„Wissenschaft kann und sollte eine emanzipatorische Praxis über die Grenzen hinaus betreiben“
Dr. Maryam Dezhamkhooy
Dr. Maryam Dezhamkhooy, Archäologin am Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studie der Universität Heidelberg (CAPAS)
Von 2016 bis 2018 Humboldt-Gastwissenschaftlerin am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie
Wann, wie lange und in welcher Position waren Sie zum ersten Mal an der Universität Heidelberg?
Im Februar 2016 bin ich zum ersten Mal als Postdoc-Stipendiatin an die Universität Heidelberg gekommen, unterstützt von der Alexander von Humboldt-Stiftung. Das Stipendium lief über zwei Jahre.
Seit wann sind Sie wieder in Heidelberg und wie lange planen Sie zu bleiben? Was sind Ihre Ziele für Ihren aktuellen Forschungsaufenthalt in Heidelberg?
Seit Januar 2021 arbeite ich als assoziierte Wissenschaftlerin am Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien (CAPAS). Es handelt sich um eine zweijährige Stelle und ich bin sehr dankbar für die Atmosphäre am CAPAS, denn das Institut schätzt innovative Forschung und avantgardistische Ideen. Ich bin eine Wissenschaftlerin mit großem Interesse an verschiedenen interdisziplinären Themen. Derzeit führe ich zwei unterschiedliche Projekte durch: Das eine befasst sich mit dem Widerstand von Frauen gegen importierte Konsumgüter im Iran des frühen 20. Jahrhunderts, das zweite mit Abfall- und Müllgemeinschaften. Ich versuche zu analysieren, wie die Politik des Konsums und des Abfalls die Wirtschaft verändert, Armut erzeugt und die Ungleichheit in der Welt vergrößert. Daher ist die Garbologie – die Archäologie des Mülls – eines der aufstrebenden interdisziplinären Gebiete, das eine führende Rolle in der Forschung für Nachhaltigkeit spielen kann.
Warum haben Sie sich für die Universität Heidelberg entschieden?
Meine Forschung, die Archäologie der zeitgenössischen Vergangenheit und der modernen materiellen Kultur, ist etwas Neues und Innovatives, und ich war daher auf der Suche nach einer avantgardistischen akademischen Atmosphäre, in der kreative Forschung und die Erkundung neuer Territorien geschätzt werden. Dann lernte ich Prof. Thomas Meier vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Heidelberg kennen. Wir korrespondierten und lernten uns schätzen. Das war der Beginn meiner akademischen Reise und meiner Mitgliedschaft in der Universität Heidelberg.
Welche Erfahrungen konnten Sie bisher in Heidelberg sammeln?
Vor allem die Arbeit in einem internationalen akademischen Umfeld erweitert meine Welt und fördert meine Karriere. Ich kann an verschiedenen wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen bzw. diese organisieren und mich in verschiedenen Diskussionen einbringen. Wenn ich mehr über die Forschung der anderen Kolleg:innen erfahre, verändert sich meine Perspektive und ich denke globaler. Zum Beispiel sind Abfall und Konsum, mein Forschungsschwerpunkt, keine Probleme der Entwicklungsländer. Es handelt sich um Phänomene, die unser Leben, die menschliche Zivilisation und sogar das Leben in der freien Natur auf planetarischer Ebene beeinflussen. Ich persönlich versuche, meine Perspektive in Richtung einer universelleren, integrativeren und umfassenderen Sichtweise zu ändern.
Was gefällt Ihnen besonders gut hier, wo haben Sie Verbesserungsvorschläge?
Ich sehe Heidelberg als eine akademische Stadt. Ich denke, ihre Identität hat sich um diese alte und herausragende akademische Einrichtung herum entwickelt, was die Stadt für junge Leute, Studierende und Ausländer:innen sicher gemacht hat. Außerdem ist Heidelberg eher klein und gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln verbunden, wodurch es bequem und einfach zu erreichen ist. Und schließlich erinnert mich das historische Gesicht der Stadt an meine schöne Heimatstadt Shiraz. Die Arbeit am CAPAS, einem transdisziplinären Forschungszentrum, hat mir verschiedene wissenschaftliche Ansätze zu ein und demselben Thema vermittelt – das ermutigt mich, mehr interdisziplinäre Forschung auf meine Agenda zu setzen.
Wie beurteilen Sie das deutsche Wissenschaftssystem im Vergleich zu Ihrem Heimatland oder anderen Ländern, in denen Sie bereits geforscht haben?
Ein großer Unterschied zu den Universitäten in meinem Heimatland ist das hohe Maß an internationaler Interaktion und Zusammenarbeit. Außerdem gibt es eine bessere finanzielle Unterstützung für die Forschung und Anerkennung für avantgardistische Forschung und neue Ideen. All dies hat zu einem aktiveren akademischen Leben geführt.
Für wie wichtig halten Sie internationalen Austausch in der Wissenschaft?
Ich denke, die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit lässt sich heute nicht mehr leugnen. Sie hilft nicht nur den Forscher:innen, ihre Karriere voranzutreiben, sondern sie spielt auch eine entscheidende Rolle für das Überleben und die Wiederbelebung der akademischen Welt. Jede:r neue Wissenschaftler:in ist eine neue Idee und eine neue Chance, die die Wissenschaft bereichern kann. Dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zufolge sollte die Wissenschaft ein unabhängiger Bereich sein, in dem die Menschen frei praktizieren, lernen und handeln können. Und ich denke, dass die internationale Zusammenarbeit und die Zusammenführung unterschiedlicher akademischer Traditionen aus verschiedenen Teilen der Welt Teil dieser Praxis sind. Karl Jaspers hat die Universität als ein Universum betrachtet und den emanzipatorischen Aspekt der akademischen Praxis diskutiert. Die Wissenschaft kann und sollte eine emanzipatorische Praxis über die Grenzen hinaus betreiben. Ich bin der festen Überzeugung, dass der internationale Austausch in diesem Prozess eine führende Rolle spielen kann.
Empfehlen Sie einen Forschungsaufenthalt an der Universität Heidelberg an Ihre Studierenden bzw. innerhalb Ihres wissenschaftlichen Netzwerks?
Nun, ich würde die Universität Heidelberg und insbesondere CAPAS definitiv allen Wissenschaftler:innen und Studierenden empfehlen, die an innovativer Forschung interessiert sind. Im Allgemeinen ist die Atmosphäre an archäologischen Instituten in vielen Teilen der Welt immer noch sehr konservativ, aber CAPAS ist eines der Zentren, das Kreativität und interdisziplinäre Forschung auch bei Archäolog:innen schätzt.