Edmund Schlink: Predigt über Jesaja 63,15-16 und 64,1-3 am 1. Advent 1958 in der Peterskirche in Heidelberg

Veröffentlicht in: Heidelberger Predigten. Pflüget ein Neues - Göttinger Predigthefte, Heft 5, Göttingen 1959, S.7-10.

 

 

„So schaue nun vom Himmel, und siehe herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung. Wo ist nun dein Eifer, deine Macht? Deine große herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist Du doch unser Vater. Denn Abraham weiß von uns nicht, und Israel kennet uns nicht. Du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser; von alters her ist das dein Name.“

 

„Ach, daß du den Himmel zerrissest, und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, wie ein heiß Wasser vom heftigen Feuer versiedet! daß dein Name kundwürde unter deinen Feinden, und die Heiden vor dir zittern müßten, durch die Wunder, die du tust, der man sich nicht versiehet; daß du herabführest, und die Berge vor dir zerflössen! Wie denn von der Welt her nicht vernommen ist, noch mit Ohren gehöret, hat auch kein Auge gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“

 

Über zweieinhalb Jahrtausende hinweg haben wir eben ein Gebet gehört: ein Gebet nicht nur eines einzelnen, sondern eines Volkes, – ein Gebet, das nicht nur einmal, sondern immer wieder gebetet worden ist, – ein Gebet, das aus der Tiefe gegen den Himmel anstürmt und Gott beschwört, den Himmel zu zerreißen, – ein Gebet, in dem es dem Beter schlechthin um alles geht.

Was war das für eine Not, aus der heraus gebetet wurde? Die Not eines von Feinden unterdrückten Volkes. Das Land war besetzt, die Hauptstadt verwüstet, das Heiligtum von den Feinden zertreten. Aber die eigentliche Not war noch nicht diese Unterdrückung als solche, sondern die Erfahrung, dass Gott sein Volk dem allen preisgegeben hat. Die eigentliche Not bestand darin, dass diese Menschen wußten um Gottes Allmacht, – aber er setzte sie nicht ein für sie. Sie wußten um Gottes Eifer, aber er eiferte nicht um sie. Sie wußten, daß Gott alles sieht, und doch schaut er nicht auf sie herab. Sie wissen um seine Barmherzigkeit, aber er erweist sie nicht an ihnen: „Deine große herzliche Barmherzigkeit verhält sich hart gegen mich.“ So erleben sie den Himmel als eine Wand, die sie von Gott scheidet. Jenseits dieser Wand thront Gott in seiner „heiligen, herrlichen Wohnung“. Diese Wand können sie nicht durchdringen. Sie erleben sich preisgegeben an die Immanenz dieser Welt.

Was tun sie nun in ihrem Gebet? Sie halten Gott vor, was er einst an ihnen getan hat. Sie erinnern an sein erlösendes, väterliches Handeln „von alters her“, an Abraham und Israel, an Mose und durch Mose. Er hatte sein Volk erwählt, errettet, geführt und bewahrt. Er hatte sich immer wieder in seiner Gnade als Vater erwiesen. Diese Taten halten die Beter Gott vor in dem Glauben: Wie Gott gehandelt hat, so ist er und so bleibt er in alle Ewigkeit. Gott ist derselbe, er kann sich nicht wandeln, auch wenn es uns so scheint. „Bist du doch unser Vater. Denn Abraham weiß von uns nicht, und Israel kennt uns nicht. Du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser; von alters her ist das dein Name.“ So beschwören sie den fernen Gott bei seinem Vaternamen. Sie stürmen gegen den fernen Gott an mit diesem Namen. Alles setzten sie auf den Vaternamen. Abraham, Israel, Mose sind tot. Aber Gott der Vater ist lebendig.

So rufen diese Beter nach Gottes Machttat: Zerreiße den Himmel, schaue herab, ja komme herab! Erweise deine Macht so, daß nichts bleibt, wie es ist, – daß das Hohe erniedrigt, das Feste weich, das Kalte heiß wird. „Ach daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer zersiedet.“ Sie bitten um eine völlige Wandlung der Verhältnisse bis zu den Fundamenten der Natur. Von dieser Machttat erwarten sie die Überwindung der Feinde, – daß sie erzittern, daß ihr Griff an der Kehle sich lockert, daß ihre Macht zerfällt. So erflehte das unterdrückte Volk die Erlösung.

Hat Gott dieses Gebet erhört? Die Christenheit antwortet auf diese Frage mit Ja.

Ja, Gott hat den Himmel zerrissen, Gott ist herabgefahren, Gott hat umschmelzend eingegriffen in diese Welt, – er hat sie bis in die Fundamente hinein erschüttert und verändert. Indem die Christenheit diesen Text am ersten Advent verkündigt, bekennt sie: Ja, Gott hat dieses Gebet seines alttestamentlichen Bundesvolkes erhört im Kommen Jesu Christi.

Aber was heißt hier: Gott hat erhört? Man sage nicht zu schnell: Ja, er hat erhört.

Wir wissen nicht mit Sicherheit, wann dieses Gebet zum ersten Mal gebetet worden ist, ob im Exil nach der Zerstörung Jerusalems oder in den jämmerlichen Verhältnissen nach der Rückkehr. Aber wir wissen: Seit dem Exil ist dieses Volk niemals wirklich wieder frei geworden, auch wenn es den Tempel wieder erbaute. Aber auch er wurde dann wiederum zerstört und blieb zerstört bis auf den heutigen Tag. Was heißt hier: Gott hat dieses Gebet erhört?

Gott hat es erhört, so wie eben Gott erhört, nämlich in der Souveränität seines Willens, in der Unfaßbarkeit seiner Herrlichkeit, in einer Machttat, in der er alle menschlichen Vorstellungen von seiner Macht und alle Erwartungen menschlicher Gebete überbietet. Er hat dies Gebet erhört nicht, indem er die Feinde zerschlug, sondern indem er seinen Sohn an sie preisgab, – nicht, indem er die Berge zerschmolz, sondern indem er den Menschen Jesus Christus zerschmolz: Ihn hat er gewandelt bis in die Fundamente seiner menschlichen Natur, indem er ihn in den Tod dahingab und von den Toten auferweckte, – indem er ihm eine neue Existenzweise gegeben hat durch die Auferweckung von den Toten. Durch diese Machttat hat er einen Brand angezündet, der sich über die Erde verbreitet, der das Kalte zum Sieden bringt und das Feste erschüttert und zerfließen läßt. Wer sich von dieser Machttat Gottes erschüttern und verbrennen läßt, – wer an Christus glaubt und sich ihm als dem Herrn unterwirft, der ist ein neuer Mensch. Der Himmel ist für ihn offen, die Unterdrückung ist beendet, er ist frei. „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.“

Aber geht nicht alles so weiter in der Welt wie zuvor? – Die Ungerechtigkeit, die Unterdrückung, die brutale Drohung, der Griff an die Kehle? Bleibt nicht diese Erhörung in Christo weit hinter dem Gebet zurück?

Was Gott in Jesus Christus getan hat, ist nicht weniger als erbeten wurde, sondern unendlich viel mehr. Gott hat in Christus Barmherzigkeit erwiesen nicht nur seinem Bundesvolk, sondern der Welt. Gott hat nicht das Ende den Feinden gebracht, sondern ihnen seine Geduld erweisen und Frieden verkündigt. Er hat sie nicht niedergeworfen, sondern hat Jesus Christus für die Feinde dahingegeben. Statt des Gerichts über die Welt hat Gott in dieser Welt einen neuen Anfang gesetzt, hat ihr noch einmal Raum und Zeit gewährt, sich umschmelzen zu lassen in der Buße. Die scheinbare Nichterhörung ist in Wahrheit die Überschwänglichkeit des göttlichen Erbarmens.

Im Glauben an Christus haben wir Zugang zu Gott. Wir stoßen nun nicht mehr auf eine Wand, sondern auf das väterliche Du, von dem uns Antwort, Führung und Fürsorge zuteilwird. In der Angst dieser Welt dürfen wir froh, in der Unterdrückung durch unsere Feinde frei sein, in der Aussichtslosigkeit dieser Welt dürfen wir in eine geöffnete Zukunft blicken, und im Sterben dürfen wir siegen über den Tod. Gott hat den Glaubenden alles erschlossen.

Aber Gott wird noch mehr tun. Das Verborgene wird er offenbaren. Das Begonnene wird er vollenden. Allem Widerstreit wird er ein Ende bereiten: Die Dialektik der Existenz der Glaubenden und der Aufruhr derer, die den Glauben verweigern, wird nicht immer fortwähren. Gott wird kommen in seiner unverhüllten Herrlichkeit und alles, alles neu machen.

So ist dies Gebet mit dem ersten Kommen Jesu Christi nicht erledigt, sondern es geht weiter. Es ist das Gebet des Volkes Israel und das Gebet der Kirche. Nicht wenngleich es erhört ist, sondern weil es erhört ist, geht es weiter bis zur zukünftigen Vollendung der Erhörung. Dabei weitet sich das Gebet aus auf die ganze Welt. Es ergreift immer neue Menschen, die es beten, und wiederum neue, für die es gebetet wird. Es ist nun nicht mehr ein Gebet nur für die Unterdrückten eines Volkes, sondern für die Leidenden, Zertretenen, unter Gottesferne Seufzenden in der ganzen Welt. Es wird nun nicht mehr gebetet nur um Befreiung von den Feinden, sondern es wird gebetet für die Feinde, daß ihr „Erzittern“ sie zur Buße führe und ihnen den Frieden schenke. Solche, die heute Feinde sind, können morgen Brüder sein. Es geht um die Machttat Gottes, die das Begonnene an der Welt vollenden wird.

Auch diese Gebete wird Gott einst so erhören, daß er unsere Vorstellungen überbietet. Wir können die Herrlichkeit der Vollendung nicht ermessen und weder denkend noch schauend vorwegnehmen. Aber wir dürfen gewiß sein, daß er die Gebete um die Wiederkunft Jesu Christi in Herrlichkeit erhören wird. Die Welt ist schon vom ersten und zweiten Advent umgeben. Alles ist schon Christus unterstellt, ob die Welt es wahrhaben will oder es bestreitet. Die Aufruhr der Welt ist bereits das Zeichen ihres Besiegtseins durch diesen Herrn. Das Wachsen der Trübsale ist das Vorzeichen der kommenden Herrlichkeit. Christus wird kommen. Im Namen Christi beten, das heißt jetzt schon an seinem Siege teilhaben.

Wir haben ein Gebet gehört. Gebete aber sind nicht zu hören, sondern zu beten, – sie sind auch nicht zu diskutieren, sondern eben zu beten. Darum laßt uns schließen, indem wir gemeinsam mit den Worten unseres Textes beten: „So schaue nun vom Himmel und siehe herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung. Wo ist nun dein Eifer, deine Macht? Deine große herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater. Denn Abraham weiß von uns nicht, und Israel kennet uns nicht. Du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser; von alters her ist das dein Name. Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet! Daß dein Name kund würde unter deinen Feinden, und die Heiden vor dir zittern müßten, durch die Wunder, die du tust, deren man sich nicht versieht; daß du herabführest und die Berge vor dir zerflössen! Wie denn von der Welt her nicht vernommen ist noch mit Ohren gehört, auch kein Auge gesehen hat einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“

 

 

Zurück zum Portrait: 
Edmund Schlink: "Kein Prediger kommt von seiner Biografie los!"

 

Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

Webmaster: E-Mail
Letzte Änderung: 27.06.2022
zum Seitenanfang/up