Bereichsbild
Informationen

 

Leitung:
Prof. Dr. Jörg Riecke E-Mail


Mitarbeiter:
Dominika Bopp E-Mail

Dr. Sebastian Rosenberger E-Mail


Hilfskräfte:
Louisa Krischer


Förderung:
Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG)


Laufzeit:
24 Monate
(Beginn: März 2018)

 

Sebald Heydens Formulae Puerilium Colloquiorum. Zur Geschichte eines frühneuzeitlichen Gesprächsbuchs

 

Hintergründe


Gegenstand des Projektes ist ein Lehrbuch mit Schülergesprächen aus der Reformationszeit, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weit über den deutschen Sprachraum hinaus verbreitet war und dessen intensive Nutzung durch zahlreiche Neudrucke belegt ist. In der germanistischen Forschung wurden demgegenüber bisher weder die Textsorte, noch das hier exemplarisch herausgehobene Gesprächsbuch Formulae puerilium colloquiorum des Nürnberger Schullehrers und Humanisten Sebald Heyden genauer untersucht. Sebald Heyden (1499–1561), der heute vor allem noch als Lieddichter und Verfasser einer Wortschatzsammlung (Nomenclatura rerum domesticarum) bekannt ist, wurde a. 1525 vom Rat der reformierten Stadt Nürnberg aufgefordert, den Lateinunterricht in humanistischem Sinne zu erneuern und ein Lehrbuch zum Gebrauch an der dortigen St. Sebald-Schule herzustellen. Dies steht vermutlich im Zusammenhang mit Luthers „Brief an die Städte“ von 1524, in dem er die Ratsherren aller Städte dazu auffordert, das Schulwesen und vor allem den Sprachunterricht zu erneuern. Nach Sebald Heydens Vorstellung sollten die Schüler nach wie vor zunächst Latein lernen, aber sie sollten es verstehen und anwenden können. Daher kommt auch der deutschen Übersetzung der Schülergespräche eine besondere Bedeutung zu. Heyden nimmt sich die gelehrten lateinischen humanistischen Schülergespräche Familiarium colloquiorum formulae des Erasmus von Rotterdam von a. 1519 zum Vorbild, vereinfacht sie aber stark und überträgt sie in die Lebenswelt seiner Nürnberger Schüler. Den lateinischen Dialogen fügt er seine deutsche Übersetzung in kleinerer Schrifttype hinzu. Die Schüler sollten jeden Tag einen Dialog lernen, was den Reformpädagogen der Zeit leichter und sinnvoller erschien als das Auswendiglernen von grammatischen Formen und Paradigmen. Die Sätze sind daher sehr einfach gehalten, geben damit aber zugleich einen guten Einblick zumindest in die schriftnahen Varianten der gesprochenen Sprache jener Zeit.

Zur Verdeutlichung folgt der 16. Dialog der Formulae „Dum instruitur mensa“ zwischen Remigius und Sebaldus aus der viersprachigen Ausgabe (Latein – Deutsch – Polnisch – Ungarisch), Krakau a. 1527:

 

Strona 1 2 Neu

Quelle: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska (Bibliothek Danzig), Signatur: Cb 5774 2 8° adl. 3.


 


Dum inſtruitur menſa
Dialogus XVI.
REMIGIVS. SEBALDVS.

 

R     Puer ubi es?
    Junger wo biſtu
    Chłopcȝe gdȝyeś ieſt.
    Gyermek hwl wagy.
S    Adſum, quid me uis.
    Da bin ich/ was wiltu meyn.
    Othom ieſt/ wcȝym mye ȝadaſſ.
    Ihon wagyok/ myth akarȝȝ enwelem.
R    Inſterne menſam.
    Bereyt den tiſch.
    Prȝykryi ſtoł.
    Weſdmegh aȝ aȝthalth.
S    Est tempus prandio?
    Iſts eſſens cȝeyt.
    Już cȝas ieſć.
    Wagyony ydeye ebydnek.
R    Eſt, quando ſic libet.
    Ja/ weil es myr alſo gefelt.
    Jeſt cȝas/ kyedy ſye mnye tak spodoba
    Wagyon/ mykor ygy akarom.
S    Recte curabitur.
    Ich wil ym recht thun.
    Opatrȝe iy dobrȝe.
    Yool megh ȝereȝthethyk.
R     Porrige cultros.

   
    Lang die meſſer her.
    Day ſam noże.
    Addyde aȝ/ keeſeketh.
S    In promptu ſunt.
    Sie ſint schon da.
    Już ſą gotowe.
    Kyſȝen wadnak.
R    Da mappas manuarias.
    Thu die fatſcheunlein her.
    Day ſam ſerwety.
    Etthe aȝ keeȝy, keȝkeneoketh.
S    Et iſtae adſunt.
    Die ſint auch schon da.
    Y ty ſą nagotowane.
    Aȝokys otth wadnak.
R    Adpone ſalinum.
    Setȝ das ſaltȝ faß auff.
    Wſtaw tez ſalſyrke.
    Theddyde aȝ ſotharototh.
S    Prius ſale implebo.
    Ich wils vor mit ſalcȝ fullen.
    Naſipyę pirwey ſolą.
    Eleoȝȝer ſowal megh theoltheom.
R    Elue calioes.
    Waſch die trinck geſchirr.
    Wymyi kupky.
    Moſd megh aȝ poharokath:
S    Dudum laui.
      Ich habs langeſt gewaſchen.

 

Das Gesprächsbuch war so erfolgreich, dass es sehr bald an vielen anderen Orten nachgedruckt wurde. Dessen ungeachtet hat sich auch die sprachhistorische germanistische Forschung bisher kaum mit Sebald Heydens Formulae beschäftigt. Sie finden zwar im Jahre 2002 eine kurze Erwähnung in Helmut Glücks grundlegendem Handbuch zur Geschichte des Deutschen als Fremdsprache, eine genauere Untersuchung steht jedoch seit ihrer ersten Erwähnung 1899 noch aus. Diesen ersten Hinweis auf das Heydensche Gesprächsbuch gab Alois Bömer (1966: 164–153) in seiner pädagogikgeschichtlichen Abhandlung über „Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten“. Aus dem Zeitraum zwischen 1528 und 1730 konnte er 40 Drucke ermitteln, die schon seinerzeit von einer nicht unbeträchtlichen Wirkung des Gesprächsbuchs zeugten.

 

 

Projektbeschreibung und Ziele


Das primäre Ziel des Projekts ist die Beschreibung der Formulae Puerilium Colloquiorum und ihre Einordnung in die Sprachgeschichte der frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert). Ihr geht die vollständige Erfassung aller Textzeugen voran. Zur Beschreibung zählen einmal die Darstellung der sprachstrukturellen Veränderungen im deutschen Teil des Gesprächsbuchs; in kommunikativ-pragmatischer Hinsicht gehört dazu auch die Beschreibung der Formulae als Beispiel reformatorischer Pädagogik und ihre Versprachlichung der Lebenswelt frühneuzeitlicher Schüler. Grundlage der Beschreibung ist die Edition ausgewählter Textzeugen. Das Gesprächsbuch wird so als Quelle für sprachliche Unterschiede und Veränderungen im 16. und 17. Jahrhundert genutzt.

Durch die mehrsprachigen Drucke und ihre Verbreitung im mitteleuropäischen Raum sollen aber auch Erkenntnisse über die Rolle des Deutschen als Leitvarietät in der mitteleuropäischen Sprachenwelt der frühen Neuzeit gewonnen werden, die gewissermaßen „von unten“, von der Sprachverwendung von Schülern und Studenten ausgehen und „von oben“, den humanistischen Pädagogen umgesetzt werden. Hier verspricht die Auswertung der Titelblätter und Vorworte Aufschluss.

Die Tatsache, dass Sebald Heydens Gesprächsbuch in der Zeit seit 1526/27 an mindestens 36 verschiedenen Druckorten in annähernd dem gesamten mitteleuropäischen Kulturraum mehr als einhundertmal nachgedruckt, bearbeitet und erweitert wurde, ist zu erklären und auszuwerten. Auf exemplarische Weise lässt sich anhand der Druckgeschichte der Formulae ein Überblick über den kommunikativen Raum der von der Reformation geprägten neuhochdeutschen Sprache im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert gewinnen. Die Ausbreitung über fast ganz Mitteleuropa wäre allerdings nicht möglich gewesen, wenn es in diesem Raum kein funktionierendes Kommunikationsnetz gegeben hätte. In diesem Netz spielte die deutsche Sprache im 16. und 17. Jahrhundert eine entscheidende Rolle. Die Formulae Puerilium Colloquiorum sind daher auch ein Hinweis auf eine erste Blütezeit des Lernziels „Deutsch als Fremdsprache“ im Kommunikationsraum „Deutsch“ der frühen Neuzeit.

Zusammengefasst zielt die Untersuchung auf die Ermittlung der Überlieferungsgeschichte, die Beschreibung der unterschiedlichen Textfunktionen der Formulae im binnen- und außerdeutschen Sprachraum mit ihren sprachstrukturellen und kommunikativ-pragmatischen Besonderheiten sowie auf die Einbettung des Textes in die Textsorte und das schriftstellerische Werk Sebald Heydens.

 

 

Literatur (Auswahl)
 

Bömer, Alois: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten. Auszüge mit Einleitungen, Anmerkungen und Namen- und Sachregister. Quellen für die Schul- und Universitätsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. Zweiter Teil: Von Barlandus bis Corderius 1524–1564. Berlin 1899, Nachdruck Amsterdam: 1966.


Budziak, Renata: Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden. Ein Schülergesprächsbuch aus dem frühen 16. Jahrhundert und seine Krakauer Ausgabe. In: ZfdPh 127, (2009), S. 81-93.


Glück, Helmut: Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit. Berlin/New York 2002.


Glück, Helmut/Klatte, Holger/Spáčil/Vladimír/Spáčilová, Libuše (Hg.): Deutsche Sprachbücher in Böhmen und Mähren vom 15. Jahrhundert bis 1918. Eine teilkommentierte Bibliographie. Berlin/New York 2002.


Glück, Helmut/Schröder, Konrad: Deutschlernen in den polnischen Ländern vom 15. Jahrhundert bis 1918. Eine teilkommentierte Bibliographie. Wiesbaden 2007.


Klatte, Holger: Fremdsprachen in der Schule. Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden. In: Helmut Glück (Hg.): Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Berlin/New York 2002, S. 77-86.


Müller, Peter O.: Sebald Heydens Nomenclatura rerum domesticarum. Zur Geschichte eines lateinisch-deutschen Schulvokabulars im 16. Jahrhundert, in: Sprachwissenschaft 18 (1993), S. 59-88.


Riecke, Jörg: Sebald Heydens Formulae puerilium colloquiorum. Zur Geschichte eines lateinisch-deutschen Gesprächsbüchleins aus dem 16. Jahrhundert. In: ZfdPh 114 (1995), S. 99-109.


Riecke, Jörg: Heyden, Sebald. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, hg. v. Wilhelm Kühlmann/Jan-Dirk Müller/Michael Schilling/Johann Anselm Steiger/Friedrich Vollhardt, Bd. 3. Berlin/Boston 2014, S. 338-345.


de Smet, Gilbert A. R.: Sebald Heydens Formulae Puerilium Colloquiorum in den Niederlanden. In: Varietäten der deutschen Sprache. Festschrift für Dieter Möhn, hg. v. Jörg Hennig/Jürgen Meier. Frankfurt/M./Bern/Brüssel 1996, S. 127-142.


Wittenbrink, Heinz: Heyden, Haiden, Sebald(us). In: Killy. Literaturlexikon, hg. v. Wilhelm Kühlmann. 2. Aufl., Bd. 5. Berlin/New York 2009, S. 394f.


Zeltner, Gustav Georg: Kurtze Erläuterung der Nürnbergischen Schul- und Reformations-Geschichte aus dem Leben und Schrifften des berühmten Sebald Heyden […]. Nürnberg 1732.

 

 

Letzte Änderung: 12.09.2018
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