Susanne Catrein
Forschungsvorhaben
Dissertation (abgeschlossen)
"Spielweisen und Wissen. Interdiskursive Bildung in den performativen Künsten"
Betreuer:innen: Prof. Dr. Henry Keazor, Dr. Alexandra Vinzenz
Die Theoretisierung von Spielweisen und die Begründung des Schauspiels als selbstständige Kunst ist eine Folge von Spezialisierungstendenzen und damit einhergehenden reintegrierenden Verknüpfungen mit anderen Wissensdiskursen. In meiner Studie untersuche ich mit interdiskursanalytischen, semiotischen und hermeneutischen Methoden sowie der Ästhetik des Performativen exemplarisch, wie die Ästhetik des Schauspiels und des Performativen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart reflektiert, realisiert und an verschiedene andere Wissensdiskurse, z. B. an die Psychologie, Medizin, Physiologie, Philosophie, Pädagogik, Anthropologie, Neurobiologie, Mathematik etc., gekoppelt wird.
Meinen umfangreichen Quellenstudien liegen für den Beginn der Theoretisierung des Schauspiels Texte von Pierre Rémond de Sainte-Albine, Francesco Riccoboni, Gotthold Ephraim Lessing, Denis Diderot und Johann Jakob Engel, für das 20. Jahrhundert theatertheoretische Schriften Konstantin Sergeevič Stanislavskijs und Bertolt Brechts sowie für das 21. Jahrhundert die Ästhetik des Performativen Erika Fischer-Lichtes zugrunde, deren Beziehungen zu anderen Wissensdisziplinen und damit verbundenen Bildungskonzepte ich analysiere. Stanislavskij vertieft auf der Basis zeitgenössischen Wissens mit seinem ‚System‘ die interdiskursive Suche nach einem Regelwerk für die Psychologisierung von Rollenfiguren, während Brecht in Theorie und Praxis vor allem deren Störung forciert. In den performativen Künsten seit den 1960er Jahren, denen sich Fischer-Lichte widmet, oszillieren die Körper der Akteur:innen zwischen Material- und Zeichenstatus, wodurch entweder deren Doppelheit im Interpretationstheater stärker ausgestellt wird, beispielsweise in Robert Wilsons Aufführungen, oder es gar nicht erst zu einer Verwandlung in eine Rollenfigur kommt wie bei Marina Abramović. Anhand ausgewählter Aufführungen wird in meiner Studie vorgeführt, wie die in den Schriften der Theoretiker des 18. Jahrhunderts, Stanislavskijs, Brechts sowie Fischer-Lichtes thematisierten, mit anderen Wissensdiskursen verbundenen Spielweisen realisiert, adaptiert, subvertiert oder aber synthetisiert werden. Dabei arbeite ich mit zeitgenössischen Uraufführungen, Stanislavykijs Drei Schwestern am Moskauer Künstlertheater (1901) und Brechts Dreigroschenoper am Berliner Ensemble (1928), sowie mit im 21. Jahrhundert auf deutschsprachigen Bühnen inszenierten Aufführungen, die zum Teil wie die Texte zur Ästhetik des Schauspiels und des Performativen mit interdiskursiven Verknüpfungen experimentieren und bestimmte Bildungskonzepte transportieren. In diesen Aufführungen gibt es entweder gar keine Figuren und Handlung mehr, z. B. bei Gob Squad, Tino Sehgal und Rimini Protokoll, oder aber sie lösen sich im Interpretationstheater Susanne Kennedys, Andreas Kriegenburgs und Robert Wilsons auf: in digitalen Pixeln, durch Verweistechnik oder polyphones Spiel. Einfühlung wird lediglich bei Wilson produziert, allerdings ausschließlich als vereinzeltes und störendes Element.
Mit meiner Untersuchung verfolge ich die These, dass die favorisierten Spielweisen mit ihren interdiskursiven Beziehungen jeweils ein spezielles Bildungskonzept verfolgen und sowohl die von mir ausgewählten Theorien als auch die exemplarischen Aufführungen der performativen Künste selbstreflexiv auf ihnen vorausgegangene Spielweisen reagieren. Daran schließt sich die Frage an, welche interdiskursiven Verknüpfungen, Bildungskonzepte und selbstreflexiven Elemente die jeweiligen Theorien und Aufführungen aufweisen.