Heidelberger Juristen plädieren für erweitertes Verfahren bei Lebertransplantationen
27. Juli 2012
Bei der Transplantation von Spenderorganen ist es nach Ansicht Heidelberger Rechtswissenschaftler verfassungsrechtlich zulässig und geboten, die Verteilung knapper Organe nicht nur an der medizinischen Dringlichkeit auszurichten, sondern auch die Erfolgsaussichten der Transplantation zu berücksichtigen. Allerdings ist das „Erfolgskriterium“ an bestimmte Voraussetzungen gebunden, wie der Strafrechtsprofessor Dr. Gerhard Dannecker und seine Mitarbeiterin Anne Franziska Streng in einem Aufsatz in der „Juristenzeitung“ darlegen. Da bei der Verteilung postmortal gespendeter Lebern aktuell ausschließlich das Kriterium der medizinischen Dringlichkeit berücksichtigt werde, sehen die Wissenschaftler nicht zuletzt angesichts der bestehenden Knappheit an Spenderorganen Reformbedarf bei den Richtlinien für das Vergabeverfahren. Die Veröffentlichung basiert auf Forschungsergebnissen aus einem interdisziplinären Projekt zur Organverteilung am Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg, in dem Prof. Dannecker als Marsilius-Fellow zu den rechtlichen Aspekten der Organverteilung forscht.
In Deutschland erfolgt die Verteilung von Spenderlebern seit Ende 2006 nach dem sogenannten MELD-Score, dem Model for Endstage Liver Disease, und orientiert sich somit maßgeblich an der medizinischen Dringlichkeit. Grundlage dafür bilden die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Verteilung postmortal gespendeter Lebern. Von medizinischer Seite gibt es Forderungen, dem Kriterium der Erfolgsaussichten, das im entsprechenden Gesetzestext neben dem Kriterium der Dringlichkeit angeführt ist, einen größeren Stellenwert einzuräumen als bisher und den MELD-Score um einen Erfolgsscore zu ergänzen. Denn eine maßgebliche Orientierung am MELD-Score habe zur Folge, dass Spenderlebern zunehmend an schwerkranke Patienten mit schlechten Überlebensaussichten gegeben werden.
Wie die Heidelberger Wissenschaftler erläutern, kann das Erfolgskriterium vor dem Hintergrund der sogenannten Lebenswertindifferenzkonzeption des Grundgesetzes problematisch sein. Diese Konzeption besagt, dass jedem menschlichen Leben und seiner Würde ohne Rücksicht auf seine Dauer der gleiche verfassungsrechtliche Schutz gebührt und das Leben keiner unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden darf. Gerhard Dannecker und Anne Franziska Streng kommen jedoch zu dem Schluss, dass das Erfolgskriterium weder wegen Verstoßes gegen die Lebenswertindifferenzkonzeption generell verfassungswidrig noch per se verfassungsrechtlich unbedenklich ist: „Die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz steht und fällt mit der Frage, ob es darum geht, vorrangig die Zahl der überlebenden Organempfänger oder lediglich die ,Gesamtfunktionsrate des Patientenkollektivs’, ohne Rücksicht auf die Anzahl der geretteten Patienten, zu erhöhen“, erläutert Prof. Dannecker. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Ausprägungen des Erfolgskriteriums zu unterscheiden. Diese seien nur dann verfassungsgemäß, wenn sich durch deren Verwendung die Anzahl der geretteten Organempfänger steigern lasse.
Die Rechtswissenschaftler ziehen hieraus folgende Schlüsse: Zulässig sind Verteilungsregelungen, die Patienten mit besseren Chancen, die Operation zu überleben, und Patienten mit geringerem Abstoßungsrisiko bevorzugen, selbst wenn hierdurch Patienten mit höherer Dringlichkeit das Nachsehen haben. „Indem man Patienten mit einer höheren Chance bevorzugt, wird zumindest auf Dauer eine größere Anzahl von Patienten gerettet als durch eine vorrangige Behandlung von Patienten mit schlechteren Chancen“, erklärt Prof. Dannecker. Ebenso zulässig sei es, solche Patienten zu bevorzugen, bei denen ein längeres Transplantatüberleben zu erwarten sei, da hierdurch ebenfalls eine Steigerung der Anzahl der geretteten Patienten erreicht werden könne. „Je länger ein Organ bei einem Patienten funktioniert, desto später benötigt er ein neues Spenderorgan, so dass auch der ohnehin zu große Wartepool entlastet wird.“ Unzulässig sei es dagegen, einen Patienten nur deshalb zu benachteiligen, weil er wegen einer chronischen Grunderkrankung oder seines hohen Alters eine geringere Lebenserwartung hat. „Durch die Benachteiligung Hochbetagter oder chronisch Kranker würden nicht mehr Menschen gerettet, sondern lediglich menschliches Leben nach seiner voraussichtlichen Dauer und Qualität bewertet. Dies ist mit der Lebenswertindifferenzkonzeption des Grundgesetzes nicht vereinbar.“
Gerhard Dannecker und Anne Franziska Streng plädieren dafür, den MELD-Score um einen weiteren Score zu ergänzen, der auch den Erfolgsaussichten Geltungsraum verschafft. Damit wäre er auch näher am Gesetzestext des Transplantationsgesetzes, wonach die Organvergabe nach „Erfolgsaussicht und Dringlichkeit“ zu erfolgen hat.
Originalveröffentlichung:
Gerhard Dannecker, Anne Franziska Streng: Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen einer an den Erfolgsaussichten der Transplantation orientierten Organallokation, Juristenzeitung 9/2012, 444-452
doi: 10.1628/002268812800567113.
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