„Im Marsilius-Kolleg geht es um interdisziplinäre Kommunikation und Forschung besonderer Art“
18.
Oktober
2008
Festvortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schluchter anlässlich der Jahresfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg am 18. Oktober 2008
Foto: Dagmar Welker
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das Rektorat bat mich, im Rahmen unserer heutigen Jahresfeier über das Marsilius-Kolleg zu sprechen, das ich zusammen mit Hans-Georg Kräusslich leite. Herr Kräusslich ist Virologe und residiert, anders als ich, nicht in der Altstadt, sondern im Neuenheimer Feld. Diese Doppelspitze – er jenseits, ich diesseits des Neckars – ist kein Zufall. Sie ist vielmehr, wie wir sehen werden, Programm. Die Konzeption dieses Kollegs, nach dem Gründungsrektor unserer Universität, Marsilius von Inghen, benannt, war ein zentraler Baustein unseres erfolgreichen Antrags im Rahmen der dritten Säule der Exzellenzinitiative. Inzwischen ist diese Konzeption organisatorisch und auch inhaltlich weitgehend umgesetzt. Wie Sie vermutlich wissen, konnten wir am Ende des Sommersemesters das Kolleg feierlich eröffnen, mit Vorträgen von Frau Bundesministerin Dr. Schavan und von Prof. Dr. Blobel, Nobelpreisträger für Medizin des Jahres 1999 und Dresdenfan. Ich möchte Ihnen heute die Konzeption des Marsilius-Kollegs vorstellen und plausibel zu machen versuchen, weshalb ihre Verwirklichung für die Weiterentwicklung unserer Universitätskultur, für die Volluniversität der Zukunft, wie wir gerne sagen, von zentraler Bedeutung ist.
Ich kann dies angesichts der knapp bemessenen Zeit nur skizzenhaft tun und wähle dafür zwei Schritte. Ich sage zunächst etwas über die Organisationsgestalt, greife dann drei inhaltliche Probleme auf, um Art und Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Vertretern verschiedener Wissenschaftskulturen darzutun. Selbstverständlich erhebt das Kolleg keinen Anspruch darauf, die interdisziplinäre Kommunikation und Forschung an der Universität Heidelberg zu monopolisieren. Und ebenso selbstverständlich ist die disziplinäre Kommunikation und Forschung die Grundlage für all das, was wir tun. Aber im Marsilius-Kolleg geht es um interdisziplinäre Kommunikation und Forschung besonderer Art. Nicht Ersatz, sondern Ergänzung ist in beiden Hinsichten gewollt. Bildlich gesprochen, möchte das Kolleg die Brücke schlagen zwischen der Altstadt und dem Neuenheimer Feld, also zwischen den Medizin-, Lebens- und Naturwissenschaften einerseits, den Rechts-, Sozial-, Geisteswissenschaften und der Theologie andererseits.
Nur wenn man um diese Absicht weiß, versteht man die Organisationsgestalt, die wir gewählt haben. Zunächst gehört das Kolleg der Gattung der Centers for Advanced Study, der Zentren für höhere Studien, an, in denen sich Professoren wechselseitig ‚unterrichten’. Von diesen gibt es inzwischen viele, über die ganze Welt verstreut. Sie lassen sich zu zwei Typen zusammenfassen. Ich nenne sie den Princeton- und den Jerusalemtyp. Für den Princeton-Typ ist kennzeichnend, dass hier herausragende Forscher aus verschiedenen Disziplinen, mehr oder weniger international rekrutiert und ein mehr oder weniger breites Fächerspektrum repräsentierend, für eine begrenzte Zeit zusammenkommen und ‚unter einem Dach’ leben. Dabei kommt es zwar auch zu interdisziplinärem Austausch, aber dieser ist eher ein Abfallprodukt. Im Mittelpunkt steht das individuelle disziplinäre Projekt, das der jeweilige Fellow voranbringen möchte. Diese Organisationsgestalt eignet sich hauptsächlich für Wissenschaftler, die nicht auf kontinuierliche Laborarbeit in Forschergruppen angewiesen sind. Solche Einrichtungen sind inzwischen auch in Europa zahlreich. In Deutschland folgt zum Beispiel das Wissenschaftskolleg zu Berlin, von Peter Glotz in seiner Zeit als Berliner Wissenschaftssenator gegründet, weitgehend dem Princeton-Typ. Der Jerusalem-Typus dagegen ist dadurch gekennzeichnet, dass Professoren der eigenen Universität einmal in ihrem akademischen Leben die Möglichkeit erhalten, eine Forschergruppe, ebenfalls mehr oder weniger international rekrutiert, zusammenzustellen, um gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Dieses kann disziplinär oder auch interdisziplinär ausgerichtet sein.
Die Organisationsgestalt das Marsilius-Kollegs folgt weder dem Princeton- noch dem Jerusalem-Typus, sondern kombiniert Elemente beider zu einem Dritten. Es gibt die Fellowships, die an 12 bis 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben werden, und es gibt die Marsilius-Projekte, an denen eine Forschergruppe längere Zeit arbeitet. Entscheidend aber ist die Verbindung von strikter interdisziplinärer Orientierung und überwiegend lokaler Rekrutierung. Conditio sine qua non ist, dass alle Projekte, die entweder während des Jahres als Fellow oder darüber hinaus verfolgt werden, den genannten Brückenschlag versuchen. Das wird gewiss nicht immer erfolgreich sein. Aber die Chancen dafür stehen gut, weil aufgrund dieser Organisationsgestalt auch die experimentell forschenden, sonst unabkömmlichen Naturwissenschaftler sich an der Arbeit des Kollegs beteiligen können. Das rechtfertigt unseren Grundsatz: Lokal rekrutiert und interdisziplinär orientiert.
Weshalb brauchen wir eine besondere Einrichtung, um die Brücke zu schlagen? Gab es nicht immer schon Kommunikation und Forschung über den Neckar hinweg? Dies ist zweifellos der Fall, und das Marsilius-Kolleg nutzt auch bereits vorhandene Netzwerke. Es stabilisiert sie und baut sie weiter aus. Vor allem: Es baut an ihnen weiter, indem es inhaltliche Fragen von theoretischer und praktischer Relevanz formuliert. Es handelt sich um Fragen, die das Zusammenwirken von Vertretern verschiedener Wissenschaftskulturen verlangen. Ich gebe drei Beispiele aus der bisherigen Arbeit des Kollegs.
Das erste Beispiel entnehme ich dem Marsilius-Projekt „Menschenbild und Menschenwürde“. Hier fragen wir unter anderem: Was wird angesichts des medizinisch-lebenswissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und der damit einhergehenden möglichen und tatsächlichen Interventionen in das menschliche Leben aus unseren kulturell geprägten Vorstellungen vom Menschsein und aus der Menschenwürde, die uns nach Art 1, Abs. 1 unseres Grundgesetzes, verstärkt durch die Schutzklausel des Art 79, Abs. 3, als ein unverbrüchliches Recht zugemessen ist? Dass die Würde des Menschen unantastbar sei, wie es im Grundgesetz heißt – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – ist natürlich keine Tatsachenfeststellung, sondern eine normative Forderung, die rechtlich zu konkretisieren ist. Denn dass die Würde des Menschen angetastet werden kann und wird, das lehrte uns nicht zuletzt das von Historikern mitunter so genannte „kurze“ 20. Jahrhundert mit seinen Genoziden. Aber Gefährdungen der Menschenwürde erwachsen nicht nur aus offener Gewalt. Sie stecken auch in unserem wissenschaftlichen Fortschritt. Wann beginnt schutzbedürftiges und schutzwürdiges Leben, und wann endet es? Hat etwa der bekannte amerikanische politische Ökonom Francis Fukuyama recht, wenn er nach dem Ende der Geschichte nun auch – nach einem zugegebenermaßen gründlichen Studium der neuesten biotechnologischen Entwicklungen in den USA (Stichworte sind Neuropharmakologie und genetische Manipulation) – das Ende des Menschen ausruft? Gewiss, Untergangsszenarien haben der Wissenschaft noch nie geholfen. Aber die rasanten Fortschritte zum Beispiel in der Reproduktionsmedizin und der Medizin ‚lebensverlängernder Maßnahmen’ werfen vor allem normative Fragen auf. Sie sind nicht nur rechtlicher, sondern auch ethischer und theologische Natur, und sie können, wenn überhaupt, nur im Dialog und aus der Verbindung der untereinander verschiedenen Gesichtspunkte von Medizinern, Juristen, Philosophen und Theologen, aber auch Sozialwissenschaftlern mit Aussicht auf Erfolg geklärt werden. Die Lage kompliziert sich dadurch, dass solche Frage auch von großem öffentlichem Interesse sind. Es gibt außerwissenschaftliche Debatten, in denen sehr schnell ideologische Gesichtspunkte überwiegen. Und es ist deshalb auch für uns von besonderem Interesse, herauszufinden, wie wissenschaftsinterne und wissenschaftsexterne Diskurse miteinander verbunden, oder besser: zu verbinden sind.
Das zweite Beispiel entnehme ich dem Marsilius-Projekt über das Altern im sozialen und kulturellen Wandel. Hier fragen wir nach der Bedeutung, die die stetige Verlängerung des Lebens für den Einzelnen und für die Gemeinschaft hat. Wie lange lassen sich Degenerationsprozesse entschleunigen, wie lange halten die sozialen Sicherungssysteme und Pflegeeinrichtungen dem wachsenden Druck stand? Auch hier geht es zunächst einmal um die Klärung der neurobiologischen Prozesse, die unter das Stichwort Demenz fallen. Dabei ist wichtig, sich klarzumachen, dass solche Prozesse nicht eine einfache Funktion des Lebensalters sind. Es gibt vielmehr eine Vielzahl von Risikofaktoren, aber auch von Schutzfaktoren, die den biologisch angelegten Degenerationsprozess modifizieren, und diese sind nicht nur genetischer, sondern auch soziokultureller Natur. Dazu gehören zum Beispiel Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, Arbeitsbedingungen, Lebensstil, um nur einige zu nennen, und solche Faktoren spielen mit den biologischen Faktoren zusammen. Was bedeutet dies für Maßnahmen der Prävention? Sie müssen zwar am Verhalten anzusetzen, dürfen sich aber darauf nicht beschränken. Vielmehr geht es um die Veränderung des Verhalten und der Verhältnisse. Dafür müssen zum Beispiel Epidemiologen und Gerontopsychiater mit Gerontologen und Soziologen zusammenarbeiten. Aber auch normative Fragen kommen sehr hier schnell ins Spiel. Jüngst fragte einer unserer Fellows in einem Gespräch mit einer Journalistin: „Ab wann ist ein Demenzkranker nicht mehr geschäftsfähig? Wenn er Wortfindungsstörungen hat? Oder wenn er seine eigenen Verwandten nicht mehr erkennt?“ Und dann die wichtige Frage. „Wer entscheidet das?“ Dabei haben beide Projekte viele Berührungspunkte, etwa bei der Frage, wann beginnt das Sterben? Dies nicht in dem trivialen oder poetischen Sinn des Stirb und Werde, sondern in dem brisanten Sinne des Therapiezielwechsels, von der kurativen zur palliativen Medizin. Wer ein Handbuch des Sterbens schreiben möchte, was im erstgenannten Projekt der Fall ist, muss sich mit solchen Fragen auseinandersetzen. Und auch hieran schließen sich normative Fragen, z. B. rechtliche an.
Übrigens dienen unsere Marsilius-Projekte nicht nur den genannten Zielen, sondern auch der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Insgesamt arbeiten derzeit elf Doktoranden und Diplomanden aus den verschiedensten Disziplinen in unseren Projekten mit. Durch eine großangelegte Sommerschule pro Jahr, von der BASF mit einer großzügigen Spende unterstützt, werden außerdem auswärtige Doktoranden an den Diskussionen beteiligt. Diese jungen Wissenschaftler lernen also frühzeitig, was es heißt, in interdisziplinären Zusammenhängen zu arbeiten, und welche besonderen Anforderungen dies stellt.
Wir sehen also: Es gibt eine Vielzahl von Problemen, die nicht nur einander ergänzende empirische Analysen verlangen, sondern auch brisante normative Fragen aufwerfen. Das Marsilius-Kolleg ist der institutionelle Ort, an dem, politikentlastet, eine die Wissenschaftskulturen verbindende Kommunikation und Forschung betrieben werden kann, die auf empirische wie auf normative Fragen und auf ihre Verbindung gerichtet ist. Dies führt mich zu meinem dritten, dem letzten Beispiel, unserer Alltagspraxis entnommen. Es hat mit institutionell erzwungener Selbstbeschränkung zu tun.
Wir kennen aus der Wissenschaftsgeschichte den immer wiederkehrenden Sachverhalt, dass bestimmte Paradigmen das wissenschaftliche Feld zu dominieren beginnen. Thomas Kuhn erklärte dies einmal sogar zum Normalzustand der Wissenschaft. Karl Popper dagegen nannte dies einen pathologischen Zustand. Denn er bedeute Unterdrückung der Kritik, meist mit wissenschaftspolitischem Imperialismus gepaart. Heute steckt in dem enormen Erfolg der Neurowissenschaften beim psychophysischen Problem eine Tendenz zum Reduktionismus, denken Sie etwa an die Willensfreiheitsdebatte – der amerikanische Philosoph Thomas Nagel sprach einmal von den wiederkehrenden „Flutwellen reduktionistischer Euphorie“ in diesem Bereich – und auch zum wissenschaftspolitischen Imperialismus ist es dann nicht weit. Wie unsere bisherigen Diskussionen zwischen den Vertretern verschiedener Wissenschaftskulturen gezeigt haben, kann das Marsilius-Kolleg auch ein Ort sein, solchen Gefahren zu begegnen. Das haben sowohl die regelmäßig stattfindenden Montagssitzungen wie die bisher vorliegenden Ergebnisse der längerfristig angelegten Marsilius-Projekte gezeigt. Die Brücke über den Neckar ermuntert den Verkehr in beiden Richtungen, und er erfolgte bisher – nach einer Phase der Gewöhnung – ohne Kollisionen. Besonderer Verkehrsampeln mit Stoppregeln jedenfalls bedurfte es nicht.
Die Einsicht in die Fruchtbarkeit einer reflektierten Vernetzung der Wissenschaftskulturen ist bei allen Beteiligten gewachsen, auch die Einsicht in die Grenzen ihres eigenen Faches. Vielleicht lässt dies zum Schluss sogar einen Rückbezug auf unseren Namensgeber zu. Als Marsilius von Inghen von Pfalzgraf Ruprecht I. den Auftrag erhielt, in Heidelberg eine Universität ins Werk zu setzen, deren Gründungsrektor er dann wurde, mit mehrfach wiederkehrenden, allerdings kurzen Amtszeiten bis zu seinem Tode im Jahre 1396, war die wissenschaftspolitische Situation natürlich völlig anders als heute. Damals beherrschte der Universalienstreit die Geister. Es ging deshalb auch um die Frage, welchen Weg man in Heidelberg beim Aufbau des Studiums gehen solle, den der Realisten oder den der Nominalisten? Und Marsilius wählte bekanntlich den zweiten Weg. Er galt damals als die „via moderna“. Aber die Ereignisse während der zehn Jahre seiner Tätigkeit von 1386 bis 1396 führten offenbar dazu, dass auch die Gegenrichtung eine gewisse Anerkennung erfuhr. Im Rückblick sprach man gar von einer „via Marsiliana“. Es ist unsere Hoffnung, dass mit der Gründung des Marsilius-Kollegs für die Universität Heidelberg eine neue „via Marsiliana“ gefunden ist.
Rückfragen bitte an:
Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
Tel. 06221 542310, Fax 542317
michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de
Irene Thewalt
Tel. 06221 542310, Fax 542317
presse@rektorat.uni-heidelberg.de
das Rektorat bat mich, im Rahmen unserer heutigen Jahresfeier über das Marsilius-Kolleg zu sprechen, das ich zusammen mit Hans-Georg Kräusslich leite. Herr Kräusslich ist Virologe und residiert, anders als ich, nicht in der Altstadt, sondern im Neuenheimer Feld. Diese Doppelspitze – er jenseits, ich diesseits des Neckars – ist kein Zufall. Sie ist vielmehr, wie wir sehen werden, Programm. Die Konzeption dieses Kollegs, nach dem Gründungsrektor unserer Universität, Marsilius von Inghen, benannt, war ein zentraler Baustein unseres erfolgreichen Antrags im Rahmen der dritten Säule der Exzellenzinitiative. Inzwischen ist diese Konzeption organisatorisch und auch inhaltlich weitgehend umgesetzt. Wie Sie vermutlich wissen, konnten wir am Ende des Sommersemesters das Kolleg feierlich eröffnen, mit Vorträgen von Frau Bundesministerin Dr. Schavan und von Prof. Dr. Blobel, Nobelpreisträger für Medizin des Jahres 1999 und Dresdenfan. Ich möchte Ihnen heute die Konzeption des Marsilius-Kollegs vorstellen und plausibel zu machen versuchen, weshalb ihre Verwirklichung für die Weiterentwicklung unserer Universitätskultur, für die Volluniversität der Zukunft, wie wir gerne sagen, von zentraler Bedeutung ist.
Ich kann dies angesichts der knapp bemessenen Zeit nur skizzenhaft tun und wähle dafür zwei Schritte. Ich sage zunächst etwas über die Organisationsgestalt, greife dann drei inhaltliche Probleme auf, um Art und Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Vertretern verschiedener Wissenschaftskulturen darzutun. Selbstverständlich erhebt das Kolleg keinen Anspruch darauf, die interdisziplinäre Kommunikation und Forschung an der Universität Heidelberg zu monopolisieren. Und ebenso selbstverständlich ist die disziplinäre Kommunikation und Forschung die Grundlage für all das, was wir tun. Aber im Marsilius-Kolleg geht es um interdisziplinäre Kommunikation und Forschung besonderer Art. Nicht Ersatz, sondern Ergänzung ist in beiden Hinsichten gewollt. Bildlich gesprochen, möchte das Kolleg die Brücke schlagen zwischen der Altstadt und dem Neuenheimer Feld, also zwischen den Medizin-, Lebens- und Naturwissenschaften einerseits, den Rechts-, Sozial-, Geisteswissenschaften und der Theologie andererseits.
Nur wenn man um diese Absicht weiß, versteht man die Organisationsgestalt, die wir gewählt haben. Zunächst gehört das Kolleg der Gattung der Centers for Advanced Study, der Zentren für höhere Studien, an, in denen sich Professoren wechselseitig ‚unterrichten’. Von diesen gibt es inzwischen viele, über die ganze Welt verstreut. Sie lassen sich zu zwei Typen zusammenfassen. Ich nenne sie den Princeton- und den Jerusalemtyp. Für den Princeton-Typ ist kennzeichnend, dass hier herausragende Forscher aus verschiedenen Disziplinen, mehr oder weniger international rekrutiert und ein mehr oder weniger breites Fächerspektrum repräsentierend, für eine begrenzte Zeit zusammenkommen und ‚unter einem Dach’ leben. Dabei kommt es zwar auch zu interdisziplinärem Austausch, aber dieser ist eher ein Abfallprodukt. Im Mittelpunkt steht das individuelle disziplinäre Projekt, das der jeweilige Fellow voranbringen möchte. Diese Organisationsgestalt eignet sich hauptsächlich für Wissenschaftler, die nicht auf kontinuierliche Laborarbeit in Forschergruppen angewiesen sind. Solche Einrichtungen sind inzwischen auch in Europa zahlreich. In Deutschland folgt zum Beispiel das Wissenschaftskolleg zu Berlin, von Peter Glotz in seiner Zeit als Berliner Wissenschaftssenator gegründet, weitgehend dem Princeton-Typ. Der Jerusalem-Typus dagegen ist dadurch gekennzeichnet, dass Professoren der eigenen Universität einmal in ihrem akademischen Leben die Möglichkeit erhalten, eine Forschergruppe, ebenfalls mehr oder weniger international rekrutiert, zusammenzustellen, um gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Dieses kann disziplinär oder auch interdisziplinär ausgerichtet sein.
Die Organisationsgestalt das Marsilius-Kollegs folgt weder dem Princeton- noch dem Jerusalem-Typus, sondern kombiniert Elemente beider zu einem Dritten. Es gibt die Fellowships, die an 12 bis 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben werden, und es gibt die Marsilius-Projekte, an denen eine Forschergruppe längere Zeit arbeitet. Entscheidend aber ist die Verbindung von strikter interdisziplinärer Orientierung und überwiegend lokaler Rekrutierung. Conditio sine qua non ist, dass alle Projekte, die entweder während des Jahres als Fellow oder darüber hinaus verfolgt werden, den genannten Brückenschlag versuchen. Das wird gewiss nicht immer erfolgreich sein. Aber die Chancen dafür stehen gut, weil aufgrund dieser Organisationsgestalt auch die experimentell forschenden, sonst unabkömmlichen Naturwissenschaftler sich an der Arbeit des Kollegs beteiligen können. Das rechtfertigt unseren Grundsatz: Lokal rekrutiert und interdisziplinär orientiert.
Weshalb brauchen wir eine besondere Einrichtung, um die Brücke zu schlagen? Gab es nicht immer schon Kommunikation und Forschung über den Neckar hinweg? Dies ist zweifellos der Fall, und das Marsilius-Kolleg nutzt auch bereits vorhandene Netzwerke. Es stabilisiert sie und baut sie weiter aus. Vor allem: Es baut an ihnen weiter, indem es inhaltliche Fragen von theoretischer und praktischer Relevanz formuliert. Es handelt sich um Fragen, die das Zusammenwirken von Vertretern verschiedener Wissenschaftskulturen verlangen. Ich gebe drei Beispiele aus der bisherigen Arbeit des Kollegs.
Das erste Beispiel entnehme ich dem Marsilius-Projekt „Menschenbild und Menschenwürde“. Hier fragen wir unter anderem: Was wird angesichts des medizinisch-lebenswissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und der damit einhergehenden möglichen und tatsächlichen Interventionen in das menschliche Leben aus unseren kulturell geprägten Vorstellungen vom Menschsein und aus der Menschenwürde, die uns nach Art 1, Abs. 1 unseres Grundgesetzes, verstärkt durch die Schutzklausel des Art 79, Abs. 3, als ein unverbrüchliches Recht zugemessen ist? Dass die Würde des Menschen unantastbar sei, wie es im Grundgesetz heißt – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – ist natürlich keine Tatsachenfeststellung, sondern eine normative Forderung, die rechtlich zu konkretisieren ist. Denn dass die Würde des Menschen angetastet werden kann und wird, das lehrte uns nicht zuletzt das von Historikern mitunter so genannte „kurze“ 20. Jahrhundert mit seinen Genoziden. Aber Gefährdungen der Menschenwürde erwachsen nicht nur aus offener Gewalt. Sie stecken auch in unserem wissenschaftlichen Fortschritt. Wann beginnt schutzbedürftiges und schutzwürdiges Leben, und wann endet es? Hat etwa der bekannte amerikanische politische Ökonom Francis Fukuyama recht, wenn er nach dem Ende der Geschichte nun auch – nach einem zugegebenermaßen gründlichen Studium der neuesten biotechnologischen Entwicklungen in den USA (Stichworte sind Neuropharmakologie und genetische Manipulation) – das Ende des Menschen ausruft? Gewiss, Untergangsszenarien haben der Wissenschaft noch nie geholfen. Aber die rasanten Fortschritte zum Beispiel in der Reproduktionsmedizin und der Medizin ‚lebensverlängernder Maßnahmen’ werfen vor allem normative Fragen auf. Sie sind nicht nur rechtlicher, sondern auch ethischer und theologische Natur, und sie können, wenn überhaupt, nur im Dialog und aus der Verbindung der untereinander verschiedenen Gesichtspunkte von Medizinern, Juristen, Philosophen und Theologen, aber auch Sozialwissenschaftlern mit Aussicht auf Erfolg geklärt werden. Die Lage kompliziert sich dadurch, dass solche Frage auch von großem öffentlichem Interesse sind. Es gibt außerwissenschaftliche Debatten, in denen sehr schnell ideologische Gesichtspunkte überwiegen. Und es ist deshalb auch für uns von besonderem Interesse, herauszufinden, wie wissenschaftsinterne und wissenschaftsexterne Diskurse miteinander verbunden, oder besser: zu verbinden sind.
Das zweite Beispiel entnehme ich dem Marsilius-Projekt über das Altern im sozialen und kulturellen Wandel. Hier fragen wir nach der Bedeutung, die die stetige Verlängerung des Lebens für den Einzelnen und für die Gemeinschaft hat. Wie lange lassen sich Degenerationsprozesse entschleunigen, wie lange halten die sozialen Sicherungssysteme und Pflegeeinrichtungen dem wachsenden Druck stand? Auch hier geht es zunächst einmal um die Klärung der neurobiologischen Prozesse, die unter das Stichwort Demenz fallen. Dabei ist wichtig, sich klarzumachen, dass solche Prozesse nicht eine einfache Funktion des Lebensalters sind. Es gibt vielmehr eine Vielzahl von Risikofaktoren, aber auch von Schutzfaktoren, die den biologisch angelegten Degenerationsprozess modifizieren, und diese sind nicht nur genetischer, sondern auch soziokultureller Natur. Dazu gehören zum Beispiel Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, Arbeitsbedingungen, Lebensstil, um nur einige zu nennen, und solche Faktoren spielen mit den biologischen Faktoren zusammen. Was bedeutet dies für Maßnahmen der Prävention? Sie müssen zwar am Verhalten anzusetzen, dürfen sich aber darauf nicht beschränken. Vielmehr geht es um die Veränderung des Verhalten und der Verhältnisse. Dafür müssen zum Beispiel Epidemiologen und Gerontopsychiater mit Gerontologen und Soziologen zusammenarbeiten. Aber auch normative Fragen kommen sehr hier schnell ins Spiel. Jüngst fragte einer unserer Fellows in einem Gespräch mit einer Journalistin: „Ab wann ist ein Demenzkranker nicht mehr geschäftsfähig? Wenn er Wortfindungsstörungen hat? Oder wenn er seine eigenen Verwandten nicht mehr erkennt?“ Und dann die wichtige Frage. „Wer entscheidet das?“ Dabei haben beide Projekte viele Berührungspunkte, etwa bei der Frage, wann beginnt das Sterben? Dies nicht in dem trivialen oder poetischen Sinn des Stirb und Werde, sondern in dem brisanten Sinne des Therapiezielwechsels, von der kurativen zur palliativen Medizin. Wer ein Handbuch des Sterbens schreiben möchte, was im erstgenannten Projekt der Fall ist, muss sich mit solchen Fragen auseinandersetzen. Und auch hieran schließen sich normative Fragen, z. B. rechtliche an.
Übrigens dienen unsere Marsilius-Projekte nicht nur den genannten Zielen, sondern auch der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Insgesamt arbeiten derzeit elf Doktoranden und Diplomanden aus den verschiedensten Disziplinen in unseren Projekten mit. Durch eine großangelegte Sommerschule pro Jahr, von der BASF mit einer großzügigen Spende unterstützt, werden außerdem auswärtige Doktoranden an den Diskussionen beteiligt. Diese jungen Wissenschaftler lernen also frühzeitig, was es heißt, in interdisziplinären Zusammenhängen zu arbeiten, und welche besonderen Anforderungen dies stellt.
Wir sehen also: Es gibt eine Vielzahl von Problemen, die nicht nur einander ergänzende empirische Analysen verlangen, sondern auch brisante normative Fragen aufwerfen. Das Marsilius-Kolleg ist der institutionelle Ort, an dem, politikentlastet, eine die Wissenschaftskulturen verbindende Kommunikation und Forschung betrieben werden kann, die auf empirische wie auf normative Fragen und auf ihre Verbindung gerichtet ist. Dies führt mich zu meinem dritten, dem letzten Beispiel, unserer Alltagspraxis entnommen. Es hat mit institutionell erzwungener Selbstbeschränkung zu tun.
Wir kennen aus der Wissenschaftsgeschichte den immer wiederkehrenden Sachverhalt, dass bestimmte Paradigmen das wissenschaftliche Feld zu dominieren beginnen. Thomas Kuhn erklärte dies einmal sogar zum Normalzustand der Wissenschaft. Karl Popper dagegen nannte dies einen pathologischen Zustand. Denn er bedeute Unterdrückung der Kritik, meist mit wissenschaftspolitischem Imperialismus gepaart. Heute steckt in dem enormen Erfolg der Neurowissenschaften beim psychophysischen Problem eine Tendenz zum Reduktionismus, denken Sie etwa an die Willensfreiheitsdebatte – der amerikanische Philosoph Thomas Nagel sprach einmal von den wiederkehrenden „Flutwellen reduktionistischer Euphorie“ in diesem Bereich – und auch zum wissenschaftspolitischen Imperialismus ist es dann nicht weit. Wie unsere bisherigen Diskussionen zwischen den Vertretern verschiedener Wissenschaftskulturen gezeigt haben, kann das Marsilius-Kolleg auch ein Ort sein, solchen Gefahren zu begegnen. Das haben sowohl die regelmäßig stattfindenden Montagssitzungen wie die bisher vorliegenden Ergebnisse der längerfristig angelegten Marsilius-Projekte gezeigt. Die Brücke über den Neckar ermuntert den Verkehr in beiden Richtungen, und er erfolgte bisher – nach einer Phase der Gewöhnung – ohne Kollisionen. Besonderer Verkehrsampeln mit Stoppregeln jedenfalls bedurfte es nicht.
Die Einsicht in die Fruchtbarkeit einer reflektierten Vernetzung der Wissenschaftskulturen ist bei allen Beteiligten gewachsen, auch die Einsicht in die Grenzen ihres eigenen Faches. Vielleicht lässt dies zum Schluss sogar einen Rückbezug auf unseren Namensgeber zu. Als Marsilius von Inghen von Pfalzgraf Ruprecht I. den Auftrag erhielt, in Heidelberg eine Universität ins Werk zu setzen, deren Gründungsrektor er dann wurde, mit mehrfach wiederkehrenden, allerdings kurzen Amtszeiten bis zu seinem Tode im Jahre 1396, war die wissenschaftspolitische Situation natürlich völlig anders als heute. Damals beherrschte der Universalienstreit die Geister. Es ging deshalb auch um die Frage, welchen Weg man in Heidelberg beim Aufbau des Studiums gehen solle, den der Realisten oder den der Nominalisten? Und Marsilius wählte bekanntlich den zweiten Weg. Er galt damals als die „via moderna“. Aber die Ereignisse während der zehn Jahre seiner Tätigkeit von 1386 bis 1396 führten offenbar dazu, dass auch die Gegenrichtung eine gewisse Anerkennung erfuhr. Im Rückblick sprach man gar von einer „via Marsiliana“. Es ist unsere Hoffnung, dass mit der Gründung des Marsilius-Kollegs für die Universität Heidelberg eine neue „via Marsiliana“ gefunden ist.
Rückfragen bitte an:
Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
Tel. 06221 542310, Fax 542317
michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de
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