Newsletter März 2009 Nr. 31

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Der Sinologe, das unbekannnte Wesen

Gibt es eigentlich so etwas wie den typischen Absolventen der Heidelberger Sinologie? Hinterlässt das Studium mehr als einen von vielen Posten im Lebenslauf? Eine Umfrage, die SHAN unter den Alumni des Instituts durchgeführt hat, beantwortet nicht nur diese Fragen, sondern bietet auch eine wertvolle Orientierungshilfe für Studium und Berufseinstieg

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"Es gibt nur sehr wenige deutsche Journalisten, die wirklich gut über China berichten."

Oliver Lutz Radtke studierte in Heidelberg Sinologie und ist eines der Gründungsmitglieder von SHAN e.V. Bereits während des Studiums arbeitete er an seiner Karriere als Journalist und Publizist. Momentan ist er als leitender Redakteur verantwortlich für den Onlineauftritt des deutsch-chinesischen Gemeinschaftsprojekts "Deutschland und China - Gemeinsam in Bewegung". SHAN traf Oliver Lutz Radtke während seiner Lesereise durch Deutschland, auf der er seine Chinaeinführung "Welcome to Presence" vorstellt.

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Rezension: Christian Y. Schmidt - Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Christian Schmidt, ehemaliger Redakteur des Satiremagazins "Titanic", hat alleine und ohne Sprachkenntnisse China bereist. Dabei reiste er auf der Straße 318, die, dem Yangtze folgend, mitten durch China verläuft, schließlich das tibetische Hochplateau erklimmt und den Reisenden dann über Lhasa bis nach Kathmandu führt. Seine oftmals kuriosen Erlebnisse und Eindrücke hat Schmidt nun in einem Buch veröffentlicht.

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Der Sinologe, das unbekannte Wesen

Sinologen sind ein bunt gemischtes Völkchen. Ebenso breit gefächert wie die Themen des Faches sind auch die Interessen und Lebensentwürfe der Studierenden. Dennoch, egal ob nun die Faszination für die traditionelle chinesische Kultur oder die Hoffnung auf Teilhabe am aktuellen Wirtschaftswachstum des Landes Anlass hierfür waren, ein Sinologiestudium bedeutet für den Großteil der Studierenden nicht nur einen langen gemeinsamen Weg, sondern eben auch ähnliche Erfahrungen. Und heißt es nicht immer, dass die konfuziansichen Beamten aus denselben Gründen eine recht homogene Gruppe darstellten?

Im letzten Jahr führte SHAN e.V. eine Umfrage unter den Alumni der Heidelberger Sinologie durch, an der 21 Personen teilnahmen. 66 Prozent der Befragten haben ihr Studium mit dem Magister abgeschlossen, 22 Prozent haben promoviert, und 5 Prozent besitzen einen Master. Unter den Befragten gab es keine Bachelorabsolventen, da dieser Abschluss erst 2005 eingeführt wurde.

Die Ergebnisse der Umfrage bieten am Fach Interessierten und den bereits Studierenden eine wertvolle Orientierungshilfe bei der Planung ihres Studiums und für ihre berufliche Perspektive. Gleichzeitig wird deutlich, dass es durchaus so etwas wie den/die typische/n Heidelberger Sinologen/in gibt. Diese/r hat sich bewusst für Heidelberg als Studienort entschieden. Nach dem Besuch des Propädeutikums war sie/er ein Jahr in China, wo sie/er ihre/seine bereits guten Grundkenntnisse der Sprache noch einmal deutlich verbessern konnte. Im Studium hat sie/er sich vor allem auf moderne Themen, insbesondere aus Politik und Wirtschaft, konzentriert. Dies hat sie/ihn zwar nicht unbedingt ideal auf den späteren Beruf vorbereitet, dennoch haben das Studium und China eine wichtige Rolle beim Einstieg in das Berufsleben und auch in der späteren Laufbahn gespielt. Rückblickend würde sie/er sich erneut für ein Sinologiestudium in Heidelberg entscheiden.

Während ihres Studiums hatte sich die Mehrheit der Befragten (71 Prozent) nicht für ein bestimmtes Berufsziel spezialisiert. 33 Prozent hingegen orientierten sich mit einer bewussten Entscheidung für eine bestimmte Fächerkombination und durch das Absolvieren diverser Praktika bereits frühzeitig in eine bestimmte Richtung. Darüber hinaus haben sich viele durch Sprachkurse und Nebentätigkeiten zusätzliche Qualifikationen erworben.

In den Berufsfeldern, in denen die Alumni nach ihrem Abschluss tätig waren, spiegeln sich die unterschiedlichen Interessen der Studierenden und ihre vielfältigen Möglichkeiten wieder. Diese reichen vom Bankwesen über Unternehmensberatungen, die Öffentlichkeitsarbeit und die Tourismusbranche bis hin zur akademischen Laufbahn. Dass sich diese Bandbreite auch im monatlichen Bruttoeinstiegsgehalt wiederspiegelt ist klar. 10 Prozent haben weniger als 1000 € verdient, 42 Prozent hatten ein Einstiegsgehalt bis zu 2000 €, und 14 Prozent haben bis zu 3000 € erhalten. Aktuell arbeiten über 80 Prozent der Befragten in einem Beruf mit Chinabezug.

Rückblickend waren für den Großteil der Alumni neben dem Spracherwerb Auslandserfahrungen, das Erlernen einer selbstständigen Arbeitsweise und eines analytischen Denkansatzes, sowie die geforderte hohe Flexibilität die wichtigsten Lehren aus dem Studium. 71 Prozent der Befragten würden Sinologie als Studienfach wieder wählen, 19 Prozent nicht. Die restlichen 10 Prozent würden das Fach wieder wählen, wenn sich außerhalb der Ostasienwissenschaften eine sinnvolle Kombination ergeben würde. Dies macht deutlich, dass zwar der Großteil der Alumni mit seinem Studium zufrieden ist, aber immerhin ein Drittel der Befragten ihrem Fach eher kritisch gegenüberstehen.


Die Ergebnisse im Einzelnen:


Studienort Heidelberg

Teilnahme am Propaedeutikum

Vorbereitung auf den Aufenthalt im Ausland

China-Taiwan

Dauer Auslandsaufenthalt

Sprache-Ausland

Sprache-Studium

Schwerpunkt im Studium



Spezialisierung

Abschluss

Einfluss auf die Berufswahl
China-Berufseinstieg
Einstiegsgehalt

Vorbereitung auf den Beruf

Chinabezug-Beruf
 

Cora Jungbluth, Jenin Thekkemuriyil (Konzeption, Durchführung und Auswertung), Sebastian Nikoloff (technische Umsetzung), Johannes Lejeune (Text).

 

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"Es gibt nur sehr wenige deutsche Journalisten, die wirklich gut über China berichten."

Oliver Lutz Radtke studierte in Heidelberg Sinologie und ist eines der Gründungsmitglieder von SHAN e.V. Bereits während des Studiums arbeitete er an seiner Karriere als Journalist und Publizist. Momentan ist er als leitender Redakteur verantwortlich für den Onlineauftritt des deutsch-chinesischen Gemeinschaftsprojekts „Deutschland und China – Gemeinsam in Bewegung“. SHAN traf Oliver Lutz Radtke während seiner Lesereise durch Deutschland, auf der er seine Chinaeinführung „Welcome to Presence“ vorstellt ( zur Rezension).

 

Herr Radtke, Ihr Sinologie-Studium haben Sie in Heidelberg absolviert, warum ausgerechnet hier?

Ausschlaggebend war das Sprachstudium. Ich habe mir an mehreren deutschen Unis, unter anderem in Leipzig, Bonn und Tübingen, das Propädeutikum angesehen. Dabei hat mir Heidelberg am besten gefallen. Zu sagen, dass man bitte alle Liebesbeziehungen, Hobbys und sonstige zeitraubenden Aktivitäten beenden soll, um für ein Jahr „volle Pulle“ Chinesisch zu lernen, das war abschreckend aber auch sehr reizvoll. Also dachte ich mir, wenn sie das in Heidelberg so ernst nehmen, sollte ich auch dort hingehen. Nach einem Jahr kann man sich in China bereits rudimentär verständigen, hat ein gewisses Selbstbewusstsein in der Fremdsprache entwickelt und ist motiviert weiter zu lernen. An dieser Stelle möchte ich Frau Stähle und Herrn Spaar für das Triezen und Prügeln meinen Dank aussprechen. Ein zweiter Entscheidungsfaktor war die damals bereits vorhandene Ausrichtung auf Chinesisch und Computer. Das zeigte, dass das Institut nicht rein historisch ausgerichtet, sondern der Gegenwart zugewandt und von einer gewissen Experimentierfreudigkeit geprägt war. Mit dem damaligen Bibliothekar Hanno Lecher habe ich 1999 gemeinsam das erste Intranet aufgebaut – mit Hilfe von reanimierten 3- und 486er PCs vom Institutsspeicher.

Sie haben SHAN e. V. selbst mit gegründet. Was war Ihre Motivation dafür und wo sehen Sie die Vorteile eines solchen Vereins?

Es gab in Heidelberg keine offizielle, formalisierte Anlaufstelle, die Alumni mit dem Institut verband. Daher haben wir uns Ende 2005 einen erfolgreichen Alumniverein der Uni Passau angeschaut, um Anregungen für unsere eigene Arbeit zu bekommen. Die Entscheidung für dieses Netzwerk war sicherlich auch von den Chinesen abgeguckt, die ja sehr viel Wert auf Beziehungspflege legen. Durch die Nutzung von Netzwerken entstehen Synergieeffekte, die man sonst nicht hat. Wenn ich beispielsweise einen Analysten in New York zurate ziehen kann, hilft mir das als Journalist in manchen Fragen sehr viel weiter. Ich hoffe, dass SHAN uns noch viele weitere Jahre erhalten bleiben wird.

Heute Abend werden Sie im Rahmen einer Lesereise durch Deutschland Ihr erstes Buch vorstellen, das 2007 erschien, und den ungewöhnlichen Titel „Welcome to Presence“ trägt. Was hat Sie zu diesem Titel inspiriert?

Der Titel ist eine Anspielung auf Chinglish – die wunderbar sympathische und leicht schräge Zusammenstellung von „Chinese“ und „English“, die Kombination von chinesischer Grammatik und englischem Wörterbuch. Gleichzeitig handelt es sich um einen programmatischen Titel, meinen Versuch einer Einführung in das zeitgemäße China.

Bleiben wir beim Thema chinesisches Englisch. Sie sind auch Autor der viel beachteten Webseite chinglish.de. Was wollen Sie mit dieser Seite bezwecken?

Auf Bauzäunen, zehn Meter großen Reklameschildern an der Autobahn, auf Kondomhüllen, Bleistiften, in Shopping-Malls und U-Bahn-Stationen – überall im Reich der Mitte treffe ich auf Übersetzungsblüten mit chinesischer Kulturcharakteristik. Oftmals erfolgt die Übersetzung mithilfe kostenloser Online-Wörterbücher. Dass diese kostenlos sind, sieht man in der Regel auch an der Übersetzung. Mit der Website möchte ich mich nicht über die Übersetzungspraxis lustig machen, sondern Chinas Bemühungen, sich dem Ausland zu öffnen, honorieren und die offizielle Erziehungspropaganda, die in vielen Chinglish-Schildern steckt, dokumentieren. Zweitens möchte ich den interessierten Usern klar machen, dass in den Übersetzungen sehr viel über die chinesische Kultur steckt. „Little grass has life. Please watch your step“ ist ein sehr gutes Beispiel für die Liebe der Chinesen zur Natur. Drittens übe ich offen Kritik an Firmen, die nach dem Motto arbeiten: „Wir sind in der WTO, also dürfen wir westliche Preise verlangen, brauchen aber nur ein Drittel der Leistung zu erbringen.“ Wenn ein Unternehmen so schlampig arbeitet und damit auch noch Geld verdienen will, dann darf ich mich sehr wohl darüber lustig machen

Von chinesischer Seite sind Sie dafür jedoch sogar angegriffen worden. Zwischen kultureller Kreativität und herablassender Arroganz – wie sehen Sie diese Problematik, die das Phänomen Chinglish aufwirft?

Ganz einfach: Bei 1,3 Milliarden Menschen in China kann man es nicht jedem Recht machen. Man muss darauf vorbereitet sein, dass einem Gegenwind ins Gesicht geblasen wird. Ich kann den chinesischen Usern, den wangyoumen, nur empfehlen, genauer hinzugucken. Mein Vorhaben mache ich über die Seite, meine Bücher und Talkshow-Auftritte deutlich genug. Nach dem ersten Sturm der Entrüstung nach Gründung der Seite 2005 hat sich die Mehrheit der chinesischen User, die die Seite kennen, inzwischen sehr dafür ausgesprochen und unterstützt mein Vorhaben. Das setzt natürlich ein gewisses Selbstverständnis voraus, eine gewisse Fähigkeit zur Selbstironie, über sich selbst lachen zu können. Und das können mittlerweile immer mehr Chinesen.

Seit 2008 leben und arbeiten Sie als Journalist in Beijing. Wie kommt man als Sinologe zum Journalismus?

Eine wichtige Erfahrung während des Studiums war die Mitarbeit bei der Heidelberger Studierendenzeitung Ruprecht. Herzliche Grüße an das Ruprecht-Team an dieser Stelle. Dort wird dreimal im Semester sehr basisdemokratisch eine Zeitung erstellt, eine gute Übung, um Distanz zum eigenen Text zu entwickeln und Stiltipps von erfahrenen Redakteuren zu bekommen. Weiterhin war ich bei verschiedenen Blättern, z. B. der Rhein-Neckar-Zeitung, als freier Mitarbeiter tätig und habe Hospitanzen bei der ARD in Shanghai oder der Bildzeitung in Berlin absolviert. Nach dem Studium war ich in Singapur beim Staatsfernsehen als Nachrichtenreporter beschäftigt. Seit 2008 arbeite ich in Peking für das deutsch-chinesische Gemeinschaftsprojekt „Deutschland und China – Gemeinsam in Bewegung“. Das Hauptthema lautet „Nachhaltige Urbanisierung“. Die Idee der Reihe ist es, das Bild Deutschlands als innovativen und verlässlichen Partner Chinas zu fördern und Aspekte der Nachhaltigkeit zu propagieren, in denen Deutschland Erfahrung hat. Ich bin als leitender Redakteur für den Onlineauftritt Deutschland-und-China.com verantwortlich: Webseitenpflege, den Inhalt, die Fernsehinterviews sowie die Berichterstattung über die Deutschlandpromenaden, die alle sechs Monate in einer großen Stadt in China stattfinden. Aus meiner Sicht sind Chinas Probleme längst keine nationalen Herausforderungen mehr. Wenn in China die Stahlnachfrage 50 Prozent des Weltmarkts ausmacht, dann interessiert das deutsche Autobauer auch. Deutschland müsste in der Hinsicht aktiver werden und ein stärkeres Eigeninteresse an der legalen Verbreitung von Know-How an den Tag legen. Deutschland genießt in China nach wie vor einen sehr guten Ruf. Wir sollten uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, bis wir schließlich nur noch für Beethoven und Becks-Bier bekannt sind.

Inwiefern unterscheidet sich Ihrer Erfahrung nach die Arbeit eines Journalisten in China von der in Deutschland, gerade hinsichtlich der Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit?

Wo man in Deutschland schreiben kann: „Bahnchef Mehdorn muss weg – 6 Gründe, warum der Bahnchef gehen muss“, da muss in China viel diskreter vorgegangen werden. Der chinesische Journalist würde etwa eine historische Parallele zum kaiserlichen Schatzmeister ziehen, der geköpft wurde, weil er damals die Finanzen in den Sand gesetzt hat. Diese Analogie würde jeder chinesische Leser verstehen. In China muss man stets eine Spur vorsichtiger, aber deshalb nicht unbedingt weniger kritisch schreiben. Chinesische Journalisten sind vielfach eine Spur klüger als westliche. Warum? Sie wissen sehr viel genauer Bescheid, was sie schreiben können und was nicht. Es gibt dahingehend einen schönen Spruch von Harald Schmidt, den er letztes Jahr während der Olympischen Spiele gebracht hat: Die Aussagen von deutschen Journalisten zu China, die in einem Pekinger Restaurant auf die Bilder zeigen müssen, um etwas zu essen zu bestellen, sollte man mit Vorsicht genießen. Insgesamt gibt es nur sehr wenige deutsche Journalisten, die wirklich gut über China berichten. Das liegt einfach daran, dass man die Sprache können muss und im Land leben sollte, um die großen und kleinen Veränderungen tatsächlich mitzubekommen. Diese Journalisten trauen sich dann auch, mal über positive Entwicklungen in China zu berichten. Ob das von den deutschen Redaktionen, die in ihrer China-Berichterstattung oftmals eine eindeutige Agenda verfolgen, so belassen wird, ist eine andere Frage. Die Deutschen haben ein sehr ambivalentes China-Bild, das zwischen der Klischee-Trias von der „gelben Gefahr“, der alten Hochkultur und dem Wirtschaftswunder hin- und her-schwankt. Ich versuche, etwa durch „Welcome to Presence“, meinen eigenen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, ein differenzierteres Bild an die Frau zu bringen.

Sie haben gerade schon die Olympischen Spiele in Peking erwähnt. Wie haben Sie persönlich diese wahrgenommen?

Ich stand am 8. 8. 2008 um 8 Uhr auf dem Tian’anmen Platz, beziehungsweise habe es versucht. Denn der Platz war um 20 Uhr gesperrt. Das lasse ich als Tatsache der Geschichte unkommentiert stehen, dass die Chinesen in der Minute ihres Triumphes, endlich die Olympischen Spiele ausrichten zu dürfen, einfach den zentralen Platz der Stadt dicht machen. Das, was im Fernsehen als großes, prachtvolles Feuerwerk ausgestrahlt wurde, dieses Spektakel von Feuerwerkskörpern vom Tian’anmen-Platz hoch zum Vogelnest, begann auf dem Tian’anmen-Platz mit zwei kleinen „Blöffs“. So fingen für mich die Olympischen Spiele in Beijing an. Mein genereller Eindruck ist, dass die Spiele sehr gehypt worden sind, dass die Aufregung um die Spiele in den Medien, vor allem den westlichen, viel größer war als im Land selbst. Die Leute haben die Spiele daheim vor dem Fernseher verfolgt. Es gab in Peking zwar öffentliche Public Viewing Plätze, aber die Atmosphäre war nicht mit der WM 2006 in Deutschland vergleichbar. Die Spiele waren keine entspannte, volksnahe Veranstaltung. Viele Menschen waren im Moment des Augenblicks sehr stolz auf das Event, aber mittlerweile sind die Olympischen Spiele im kollektiven Gedächtnis vollkommen untergegangen. Die Kurzlebigkeit nationaler Großevents, die mediale Selbstinszenierung, ist symptomatisch für die generelle Entwicklung des Landes.

Im Rahmen der Olympischen Spiele hat die chinesische Regierung versucht, schlechtes und missverständliches Englisch aus dem Stadtbild verschwinden zu lassen. Wie schätzen Sie den Erfolg dieser Kampagne ein?

Bei den offiziellen amtlichen Schildern ist das sehr gut gelungen. Ich befürworte standardisiertes Englisch dort, wo es um lebensrettende Maßnahmen geht. Ich bin jedoch traurig, wenn Chinglish aus dem halb-staatlichen, halb-öffentlichen Bereich verschwindet wie zum Beispiel auf Parkschildern oder Speisekarten. Hier zeichnet sich allerdings nur ein geringer Erfolg der Kampagne ab. Solange in China jemand eine Nudelbude aufmacht, wird Chinglish gedeihen wie eh und je.

Aus aktuellem Anlass noch eine letzte Frage: Konnten Sie bereits Auswirkungen der Finanzkrise im alltäglichen Leben in China beobachten?

Zur Zeit des Frühlingsfestes müssten die Bahnhöfe der größeren Städte überlaufen sein mit Millionen von Wanderarbeitern, die aufs Land zurückkehren. Das ist aber nicht der Fall. Die Bahnhöfe sind gespenstisch leer. Man bekommt sofort eine Fahrkarte. Das ist zwar sicher bequem, aber volkswirtschaftlich gesehen ein eindeutiges Indiz für eine größere Katastrophe. Mehrere zehn Millionen Jobs sind hier verloren gegangen. Es gibt zwar Bemühungen, die Wanderarbeiter wieder in ihre Dörfer einzugliedern. Aber das geschieht in Dimensionen, die für uns Europäer schwer vorstellbar sind. Heidelberg hat beispielsweise um die 145.000 Einwohner. Wenn davon 30.000 auswärts arbeiten und nun plötzlich auf einen Schlag zurückkommen – das ist etwa ein Fünftel der Einwohnerzahl –, dann müssen diese ja irgendwo wohnen. Dabei tun sich sozial, hygienisch und infrastrukturell enorme Probleme auf. Insofern wird 2009 ein sehr, sehr spannendes Jahr. Und zwar nicht nur wegen zahlreicher Jubiläen wie das der Staatsgründung oder 1989, sondern gerade wegen des Umgangs mit der Finanzkrise von Seiten der chinesischen Regierung. Ich bin sehr dankbar, dass ich in diesen spannenden Zeiten vor Ort sein kann.

Herr Radtke, vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Cora Jungbluth.

 

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Rezension: Christian Y. Schmidt - Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Das Schönste an selbständig unternommenen Reisen sind oft die Kuriositäten und die außergewöhnlichen Menschen denen man begegnet – zumal in Asien. Der Abkömmling des Königshauses, den man in Laos im Fitnesstudio getroffen hat; die Uighurin, die von Unterdrückung und Tod im Freundeskreis durch Han-Chinesen und ihr Dasein als Geliebte eines eben solchen erzählt; oder einfach nur den komischen Kauz, den man irgendwo, sagen wir irgendwo in China, im Zug trifft und mit dem man unerwartet ins Gespräch kommt. Solche Erlebnisse sind es, die, wieder zu Hause angekommen, für viel Erzählspass und Verwunderung bei Angehörigen und Freunden sorgen, mehr noch als das übliche Strand- oder Stadtdschungelfoto.

Christian Schmidt, einst Redakteur beim Satiremagazin "Titanic" und heute mit einer Chinesin verheirateter, in China lebender freier Autor und Journalist, verspricht mit diesem Titel ein Potpourri an solchen Geschichten. Er nimmt sich aus allerlei Gründen ("meine Schwiegereltern erwarteten, dass ich mal was tat", "der alte Chinese auf dem Hof meines Pekinger Wohnblocks fragte mich jeden Tag: was machst du hier eigentlich?") vor, allein und ohne Chinesischkenntnisse quer durch China zu reisen.

Angefangen von Shanghai zieht sich die Straße 318 mitten durch China, folgt dem Yangtze, geht durch Chengdu und führt weiter auf das tibetische Hochplateau über Lhasa bis nach Kathmandu, der Hauptstadt Nepals. Dieser Reiseroute folgt er.

Entsprechend erzählt er von Begegnungen mit als "Laowai-Forschern" bezeichneten Chinesen im Bus, Verständigungsproblemen, Missverständnissen mit Prostituierten in Massagesalons und eben den üblichen Gedanken, die einen Einzelreisenden zwischendrin packen können. Oft ist das unterhaltsam, nicht zuletzt weil der Autor in den siebziger Jahren Maoist war ("ich war in einem Alter, in dem man ein gewisses Recht auf Blödheit hat"). Die in dieser Hinsicht ironischen Momente zählen zu den Höhepunkten des Buches, wenn er etwa einem Chinesen erklärt, warum Mao dafür verantwortlich sei, dass der Autor und seine Sinnungsgenossen damals zur Bundeswehr gegangen sind.

Es sind solche interessanten Details, auch zu den von Schmidt besuchten Orten, die das Buch über humorvolle Betrachtungen hinaus lesenswert machen. Leider findet sich davon viel zu wenig, und ein klein wenig stört es nach einer Weile, wenn wieder ein Kapitel über eine weniger spannende Episode zu Ende geht. Diese werden dafür mit Betrachtungen über sich selbst, über die Sprachprobleme oder über das ausgemachte Ziel des Autors, "so chinesisch wie möglich" werden zu wollen, aufgefüllt. Anfangs ist das noch unterhaltsam, aber irgendwann erscheint es als zuweilen weinerlich, und dafür kauft man sich dieses Buch einfach nicht. Andererseits sind einige an der Grenze zum Klischee ("die Chinesen…") geschriebenen Passagen auch unterhaltsam und kurzweilig. Und nicht zuletzt macht das Buch sympathisch, dass der Autor alles mit einer guten Portion Selbstironie betrachtet.

Letztlich bietet das Buch für einen Chinabegeisterten, der dort auch bereits unterwegs war, eine nette Lektüre, die meist zu unterhalten weiss, mehr jedoch nicht. Allerdings trifft der Autor viele Eigenheiten und Kuriositäten, die einem in China begegnen, wunderbar auf den Punkt und schreibt in einem beschwingt-humorigen Stil, der das Buch für jeden zu einer kurzweiligen Lektüre macht. Gleichzeitig erwischt man sich bei dem Gedanken, ob man nicht auch mal die Straße 318 entlang reisen möchte.

 

Benjamin Kemmler

 

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Zuletzt bearbeitet von: AF
Letzte Änderung: 04.12.2014
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