Der autonome literarische Dialog nach 1900: Formen, Medien, Gattungswandel
Die Bedeutung des autonomen fiktionalen Dialogs für die philosophisch-literarische (Selbst-)Reflexion wurde in der Forschung wiederholt und mit Nachdruck für das sophistische Zeitalter, die Renaissance und die Aufklärung betont. Die umfangreichste literaturgeschichtliche Abhandlung zu dieser Mikrogattung stellt nach wie vor die 1895 erschienene zweibändige Studie Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch von Rudolf Hirzel dar, welcher dem literarischen Dialog Ende des 19. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr zuschreibt, sei er doch „von seiner ehemaligen Höhe, auf der er fast wie ein König die Literatur beherrschte, zum Bettler herabgesunken, den man kaum noch eines Blickes würdigt“ (Hirzel 1895, Bd. 1: 1). Diese Verfallsdiagnose prägt die germanistische Forschung zum erfundenen Gespräch des 20. Jahrhunderts bis heute: Es finden sich nur vereinzelt Studien, die die Präsenz dieser kleinen Gattung nach 1900 überhaupt zur Kenntnis nehmen, wobei stets von einem definitiven Bedeutungsverlust im 20. Jahrhundert ausgegangen wird (Doms 2018). An germanistischen Beiträgen zum literarischen Dialog ab 1900 sind zu nennen eine Dissertation zur Poetisierung des Essays (Jander 2008), einige autorphilologisch orientierte Aufsätze, besonders zu Hugo von Hofmannsthal (Burdorf 1999, Rispoli 2018, Heise 2021, Orosz 2021), Leopold von Andrian (Beßlich 2020), Robert Musil (Nübel 2006) und Richard von Schaukal (Pirro 2016, Mitterer 2017), sowie eine unpublizierte Masterarbeit (Wilwert 2023). Dabei zeigt ein Blick in die (bisher noch kaum erschlossene) Quellenlage: Nicht nur im Umkreis des Jungen Wien hat der autonome literarische Dialog sowohl in seiner dramatischen als auch in seiner epischen Ausprägungsform mit Beiträgen von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, Richard von Schaukal, Felix Salten und Karl Kraus zur literarisch-kritischen Reflexivität beigetragen, sondern nach 1900 haben sich auch eine Vielzahl weiterer namhafter Autoren und Autorinnen dieser Mikrogattung innovativ angenommen, darunter Rainer Maria Rilke, Marie von Ebner-Eschenbach, Franz Kafka, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Robert Musil, Bertolt Brecht, Ilse Aichinger, Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens und Peter Handke.
Leit- und Forschungsfragen könnten sein:
- Lassen sich die herkömmlichen Gattungsdefinitionen zum autonomen literarischen Dialog, wie sie u.a. auf Basis der Dialogkonjunkturen in der Renaissance und der Aufklärung entwickelt wurden, auf die Formvielfalt des 20. Jahrhunderts übertragen? Welche Merkmale gehören zu einer Minimaldefinition der Gattung?
- Wie wirken sich die neuen Medien des 20. Jahrhunderts (Radio, Hörspiel, Fernsehen) auf den autonomen literarischen Dialog aus? In welchen (besonderen) Formaten kommt er in diesem Zeitraum zum Ausdruck?
- Zu welchen Zeitpunkten lässt sich zwischen 1900 und 2000 ein vermehrtes Vorkommen von autonomen literarischen Dialogen feststellen? Auf welche Umstände (Themen, Gruppierungen, historische/soziale Entwicklungen) lässt sich dies zurückführen?
Literatur:
Beßlich, Barbara: „Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne. Die Politisierung des Dialog-Essays bei Leopold von Andrian“, in: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna S. Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 185–204.
Burdorf, Dieter: „Gespräche über Kunst. Zur Konjunktur einer literarischen Form um 1900“, in: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Hg. von dems. und Andreas Beyer. Heidelberg 1999, S. 29–50.
Doms, Misia Sophia: Autor-Leser-Kommunikation und fiktives Gespräch. Theoretische Erwägungen und Fallstudien an deutschsprachigen literarischen Dialogen. Würzburg 2018.
Heise, Tillmann: „Das ‚Erfundene Gespräch‘ als transatlantischer Dialog. Gattungsvariationen und Gedankenexperimente in Hofmannsthals Gesprächsfragment ‚Brief ans Dial‘ (1925)“, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 29 (2021), S. 259–280.
Hirzel, Rudolf: Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. 2 Bde. Leipzig 1895.
Jander, Simon: Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner – Hugo von Hofmannsthal – Gottfried Benn. Heidelberg 2008.
Mitterer, Cornelius: „Kunst, Kommunikation, System. Richard Schaukals Rückgriff auf die Renaissance in ‚Giorgione‘ und ‚Literatur‘“, in: Tradition in der Literatur der Wiener Moderne. Hg. von dems., Wilhelm Hemecker und David Österle, unter Mitarbeit von Cornelia Nalepka und Gregor Schima. Berlin/Boston 2017, S. 220–237.
Nübel, Birgit: „‚Über Robert Musils Bücher‘ (1913) oder Reflexion und Narration“, in: Dies.: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin/New York 2006, S. 182–195.
Orosz, Magdalena: „‚Wie hundertfältige Spiegel‘. Ästhetische Überlegungen in Hugo von Hofmannsthals ‚Erfundenen Gesprächen und Briefen‘“, in: Sehnsucht nach dem Leben. Tradition und Innovation im Werk Hugo von Hofmannsthals. Hg. von Roland Innerhofer und Silvia Ritz. Wien 2021 (Österreich-Studien Szeged, Bd. 19), S. 66–80.
Pirro, Maurizio: „Forma come contegno nei dialoghi sull’arte di Richard Schaukal“, in: Ders: Piani del moderno. Vita e forme nella letteratura tedesca del ‚fine secolo‘. Mailand 2016 (Il quadrifoglio tedesco, Bd. 33), S. 55–74.
Rispoli, Marco: „‚Ich mißtraue dem zweckvollen Gespräch‘. Anmerkungen zu Hofmannsthals ‚Erfundenen Gesprächen‘“, in: Literarische Denkformen. Hg. von Marcus Andreas Born und Claus Zittel. Leiden et al. 2018, S. 251–271.
Wilwert, Larissa: Das erfundene Gespräch in der Klassischen Moderne. Vom literarischen Experiment zum kulturkonservativen Instrument? Heidelberg 2023 (unpublizierte Masterarbeit).