Lehrmeinung zur Augenentwicklung revidiert
Mit einer Live-Analyse der Augenentwicklung haben Wissenschaftler der Universität Heidelberg grundlegende neue Erkenntnisse zur Entstehung der Augenkrankheit Kolobom gewonnen und die bisherige Lehrmeinung zur Entwicklung des Sinnesorgans bei Wirbeltieren revidiert. Das Team um die Entwicklungs- und Zellbiologen Dr. Stephan Heermann und Prof. Dr. Jochen Wittbrodt vom Centre for Organismal Studies (COS) der Universität Heidelberg konnte mithilfe von 4D-Mikroskopie am lebenden Organismus zeigen, dass bei der Augenentwicklung gerichtete Gewebeströmungen das Augenbläschen in den Augenbecher umformen. Das ist nicht nur wesentlich für das Verständnis der Entstehung eines Koloboms („Katzenaugenkrankheit“), sondern es bedeutet auch, dass sich das Auge von Wirbeltieren, zu denen auch der Mensch zählt, ganz anders entwickelt als dies seit mehr als 70 Jahren gelehrt wird. Die Forschungsergebnisse wurden im Fachjournal eLife veröffentlicht.
Bei ihrer Analyse der Augenentwicklung kombinierten die Wissenschaftler, zu denen auch Prof. Dr. Kerstin Krieglstein von der Abteilung Molekulare Embryologie des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Universität Freiburg gehört, moderne Genetik mit zeitaufgelöster Lebendzellmikroskopie. Dadurch gelang es ihnen, die Dynamik der Organbildung zu erfassen. Sie fanden dabei drei grundlegende Dinge heraus: „Wir wissen nun, dass ein Organ sich fließend bildet und nicht durch einen schrittweisen Aufbau. Wird dieser Fluss gestoppt, kommt es zu einem Kolobom. Und wir haben die Quelle der Stammzellen im Auge gefunden, was eine wichtige Erkenntnis für die Stammzellforschung ist“, erklärt Prof. Wittbrodt.
Das Auge ist eine Ausstülpung des Gehirns und bildet sich während der Embryonalentwicklung aus einem sackartigen Bläschen, das sich rasch in einen Augenbecher umformt mit der innenliegenden Netzhaut, die außen vom Pigmentepithel umschlossen wird. Misslingt dieser Schritt, kommt es zu großen Problemen, der Augenbecher schließt sich nicht und daraus resultiert ein Kolobom, eine der häufigsten Ursachen für kindliche Blindheit.
Bisher ging man bei der Transformation zum Augenbecher von einer sogenannten ortsständigen Entwicklung aus: Die innere Seite des Bechers entwickelt sich zur Netzhaut und die äußere Seite zum Pigmentepithel. „Bei der detaillierten Untersuchung dieses Entwicklungsschritts mit Hilfe von hochauflösender Videomikroskopie an lebenden Fischen stellten wir nun fest, dass sich der Augenbecher durch einen dynamischen Fluss von Zellen der äußeren in die innere Seite bildet, also das genaue Gegenteil einer ortsständigen Entwicklung“, erklärt Dr. Heermann. Zudem fanden die Wissenschaftler den Wachstumsfaktor, der den für die Augenentwicklung wesentlichen Fluss von Gewebe steuert. Dabei muss der Signalweg dieses Wachstumsfaktors BMP moduliert werden, damit das Gewebe fließen und so das Bläschen in den Becher transformieren kann. „Ohne diese Modulation bleibt das Gewebe auf der äußeren Seite stecken und beginnt sich dort in die Netzhaut zu entwickeln“, ergänzt Stephan Heermann.
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie ist die enge Kopplung von Bewegung (Morphogenese) und Differenzierung. Bisher war bereits bekannt, dass die Differenzierung von Vorläuferzellen in Nervenzellen der Netzhaut im Zentrum des inneren Augenbechers beginnt und sich dann kontinuierlich in die Peripherie fortsetzt. „Die neuen Daten eröffnen nun einen völlig neuen Blickwinkel auf dieses Ereignis“, erklärt Jochen Wittbrodt: Die Zellen, die sich zuerst differenzieren, liegen demnach schon zu Beginn der Entwicklung im inneren Bereich des Augenbechers. Zellen, die erst später differenzieren, fließen auch erst später in den Augenbecher hinein, wo sie erst dann dem Einfluss von Differenzierungssignalen unterliegen. In der frühen Phase sind diese Zellen daher durch ihre Position den Signalen nicht ausgesetzt. Dies betrifft insbesondere die Stammzellen des untersuchten Modellsystems Fisch.
„Mit Hilfe der 4D-Mikroskopie konnten wir diese spezielle Population von Zellen nun identifizieren und analysieren“, erläutert Jochen Wittbrodt. Es wurde klar, dass es zwei festgelegte Areale in der äußeren Domäne des sich entwickelnden Augenbechers gibt, in der diese zukünftigen Stammzellen zunächst liegen. Diese Zellen erreichen den Augenbecher als letzte und kommen schließlich an der Grenze zwischen der Netzhaut und dem pigmentierten Epithel zu liegen. „Unsere Befunde beschreiben zum ersten Mal die Herkunft der Stammzellen im Auge von Fischen und implizieren eine frühe Festlegung dieser Zellen. Dies mag auf den ersten Blick von untergeordnetem Interesse für den Menschen erscheinen, der keine aktiven Stammzellen im Auge mehr aufweist. Dennoch sind diese Daten von herausragender Bedeutung für die Stammzellforschung.“
Darüber hinaus weisen die vorliegenden Ergebnisse hohe biomedizinische Relevanz auf, da sie die Entstehung eines Koloboms erklären, wie Stephan Heermann betont. Durch den beschriebenen zweigeteilten Fluss des Gewebes entsteht auf der unteren Seite des Auges ein Spalt, der Augenbecherspalt. Während der weiteren Entwicklung des Auges ist es nun essentiell, dass sich dieser Spalt schließt, damit das Auge in alle Richtungen sehen kann. „Die vorliegenden Daten zeigen eindrücklich, dass sowohl die Entwicklung des Augenbecherspalts als auch dessen Schluss ganz wesentlich von dem geordneten Gewebefluss abhängen.“ Bleibt der Augenbecherspalt offen, sprechen Mediziner von einem Kolobom.