Vortragsreihe im Sommersemester 2018

Ästhetische Kritik

 

Als der Kunstkritiker Hanno Rauterberg 2010 mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit trat, eine Akademie für Kunstkritik zu stiften, begründete er dies mit zwei Argumenten. Er verwies auf einen systematischen Diskussions- und Klärungsbedarf angesichts der Frage, „wie sich im Wirrwarr der Stile und Methoden noch sinnvoll über den Wert der Kunst sprechen“ lasse? Und er stellte ein Defizit der Wissenschaft fest, die die Kunstkritik als Gegenstand nicht ernst nehme und sich mit ihren Begriffen und Funktionen nicht beschäftige. Diese Diagnose stimmt insofern, als die Frage nach dem ästhetischen Wert eines Kunstwerkes im Mainstream wissenschaftlicher Diskurse eine problematische Stellung besitzt. Auch wenn man nicht mit Max Weber die Werturteilsfreiheit der Wissenschaft postuliert, ist man doch mit der Erschütterung der evaluativen Rolle wissenschaftlicher Kritik durch offen kanonfeindliche Versionen der Postmoderne konfrontiert. Nach dem Wegfall eines verbindlichen Bestandes des künstlerisch und literarisch Wertvollen ist zudem unklar, wie die in die eigene wissenschaftliche Praxis unvermeidlich eingehenden impliziten Wertungen überhaupt jenseits subjektiver Vorlieben reflektiert, artikuliert und legitimiert werden können. Zur akademischen Unsicherheit im Hinblick auf die ästhetische Kritik trägt ebenso bei, dass seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung zwischen hoher und niederer Kunst fragwürdig geworden ist, ferner der Umstand, dass sich die Menge der ästhetischen Kulturobjekte ungeheuer vergrößert und der Bereich des Ästhetischen um neue Gegenstands- und Erfahrungsbereiche erweitert hat (so des Designs, der Mode, der Reklame, des Self-Styling usw.). In beiden Tendenzen spiegelt sich die wachsende Bedeutung einer ästhetischen Stilisierung des Lebens in der modernen Gesellschaft. Und zweifellos wächst damit das Bedürfnis nach einer kritischen Beurteilung ihrer Tendenzen und Produkte. Diesem Bedürfnis nach unterscheidender Orientierung trägt gegenwärtig vor allem die außerakademische ästhetische Kritik (in Feuilleton, Rundfunk, Museum usw.) Rechnung. Dem Kritiker fällt die Aufgabe zu, neue Entwicklungen bekannt zu machen und einzuordnen, u.a. dadurch, dass er das auf den ersten Blick ästhetisch Störende, Unvertraute, Innovative in bestehende Interpretationsmuster und Deutungsnarrative einwebt bzw. diese Diskurse und Narrative öffnet, anpasst und dergestalt aktualisiert. Allerdings ist auch hier die Gefahr einer Verarmung des ästhetischen Diskurses unübersehbar. Sie schlägt sich in dem zunehmend prekären Stand des Kritikers und der ästhetischen Kritik nieder. Ästhetische Kritik im Sinne einer sachkundigen, sich präzise artikulierenden Charakteristik eines Gegenstandes, die seinem Anspruch auf Individualität und zugleich auf allgemeinere Bedeutung gerecht zu werden versucht, wird durch die Kundgabe eines „mag ich“ oder „mag ich nicht“, d.h. durch binär codierte Präferenzen kontingenter Subjektivität ersetzt, die sich auf Erfahrungen des Neuen, Anderen und Komplexen, überhaupt des Anspruchsvollen in seinem Anspruch nicht mehr einlassen will. Es ist daher an der Zeit, sich Gedanken über die ästhetische Kritik und ihre Funktion, Form, Sprache, Geschichte und Zukunft zu machen. Dazu soll die hier angekündigte Vortragsreihe beitragen.

 

 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 22.05.2018
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