Newsletter Januar 2010 Nr. 40

INHALT

So Sorry! Ai Weiwei

"So Sorry!" ist der Titel von Ai Weiweis jüngster Ausstellung in Deutschland, die noch bis zum 17. Januar im Haus der Kunst in München zu sehen ist. Der Titel spielt auf die Entschuldigungen an, die regelmäßig von Politik- und Finanzwelt weltweit vorgebracht werden. Kristina Bodrozic-Brnic hat sich die Ausstellung für uns angeschaut.

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Sushi für Zwei: Wolfgang Kubin über Leung Ping-kwan

Über Essen wurde viel geschrieben, viel gedichtet. Wie groß der Genuss beim Lesen sein kann beweist der Künstler Leung Ping-kwan, der mit seiner kreativen Wortwahl humorvolle Poesie schafft. Kubin bezeichnet ihn als Mutlitalent, was nur bestätigt werden kann. Während Goethe allenfalls den Appetit auf ein zünftiges Bier anregte ("Ein starkes Bier, ein beizender Tobak und eine Magd in Putz, das ist mein Geschmack."), möchte man nach Leungs Lektüre sofort in die hohe Kunst des Sushi-Rollens eingewiesen werden.

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Die Langen Märsche vor 75 Jahren

Vor 75 Jahren, vom 15. bis 17. Januar 1935, fand die berühmte Zunyi-Konferenz statt. Dr. Thomas Kampen erinnert in seinem Beitrag an die Langen Märsche, die auf die Flucht der Kommunisten aus ihren Stützpunkten in Mittel- und Südchina folgten.

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Rezension: "Ferne Quellen" von Alai

Lousie Raasch hat das nun ins Deutsche übersetzte Buch des 1959 in Nordsichuan geborenen Alai für SHAN rezensiert. Berühmtheit erlangte der Autor - auch in Deutschland - durch seinen ersten Roman "Roter Mohn". Dabei stellt sich auch die Frage, wie ein tibetischer Schriftsteller trotz seiner durchaus kritischen Ansichten relativ ungehindert in China schreiben kann.

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"Die Verbesserungen übertreffen alles, was ich mit vorgestellt habe" - Interview mit Jing Yongming

Bei einer von SHAN organisierten Lesung im letzten Jahr präsentierte Jing Yongming den Zuhörern Auszüge aus seinem Werk „Pekinger Zugvögel“. SHAN traf ihn nach der Veranstaltung zu einem kurzen Gespräch über die Lebensbedingungen der Wanderarbeiter, seine Bücher und sein Restaurant.

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"Die schöne Diao Siam" - Zweite Vorstellung

Im Weihnachtsnewsletter haben wir vom großen Erfolg des taiwanesischen Puppentheaters auf der Weihnachtsfeier des Instituts für Sinologie berichtet. Für alle, die die Aufführung verpasst haben, gibt es gute Nachrichten: Das Stück wird am Dienstag, den 26.01.2010, um 18.30 Uhr in Raum 136 des Institut für Sinologie (Akademiestraße 4-8, 69117 Heidelberg) noch einmal gezeigt!


So Sorry! Ai Weiwei

So Sorry! ist der Titel Ai Weiweis jüngster Ausstellung in Deutschland, die noch bis zum 17. Januar im Haus der Kunst in München zu sehen ist. Der Titel spielt auf die Entschuldigungen, die regelmäßig von Politik- und Finanzwelt weltweit an uns herangetragen wird, an. Dass Ai Weiwei ein Künstler mit politischem Background ist, ist in Deutschland durch seine Medienpräsenz sehr bekannt.

Denn kurz vor der Eröffnung der Ausstellung machte Weiwei Schlagzeilen mit seiner Notoperation in einem Münchner Krankenhaus. Die diagnostizierte Gehirnblutung geht zurück auf einen Konflikt mit der chinesischen Polizei in Chengdu, wo Weiwei eigentlich für einen seiner Mitarbeiter vor Gericht aussagen sollte. Der Künstler und ein von ihm gegründetes Team machten auf die Baumängel der beim Erdbeben von Sichuan im Mai 2008 eingestürzten Schulbauten aufmerksam. Sie kritisierten, dass ohne die Fahrlässigkeiten mehr Schüler aus den Gebäuden hätten entkommen können. Außerdem veröffentlichten sie eine Liste mit den Namen der verstorbenen Kinder auf Ai Weiweis ehemaligem Blog bei Sina.com.

Trotz der Schließung des Blogs setzt sich Weiwei weiterhin mit dem Tod der Kinder auseinander. So finden sich Spuren der Geschehnisse unter anderem in seinem Werk "Remembering, 2009“, das Teil der Münchner Ausstellung ist. Wer auf das Haus der Kunst zuläuft, erkennt es kaum wieder, denn 9000 Kinderrucksäcke kleiden die Fassade des Baus. Das Werk ist wie ein Mosaik aus Stoff zusammengesetzt, die farbliche Gestaltung der Rucksäcke ergibt den klar erkennbaren Schriftzug "Ta zai zhe ge Shijie shang xin de shenghuo guo qi nian"

(她在这个世界上心的生活过七年) was heißt: "Sie lebte sieben Jahre glücklich auf dieser Welt".  Eine beeindruckende Einleitung!

Betritt man die Vorhalle, so klären diverse vergrößerte Zeitungsartikel und Fernsehmitschnitte über die Situation des Künstlers und seine Vergangenheit auf. Er ist Sohn des während der Kulturrevolution zwangsversetzten Dichters Ai Qing. Die Familie lebte gezwungenermaßen ein Leben in Armut in der Stadt Dongbei, das den Künstler sehr prägte. Die Erfahrungen seiner Kindheit, die nicht leicht war, drücken sich auch in der Zusammenarbeit in seinem Team aus. Es herrscht Meinungsfreiheit und Respekt, angemessene Gehälter sind keine Frage, jeder wird gleich behandelt. Hier muss das großflächig angelegte Werk "Though" von 2007/2008 erwähnt werden. Weiwei stellte einfachen Tischlern das Material zur Verfügung und bat sie, einfach das zu machen, wonach ihnen der Sinn stand.

Und was kam heraus? Die durchaus künstlerisch begabten Handwerker präsentierten einen Drachen, der, aus der Vogelperspektive betrachtet, die wichtigsten Knotenpunkte der VR China aufzeigen sollte.

Das Ai Weiwei ein Künstler der Superlative ist, zeigte er bereits 2007 bei der Dokumenta 12 in Kassel, wo er für sein Werk "Fairytale" 1001 ChinesenInnen, einschließlich seiner selbst, einfliegen ließ. Auf diese Weise bot sich den Teilbehmern die Gelegenheit für einen kulturellen Austausch mit Deutschland und Europa außerhalb Chinas. In München sind nun die Bilder der TeilnehmerInnen sowie das Video zur Aktion, an dem die deutsche Filmemacherin Ursula Scheid in großem Maße beteiligt war, zu sehen.

Die übergroßen Werke, wie beispielsweise der im Haus der Kunst ausgestellte "Soft Ground", lassen den Besucher erahnen was für ein großes Team hinter dem Künstler Ai Weiwei steht. Für diesen 10615 x 35615 Meter großen Teppich, der den historischen Boden samt seiner Beschädigungen des Hauses imitiert, brauchte man allein 20 Leute zum Verlegen. Die Anzahl der Mitarbeiter aus der Wollweberei in Hebei ist zwar unbekannt, aber sicher nicht unerheblich gewesen, denn in nur 90 Tagen wurde die Kopie der 969 Fliesen der Halle 2 im Haus der Kunst gefertigt. Wer dies und mehr mit eigenen Augen sehen will, hat noch bis zum 17. Januar Gelegenheit dazu.

Auf der Finnisage am letzten Ausstellungstag wird Pascal Filiu-Derleth, Leiter des Institut Français, eine Einführung geben.

 

Kristina Bodrozic-Brnic

 

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Sushi für Zwei: Wolfgang Kubin über Leung Ping-kwan

In seiner Nachbemerkung zu „Von Jade und Holz“ bezeichnet Wolfgang Kubin den Dichter Leung Ping-kwan (梁秉鈞) „als eine Multibegabung unter der auf Chinesisch schreibenden Schriftstellerzunft.“ Mancher vergleicht Leung Ping-kwan und seinen Stil mit dem französischen Dichter Antoine Emaz (Marchand 2003). Nach Marchand „[…] betonen die beiden Autoren die Schönheit, die normalerweise [unserer] Aufmerksamkeit entgeht und drücken diese Schönheit aus in der einfachsten und anscheinend zugänglichsten Sprache“

Wer ist Leung Ping-kwan? Leung Ping-kwan, ein Hongkonger Dichter, schrieb viele Gedichte über das Essen von den Orten, an denen er früher gewesen war. Im Gespräch mit Wolfgang Kubin in der Veranstaltung „Literarische Begegnung: Hongkong, Wolfgang Kubin im Gespräch mit Leung Ping-kwan“ im Internationalen Zentrum der Frankfurter Buchmesse, wurde ihm eine Frage über die Beziehung zwischen Essen und seinen Gedichten gestellt. Ohne Zweifel müsse man jeden Tag essen, um weiterzuleben, gab er zu bedenken. Wenngleich große Ereignisse, wie Revolution, wichtige Themen für viele Schriftsteller seien, so schreibe er gerne über das Alltägliche und kleine Dinge wie eben das Essen. Für ihn sei Essen ein wichtiges Thema, da es uns durch seinen verschiedenen Geschmack, durch Zutaten und Farbe die Kultur eines jeweiligen Landes näher bringe. Er las das Gedicht „Sushi für Zwei“, das er in Hochchinesisch schrieb, in kantonesischer Aussprache vor.

„Ich möchte Seetang sein, der dich einrollt, doch magst du meinen plumpen Leib umsäumen? Kannst du helle Seeigeleier auf mir ertragen? Eine Liebe zu dir ist auch eine Liebe zu Tintenfisch, Gurke und Krabbe.“

(Sushi für Zwei von Leung Ping-kwan aus dem Gedichtband „Von Jade und Holz“ s. 126)

Das Gespräch zwischen Leung Ping-kwan und Wolfgang Kubin, Professor des Sinologischen Seminar der Universität Bonn, wurde auf Chinesisch geführt. Als Leung Ping-kwan gefragt wurde, warum er nicht nur in China beliebt sei, sondern auch in deutschsprachigen Ländern, antwortete er ironisch: „Weil ich einen schönen Namen habe.“ Das Publikum lachte. „Ich finde, dass meine Beliebtheit in der Besonderheit meiner Ansichten liegt, die mich von anderen chinesischen Autoren unterscheidet, Ich versuche, verschiedene Aspekte und Perspektiven in meinen Werken aus zu drücken,“ fügte er noch an.

Auf die Frage von Wolfgang Kubin, was er von der Ansicht vieler Chinesen und Ausländer halte, welche Hongkong zur Kulturwüste verdammten, antwortete Leung Ping-kwan lächelnd: „Hongkong hat sich in der letzten Zeit sehr verändert. Jetzt ist die Stadt ein Kultur- und Wirtschaftszentrum in Asien geworden. Viele Schriftsteller aus Hongkong haben sich auch bemüht, der Welt in ihren Werken die Kultur der Stadt vorzustellen.“ Leung Ping-kwan wurde auch zu einem Blick in die Zukunft aufgefordert. Es wurde gefragt, ob die beiden Autorengruppen aus Hongkong und Festlandchina zusammenwachsen oder nebeneinander bestehen bleiben werden. Leung antwortete nicht direkt, sondern gab ein Beispiel: Das in Hongkong sehr beliebte Getränk Yuan-Yang, das aus einer Mischung von Kaffee und Tee zubereitet wird, bezeichnete der Dichter in einem seiner Werke als „Glückliches Paar“, ein perfektes mix and match-Getränk. Er meinte, Schriftsteller aus China und Hongkong sollten ihre Meinungen miteinander austauschen und voneinander lernen, um die Kultur von beiden Seiten besser zu verstehen.

„Heißes Wasser auf fünf verschiedene Sorten, dann den kräftigen Tee mit Milch, in Beuteln oder in sagenhaften Socken vorsichtig gemengt, in eine Kanne gegossen. Über kurz oder lang macht sich ein Aroma bemerkbar. Hat man es noch im Griff das rechte Maß? Oder wenn man Tee mit Milch in eine Kaffeetasse schenkt? Das kräftige Gebräu duldet nichts an seiner Seite, es verflüchtigt den Partner…“ (Ein glückliches Paar von Leung Ping-kwan aus dem Gedichtband „Von Jade und Holz“ s. 110).

Seine Gedichtsammlung „Von Jade und Holz“ wurde in einer Buchpräsentation mit einer Lesung und anschließendem Gespräch, vorgestellt. Wer Interesse hat, kann das Programm auch als Podcast aus dem Online-Archiv hören oder herunterladen: http://www.literadio.org .

Die Gedichtsammlung „Von Jade und Holz“ wurde herausgegeben von der EDITION MILO des Drava Verlags. Dieser Gedichtband erzählt die Geschichte von Leungs Reise um die Welt, von China, von seiner Heimatstadt Hongkong, und vom Essen. Leung Ping-kwan spielt auf kreative Weise mit Worten, und schafft so eine eigene Stimmung in seinen Werken. Seine Sprache verbindet seine eigene Geschichte, die klassischen Gedichte der Tang-Dynastie sowie lange und freie postmoderne Erzählungen.

Arisa Ratanapinsiri

 
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Die Langen Märsche vor 75 Jahren

 

In den Jahren 1934/35 eroberten die zahlen- und waffenmäßig überlegenen Truppen der Guomindang (GMD/KMT) und der mit ihr verbündeten Militärmachthaber die kommunistischen Stützpunkte in Mittel- und Südchina.

Die Flucht

Die Fluchtmanöver der Roten Armee entwickelten sich zu „Langen Märschen“, die anfangs weder als solche geplant noch so bezeichnet wurden. Insgesamt waren daran vor allem vier Armeen beteiligt, die aus ihren jeweiligen Stützpunkten nacheinander aufbrachen: 1. Armee, 25. Armee, 4. Armee und 2. Armee. Die 1. und 4. Armee besaßen zu Beginn der Märsche jeweils mehr als 80.000 Soldaten, die 2. und 25. Armee jeweils weniger als 10.000, die Gesamtzahl lag zu Beginn bei etwa 180.000 Soldaten. Die 1. Armee traf im Herbst 1935 – nach Verlust von 90% ihrer Soldaten – im Norden der Provinz Shaanxi ein, die anderen Armeen folgten bis zum Herbst 1936; insgesamt erreichten weniger als 60.000 Soldaten den neuen Stützpunkt in der Nähe von Yan’an.

Die Vertriebenen

Die Vertreibung der Kommunisten aus den politisch und wirtschaftlich wichtigsten Provinzen und die Vernichtung von mehr als zwei Dritteln der Roten Armee waren ein Triumph für die GMD und eine Niederlage für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Dennoch wird das knappe Überleben von Partei und Armee seit Jahrzehnten als Sieg und der Lange Marsch als Beginn der kommunistischen Eroberung Chinas dargestellt. Hierbei steht der Marsch der 1. Armee, an dem die wichtigsten Politiker der späteren Volksrepublik China – Mao Zedong, Zhou Enlai, Liu Shaoqi, Lin Biao, Chen Yun und Deng Xiaoping – teilnahmen, meist im Vordergrund.

Darüber hinaus wird seit 1949 sowohl in der offiziellen Geschichtsschreibung der KP als auch in westlichen Darstellungen die Bedeutung der personellen Veränderungen in der Partei- und Armeeführung besonders hervorgehoben. Danach soll Mao Zedong im Januar 1935 auf der Konferenz von Zunyi (in Guizhou) die bis dahin dominierende stalinistische Fraktion kritisiert und ausgeschaltet haben und selbst den Posten des Partei- bzw. Politbürovorsitzenden übernommen haben. Diese Darstellung wird jedoch durch die seit den 80er Jahren zugänglichen chinesischen Quellen widerlegt.

Die Zunyi-Konferenz

In den ersten zwei Monaten nach ihrer Flucht aus Jiangxi hatte die vom Politkommissar Zhou Enlai, dem Parteichef Qin Bangxian und dem deutschen Komintern-Berater Otto Braun geführte 1. Armee bei schwierigen Kämpfen in Hunan und Guangxi etwa zwei Drittel ihrer Soldaten verloren. Daraufhin forderten einige Partei- und Militärführer eine Änderung der bisher verfolgten Strategie, die sowohl zum Verlust des Sowjetgebietes als auch zu den Niederlagen zu Beginn des Marsches geführt hatte. Auf der erweiterten Politbürotagung von Zunyi, die – nach neueren chinesischen Recherchen – vom 15.-17. Januar 1935 stattfand, kritisierten vor allem Zhang Wentian und Mao Zedong sowie der stellvertretende Vorsitzende der Militärkommission, Wang Jiaxiang, die Militärstrategie, jedoch nicht die politische Linie der Parteiführung. Abgesehen von der Entmachtung Otto Brauns, die schon vor der Konferenz vollzogen worden war, gab es zunächst keine Neuordnung der Parteiführung. Erst im folgenden Monat erklärte sich Qin Bangxian bereit, den Posten des Generalsekretärs der KP Chinas an Zhang Wentian abzugeben. Da beide ebenso wie Wang Jiaxiang in Moskau studiert und der stalinistischen Gruppe der „28 Bolschewiken“ angehört hatten, bedeutete dies keine wesentliche Veränderung der Machtverhältnisse. Mao Zedong wurde zwar in das ZK-Sekretariat aufgenommen und im März an der Militärführung beteiligt, aber nicht zum Partei- oder Politbürovorsitzenden gewählt; anders lautende Darstellungen sind schon deshalb unzutreffend, weil es diese Ämter in den dreissiger Jahren noch nicht gab.

Im Sommer 1935 kam es beim Zusammentreffen der von Zhou Enlai geführten 1. Armee und der von Zhang Guotao geführten – zu jener Zeit viermal so großen – 4. Armee im Nordwesten Sichuans zu einem heftigen Machtkampf. Im Laufe dieser Kontroverse, in der die vorher zerstrittenen Führer der 1. Armee weitgehend zusammenhielten, gab Zhou Enlai den Posten des Politkommissars an Zhang Guotao ab und verlor damit – für immer – seine Führungsposition in der Armee.

Die Trennung

Nach der bald darauf folgenden Trennung der beiden Armeen erlitt die 4. Armee, die nun von Zhang Guotao und Zhu De geführt wurde, große Verluste und traf erst ein Jahr nach der 1. Armee in Nord-Shaanxi ein. Der politisch geschwächte und im Politbüro isolierte Zhang Guotao verließ im Frühjahr 1938 die KP und lief zur GMD über. Dies ist ein wesentlicher Grund für die langjährige Vernachlässigung der 4. Armee in der Geschichtsschreibung. Von den Misserfolgen Zhou Enlais und Qin Bangxians in der Anfangsphase des Marsches und dem Scheitern Zhang Guotaos und Zhu Des in der Spätphase profitierten langfristig der neue Generalsekretär Zhang Wentian sowie Mao Zedong, Wang Jiaxiang und Liu Shaoqi.

Die Ankunft in Nordwestchina

Während des Langen Marsches konnte Mao jedoch noch nicht die Macht übernehmen, sein Aufstieg war ein langwieriger Prozess, der 1937 durch die Rückkehr Wang Mings aus Moskau noch einmal verzögert wurde. Mao wurde erst am 20. März 1943 zum Vorsitzenden des Politbüros und Sekretariats und 1945 zum ZK-Vorsitzenden ernannt.

Die Geschichtsschreibung

In der Volksrepublik China gilt die Konferenz von Zunyi als offizielle „Amtsübernahme“ Maos; dies wurde von vielen westlichen Autoren widerspruchslos übernommen. Damit konnte von den Misserfolgen Zhous und dessen Konflikt mit Mao abgelenkt und die Hauptverantwortung für die damaligen Fehler und Verluste dem schon 1946 verstorbenen Qin Bangxian zugeschoben werden. Auch nach dem Tode Mao Zedongs und Zhou Enlais wurde an dieser Darstellung festgehalten und im Januar 1985 – beim 50. Jahrestag der Konferenz – die Teilnahme der damaligen Politbüromitglieder Chen Yun, Deng Xiaoping und Yang Shangkun an diesem „historischen“ Ereignis besonders betont. Für Yang Shangkun, als einem der – offiziell – 1935 ausgeschalteten „28 Bolschewiken“, war der 50. Jahrestag ein Schritt auf dem Weg zur Übernahme des Amtes des chinesischen Staatspräsidenten (1988-93).

Literatur:

Braun, Otto, Chinesische Aufzeichnungen, Berlin 1973.
Kampen, Thomas, „The Zunyi Conference and further Steps in Mao’s Rise to Power“, China Quarterly, 117 (1989), 118-134.
Kampen, Thomas, Mao Zedong, Zhou Enlai and the Evolution of the Chinese Communist Leadership, Copenhagen, 2000.
Salisbury, Harrison E., The Long March – the Untold Story, New York 1985.
Short, Philip, Mao – A Life, New York, 1999.

Dr. Thomas Kampen

 

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Rezension: "Ferne Quellen" von Alai

Ein scheuer Junge im tibetischen Grenzland beneidet Gongba, den schuppengesichtigen Pferdehirten, um sein Einsiedlerdasein. Dieser war nach Ausbruch einer Hautkrankheit von seiner Frau verlassen worden und lebt nun fern vom Dorf, bei den Quellen, und hütet die Pferde. Der Junge besucht ihn immer wieder und lauscht seinen Geschichten. So erfährt er auch von den fernen Quellen, die heißer als die hiesigen seien und alle Krankheiten zu heilen vermögen.

„[…] die Sehnsucht nach den heißen Quellen war in mir geweckt. Diese Quellen gaben meinem Fernweh erstmals ein konkretes Ziel. Sie wollte ich sehen, diese wahrhaft heißen, fernen, wunderkräftigen Quellen. Ich war ein so wortkarges Kind, dass sich meine Eltern nichts sehnlicher wünschten, als das ich unter Menschen ohne Hemmungen und mit lauter Stimme sprechen könnte. Die fernen Quellen, dachte ich, würden mich bestimmt von dieser Schwäche kurieren.“ (S. 15)

Alai erzählt die Geschichte aus der Sicht eines alternden Schriftstellers und Photographen, der seine Kindheitserinnerungen niederschreibt. Jahre später erfüllt er sich seinen Traum und reist zu den sagenumwobenen „Fernen Quellen“, doch der Traum löst sich auf, als er ankommt. Dort wo früher die Nomaden aus allen Richtungen hin ritten und Frauen und Männer gemeinsam nackt badeten, findet sich nun eine Betonlandschaft: Die fernen Quellen sind Opfer eines gescheiterten Tourismus-Projekts geworden.

Die Geschichte handelt von Fernweh und Heimweh; von einem Tibet, das es so nicht mehr gibt, denn auch hier hinterließ die Kulturrevolution während seiner Kindheit in den 60er Jahren ihre Spuren. Dennoch vermag Alai es, den Leser zum Träumen von seiner Heimat zu verführen.

Alai wurde 1959 im tibetischen Grenzland in Nordsichuan geboren. In den 80er Jahren begann er, Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift Tibetische Literatur zu veröffentlichen. In Chengdu, wo er heute als freier Schriftsteller lebt, wurde er zum Chefredakteur von Science Fiction World, dem größten Science-Fiction-Magazin Chinas. Berühmtheit erlangte er – auch in Deutschland – durch seinen ersten Roman Roter Mohn, der 2004 in deutscher Sprache erschien.

Auf der Frankfurter Buchmesse, bei der von Seiten der deutschen Presse gerne eine Unterteilung zwischen Dissidenten am Rande und Staatsschriftstellern auf der anderen Seite zelebriert wurde, war Alai, Angehöriger der tibetischen Minderheit, im zweiten Lager zu finden. Wie ein kritischer Tibeter in die offizielle Delegation des chinesischen Schriftstellerverbandes kam, darüber kann nur spekuliert werden.

Ist Kritik in Maßen also erlaubt, um dem Vorwurf der Zensur zu entgehen? Schließlich beschränkt sich seine Kritik weitestgehend auf die „unruhigen Zeiten“ während der Kulturrevolution und die Zerstörung der Schönheit der Natur durch die Geldgier der Kader. Die Kulturrevolution und die Kehrseiten der Moderne, das sind Themen, die ganz China betreffen. Tibet wird also nicht als Sonderfall behandelt, wodurch das Buch eines kritischen Tibeters nicht die politische Brisanz erhält, die ein westlicher Leser vielleicht erwartet hätte.

Alai (2009): Ferne Quellen (dt. Übersetzung: Marc Hermann)
ISBN-13: 978-3293004054
Originaltitel: Yaoyuan de Wenquan
Zürich: Unionsverlag


Louise Raasch

 

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"Die Verbesserungen übertreffen alles, was ich mit vorgestellt habe" - Interview mit Jing Yongming

Jing Yongming wurde 1958 in Chifeng in der Inneren Mongolei geboren. Er ist Han-Chinese und lebt und schreibt heute in Peking. Bei einer von SHAN organisierten Lesung im letzten Jahr präsentierte er den Zuhörern Auszüge aus seinem Werk „Pekinger Zugvögel“, in dem er sich mit dem Leben der Wanderarbeiter auseinandersetzt. SHAN traf ihn nach der Veranstaltung zu einem kurzen Gespräch:


SHAN: Herr Jing Yongming, Sie sind erst vor Kurzem in Deutschland angekommen. Hatten Sie schon Zeit, sich ein bisschen umzusehen?

Jing: Leider gar nicht. Außer heute, da habe ich das Heidelberger Schloss gesehen.

Sie befassen sich in einigen ihrer jüngsten Werke mit dem Thema Wanderarbeit, so zum Beispiel  in „Ein Pekinger Zugvogel“. Sie haben eben während der Lesung gesagt, dass Sie mit Wanderarbeitern zusammen gelebt haben. Wie darf man das verstehen?

Ganz genau stimmt die Aussage so nicht. Als ich mein Restaurant eröffnete war ich der Chef und sie waren die Angestellten. Wir haben nicht im selben Raum geschlafen, aber wir haben zusammen gegessen. Ich habe nicht nur gekocht, sondern auch die gleichen Arbeiten wie sie erledigt: Vom Gemüse waschen bis zum Fische töten.

Beruhen alle Ihre Geschichten auf wahren Begebenheiten?

Einige sind wahr, andere nicht.

Sie beschäftigen sich schon eine Weile mit dem Thema. Sehen Sie Veränderungen, beispielsweise, dass sich die Städte mehr bemühen, Unterkünfte bereitzustellen?

Es gibt sehr große Verbesserungen und sie übertreffen alles, was ich mir vorgestellt hatte. Die Regierung widmet der Gruppe der Wanderarbeiter große Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist das Arbeitsvertragsgesetz, das letztes Jahr in Kraft getreten ist und gesetzliche Regelungen für die Lohnprobleme der Wanderarbeiter trifft. Unter anderem müssen Unternehmen, gleich welcher Größe, nun Verträge mit den angeheuerten Wanderarbeitern schließen. Früher wurden sie für ihre Arbeit von Tag zu Tag bezahlt, und manchmal waren die Arbeitgeber mit ihren Zahlungen im Rückstand – diese Probleme gibt es jetzt nicht mehr.

Letztes Jahr während der Olympischen Spiele wurde viel darüber berichtet, dass die Wanderarbeiter Peking verlassen mussten. Dennoch gab es sie auch während dieser Zeit. Ich konnte sehen, wie mehrere Männer sich ein offenes Zelt teilten. Sieht man dies jetzt, wo die Aufmerksamkeit des Auslands etwas schwächer ist, wieder öfter?

Ich war im Vorfeld der Olympischen Spiele die ganze Zeit in Peking, und nach allem was ich weiß mussten nur Wanderarbeiter auf Baustellen in relativ großer Nähe zu den olympischen Stätten die Stadt verlassen. Aber auch das ist jetzt bestimmt nicht mehr so.

Seit einiger Zeit übt die Finanzkrise einen starken Einfluss aus. Um das letzte Frühlingsfest herum fanden viele Wanderarbeiter in den Städten keine Arbeit, und jetzt ist es genau umgekehrt: Einige kleine und mittlere Betriebe haben sich erholt und finden keine Arbeitskräfte mehr. Ich habe in einem chinesischen Artikel gelesen, dass es von einer Arbeiterangst zu einem Arbeitermangel gekommen ist.

Eine Frage zu Ihren Anfängen. Was hat Sie zum Schreiben bewegt?

Seit der Mittelschule habe ich gerne geschrieben, und bis heute hat es in meinem Werk viele Richtungswechsel gegeben. Das liegt vor allem daran, dass ich mehr Lebenserfahrung gesammelt habe, insbesondere was Emotionen anbelangt. Inzwischen hat sich die Situation stark verändert, aber die vergangenen Jahre waren sehr hart.

Sie sagten eben, dass es drei Gruppen von Autoren in China gibt. Die erste Gruppe bilden diejenigen, die ein Teil des Systems sind und ein festes Gehalt als Schriftsteller bekommen. Die zweite bilden jene Autoren außerhalb des Systems, die von der Schriftstellerei leben können. Schließlich gibt es noch die Gruppe derer, die in ihrer Freizeit schreiben und für ihre Finanzierung noch einen anderen Beruf ausüben müssen. Sie ordnen sich bei der letzten Gruppe ein. Glauben Sie, dass die Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse Sie in die Lage versetzen wird, nur von der Schriftstellerei zu leben?

In China gibt es viele staatliche Einschränkungen. Eines großes praktisches Problem ist, dass ich zwar einen Vertrag unterschreiben und beispielsweise ein Mitglied des Pekinger Schriftstellerverbandes werden könnte, mein hukou aber noch immer in der Inneren Mongolei wäre. Das bereitet große Schwierigkeiten.

Außerdem sind meine Werke nicht besonders herausragend. Deshalb besteht eine solche Möglichkeit nicht. Aber natürlich ist es ein großer Ansporn für mich, dass meine Bücher übersetzt werden.

Welche/r chinesische AutorIn verdient Ihren Respekt?

Es gibt keinen Schriftsteller, den ich besonders verehre. In erster Linie lese ich Bücher. Auch wenn der Autor berühmt ist – wenn ich ein Buch nicht mag, dann lese ich es auch nicht.

Lesen Sie denn auch ausländische Werke, die ins Chinesische übersetzt wurden?

Es gibt viele ausländische Bücher, die ich sehr gerne mag, zum Beispiel Ein fliehendes Pferd von Martin Walser und ein weiteres Standardwerk, Die Blechtrommel von Günther Grass.

Haben Sie noch ihr Restaurant?

Im Moment ist es geschlossen.

Herr Jing, vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Kristina Bodrozic-Brnic. Aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzte Johannes Lejeune.

 

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Zuletzt bearbeitet von: AF
Letzte Änderung: 04.12.2014
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