrete Bürger. Diesen zu substantivieren, gelingt der sonst so Substantiv-freundlichen deutschen Sprache nicht, weil "Bürgertum" gleichsam auf das Äquivalent von "Bourgeoisie" festgelegt erscheint. Daher wird der englische Ausdruck "citizenship" oder der französische "citoyenneté" in der Debatte benutzt.
Die vorangegangene Analyse hat bereits gezeigt, daß im demokratischen Verfassungsstaat die Regeln nicht einfach durch neue soziale Bewegungen mit noch soviel Berufung auf zivilgesellschaftlichen Goodwill geändert werden können. Wieder mag Amerika als Beispiel dienen. Hier wurde seit langem eine Kluft zwischen Idealen und Institutionen entdeckt. Die Ideale – häufig nicht um den Begriff Zivilgesellschaft, sondern den des Republicanism geschart – wurden nicht dazu benutzt, die Institutionen auszuhebeln. Im Gegenteil: Der rechtsstaatliche Rahmen mußte wieder in Einklang mit den hehren zivilgesellschaftlichen Prinzipien des Commonwealth gebracht werden. Der Amerikanismus wurde gelegentlich sogar als Ziviltheologie interpretiert.
Den Europäern ist in der Debatte um die Zivilgesellschaft vielfach der amerikanische Multikulturalismus und Verfassungspatriotismus ohne ethnische Begründung der Nation empfohlen worden. Aber nur idealerweise gilt für die zivile Gesellschaft, daß alle aufgenommen und keiner bevorzugt ist. In der Realität der alten Nationalstaaten Europas wurden unterschiedliche Prinzipien der Exklusion und Inklusion nacheinander entwickelt: Zuerst der Rechtsstaat, der alle Bürger und weitgehend auch Nicht-Bürger einschloß. Sodann wurde auch bei liberalem Gedankengut die Gleichheit der Bürger durch den Nationalstaat, meist gestützt auf Sprache und Kultur, hinzugefügt, um dem rechtsstaatlich geschützten Bürger die Motivation zu geben, aktiv an dem Leben der Nation teilzunehmen und notfalls für sie das Leben zu lassen. Der nationale Gedanke drängte somit auf Partizipation aller Bürger im demokratischen Staat. Als diese wenigstens im allgemeinen Wahlrecht verwirklicht schien, mußte im Wohlfahrtsstaat jenes Minimum an sozialer Gleichheit hinzugefügt werden, das für eine erfolgreiche politische Teilnahme unerläßlich war. Zivilgesellschaftlicher Überschwang kann unterstellen, daß alle Bürger und Nichtbürger, die am Diskurs teilnehmen – auch die, die nicht einmal die Sprache des Gastlandes verstehen – auf allen Ebenen gleich sind. Die Realität der Staaten – die USA nicht ausgeschlossen – zeigt jedoch handfeste Ungleichheiten des Citizenship. Der britische Soziologe Marshall hat als erster eine umfassende Typologie der citizen versucht und unterschied politische, rechtliche und soziale Bürger. Die kulturelle Bürgerschaft wurde in der Postmoderne hinzugefügt und ist partiell im nationalen Subsystem aufgehoben, soweit sie nicht als legaler und demokratisch-partizipatorischer Verfassungspatriotismus abgedeckt erscheint. Gleichheit erscheint als gradualistisches Konzept, das in einer Vierfeldermatrix (siehe Matrix auf Seite 11) als annähernd vollkommen (Rechtsgleichheit) oder ziemlich unvollkommen (Gleichheit der Rechte im Wohlfahrtsstaat) ausgewiesen werden kann. Strukturell ungleich sind hingegen die Nationalbürgerschaft und auch noch die Gleichheit der Partizipationsrechte im demokratisch-politischen System.
Die Ausweitung der Zivilgesellschaft heißt daher vor allem wachsende Inklusion der Menschen, die auf einem Territorium leben, in alle Bereiche des Citizenship. Das Gleichgewicht der vier Säulen des Citizenship ist in den bestehenden Nationalstaaten kaum gegeben. Am stärksten verändert hat sich die Konzeption des nationalen Citizenship. Unter dem Einfluß von weltweiter Migration und vor allem durch die Europäische Integration kommt es zur Ausdehnung der Staatsbürgerschaftsrechte und der demokratischen Partizipationsrechte.
Nationale Traditionen spielen aber noch immer eine große Rolle. Die klassischen Einwanderungsstaaten wie die USA, Kanada und Australien haben eine weniger kulturell-traditionale Einstellung zur Staatsbürgerschaft und sind offener für multikulturelle Ideen, auch bei der Integration der länger im Land lebenden Eingewanderten. In anderen Staaten, etwa in Frankreich, wo die Staatsbürger-Nation traditionell betont wurde, haben sich unter dem Ansturm der Migranten Elemente des jus sanguinis zunehmend in die Staatsbürgerschaftspolitik wieder eingeschlichen.
In allen europäischen Staaten gleicht sich die Konzeption der sozialstaatlichen Inklusion zunehmend an, während die USA hier nur insofern Ungleichheit walten lassen, als eine lückenlose Inklusion aller in das soziale Sicherungssystem kaum verwirklicht wurde. Die Fortschritte der europäischen Integration drohen vielfach dazu zu führen, daß die Nicht-Gemeinschafts-Bürger zunehmend ausgeschlossen werden. Europäische Inklusion ist nicht mehr nationalstaatlich, aber sie exkludiert die Bürger anderer Kontinente stärker als beispielsweise die früheren exkolonialen Empires, wie das britische Commonwealth oder die Communauté Française es einst taten.
Innerhalb der Gemeinschaft werden weitere Angleichungen durch Diskurs und innereuropäische Migration erwartet. Einige Theoretiker des Citizenship in der Zivilgesellschaft erhoffen eine Ausdehnung der Citizenship in allen Bereichen auf das Niveau des jeweils fortgeschrittensten europäischen Systems. Zum Beispiel wird es für möglich gehalten, daß sich ein Sinn für europäische Citizenship bei britischen Mittelklasse-Arbeitern entwickeln wird, weil einige Aspekte des Sozialen und der Erziehung auf dem Kontinent stärker betont werden als in Großbritannien.
Die von Soziologen immer wieder festgestellte Individualisierung der Lebensvollzüge verändert die Identitätsgefühle in allen europäischen Ländern. Für den Nationalstaat gibt es auch in der Europäischen Gemeinschaft noch kein Substitut. In einer der vier Sektoren der Matrix, in den kulturell-nationalen Systemen mit ihren Differenzen der Kultur-, Erziehungs- und Medienpolitik, strebt nicht einmal die Europäische Gemeinschaft eine einheitliche Konzeption des Citizenship an. Im sozialen Bereich werden – nicht nur aus Gründen der Differenz wirtschaftlicher Entwicklung – viele Unterschiede bleiben. Die sozialregulativen Bereiche (Arbeitsbeziehungen, Sozialversicherung) werden von Brüssel zielstrebig angeglichen.
Der Kern der sozialen Bereiche wird national bleiben, so daß auch der soziale Citizen trotz einiger Konvergenzen noch lange unterschiedlich bleiben wird. Citizenship ist eine Art symbolische Einheit verschiedener Rollen der Menschen in den politischen Systemen. Europäisches Citizenship steht bereits in unseren Reisepässen. Aber seine völlige Integration ist ein Traum – und für viele noch nicht einmal ein schöner. Zivilgesellschaft und Citizenship entwickeln sich nicht aus einem spontanen "herrschaftsfreien" Diskurs. Ein Moment des Macht- und Informationsvorsprungs bleibt auch bei staatlicher Steuerung zugunsten der Zivilgesellschaft erhalten.
Daher ist es besser, den Anspruch auf "täuschungsfreie Kommunikation" zu reduzieren. Zivilgesellschaft ist ein Konzept der gerechten Gesellschaft mit starken und divergenten nationalen Rechtsordnungen. Die Europäische Gemeinschaft und die ihr angehörenden Staaten können durch verstärkte Inklusion bei Einbürgerungen, Ausweitung der Partizipationsrechte auch für Ausländer und Inklusion der sozial schwachen Nicht-Staatsbürger die Idee der Zivilgesellschaft befördern.
Damit dieser Impetus nicht erlahmt, ist der Druck von neuen und nicht mehr ganz neuen sozialen Bewegungen nötig. Beim Agendasetting hat dieser meist rasche Erfolge. Bei der Durchsetzung und Implementation sind die wohlmeinenden Bewegungen jedoch auf den bestehenden Rechtsstaat und seine demokratischen Institutionen weiterhin angewiesen.

Matrix: Gleichheit und Ungleichheit der Citizenships


GleichheitUngleichheit
weite InklusionRechtsstaat

Grundrechte, vor allem Habeas-Corpus-Rechte,
gelten für alle auf einem Territorium Lebenden
Nationalstaat

Staatsangehörigkeit nur für "Volksangehörige",
"jus soli" integrativer als "jus sanguinis"
weitergehende ExklusionWohlfahrtsstaat

Inklusion auch von Immigranten und Asylanten,
und selbst fü jene, denen Staatsbürgerrechte
entzogen wurden
Demokratischer Staat

Partizipationsrechte nur für Staatsbürger, einzelne
Rechte für EU-Bürger, gelegentlich auch
kommunales Wahlrecht für Ausländer

Autor:
Prof. Dr. Klaus von Beyme
Institut für Politische Wissenschaft, Marstallstr. 6, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 28 80

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