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Originalpublikation

G.S. Gavelis, K.C. Wakeman, U. Tillmann, C. Ripken, S. Mitarai, M. Herranz, S. Özbek, T. Holstein, P.J. Keeling and B.S. Leander: Microbial arms race: Ballistic “nematocysts” in dinoflagellates represent a new extreme in organelle complexity. Sciences Advances. 2017;3(3): e1602552. doi: 10.1126/sciadv.1602552

 
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Gleichartige Bauprinzipien, unterschiedliche Gene: Miniaturwaffen in der Tierwelt

Pressemitteilung Nr. 83/2017
9. Juni 2017
Heidelberger Forscher beschreiben das Prinzip der Konvergenz am Beispiel von Einzellern und Nesseltieren

Foto links: Thomas Holstein und Pierre Tardent, rechts Urban Tillmann und Greg Gavelis

Abbildung links: Nematozysten von Nesseltieren (Hydra). Bei der Entladung wird der im Inneren der Kapsel eingerollte Schlauch innerhalb von Millisekunden nach außen geschleudert.
Rechts: Panzeralge Polykrikos kofoidii mit der Spitze der im Inneren befindlichen Nematozyste.

Sie verfügen über eine gleichartige Bauweise, dennoch sind sie genetisch grundverschieden: Das Prinzip der Konvergenz haben jetzt Biologen der Universität Heidelberg am Beispiel von Einzellern und Nesseltieren auf subzellulärer Ebene beschrieben. Beide Organismen haben im Laufe ihrer Evolution ähnliche Miniaturwaffen für den Beutefang entwickelt, ohne dass diese einen gemeinsamen stammesgeschichtlichen Ursprung besitzen, wie Privatdozent Dr. Suat Özbek und Prof. Dr. Thomas Holstein zusammen mit kanadischen Kollegen herausgefunden haben. Die Heidelberger Forscher untersuchen am Centre for Organismal Studies die Funktionsweise und molekulare Struktur dieser „Waffensysteme“.

Jeder, der im Meer badet, kann früher oder später von Quallen, Seeanemonen oder Korallen „genesselt“ werden. Namengebender Zelltyp dieser mehr als 500 Millionen Jahre alten Nesseltiere, der Cnidaria, sind die Nesselzellen. Sie enthalten mikroskopisch kleine Organellen – die Nesselkapseln, die auch Cniden oder Nematozysten genannt werden. Bei Reizung der Zelle schießen die Kapseln mit höchster Geschwindigkeit einen in ihrem Inneren aufgerollten und mit Stiletten bewaffneten Schlauch heraus. Dabei dringen diese subzellulären „Waffensysteme“ – ähnlich einer Miniaturharpune – wie ein Projektil in die Beute ein und injizieren gleichzeitig lähmende Gifte.

Wie diese Nesselkapseln entstanden sind, ist bisher unbekannt. Nach den Worten von Prof. Holstein geht die gängige Hypothese davon aus, dass sie von Organellen mit ähnlicher Bauweise und Funktion bei Einzellern abstammen. Danach müssten die Kapseln durch frühe Vorläufer der Nesseltiere in einer Art Symbiose aufgenommen worden sein. So gibt es bei einer Gruppe von modernen Einzellern – den Dinoflagellaten oder auch Panzeralgen – strukturell vergleichbare „Waffensysteme“, die ebenfalls als Nematozysten bezeichnet werden. Nach gängiger Lehrmeinung haben sie einen gemeinsamen evolutiven Ursprung.

Die Forschungsgruppe von Suat Özbek und Thomas Holstein hat jetzt die molekularen Bestandteile beider Organellen miteinander verglichen. Das überraschende Ergebnis: Beide zeigen keinerlei Übereinstimmung, wie Dr. Özbek berichtet. In ihrer Analyse konnten die Heidelberger Wissenschaftler gemeinsam mit einer Gruppe an der University of British Columbia (Kanada) zeigen, dass Cnidaria und Dinoflagellaten über gänzlich andere Gene und Proteine zum Aufbau ihrer jeweiligen Miniaturharpunen verfügen. Die Forscher in Heidelberg haben für die vergleichende Untersuchung dazu das Proteom – die Gesamtheit aller Proteine – von isolierten Nesselkapseln der Cnidaria umfangreich analysiert.

Wie Prof. Holstein betont, sind die beiden biologischen Systeme genetisch also grundverschieden. Dennoch zeigen hoch aufgelöste dreidimensionale Bilder der Nematozysten eine bisher nicht gekannte Komplexität und Ähnlichkeit in der Biomechanik, die die Entladung dieser Miniaturharpunen ermöglicht. So wird beispielsweise bei der Panzeralge Polykrikos lebouriae ein spitzes Projektil ausgestoßen. Die Panzeralge Nematodinium feuert bis zu 15 Projektile nacheinander ab, ähnlich einem mehrzylindrigen Repetiergewehr. Während die Beschleunigung bei den Kapseln der Nesseltiere durch einen hohen Innendruck angetrieben wird, fehlen bei den Panzeralgen die dafür notwendigen Stoffwechselwege. „Die hier zugrundliegenden Mechanismen müssen noch aufgeklärt werden“, so der Heidelberger Wissenschaftler, der die Forschungsgruppe Molekulare Evolution und Genomik am Centre for Organismal Studies leitet.

„Aus unseren Erkenntnissen ziehen wir den Schluss, dass es auch auf subzellulärer Ebene außergewöhnliche und extreme Fälle von Konvergenz gibt“, betont Prof. Holstein. Der Begriff „Konvergenz“ beschreibt in der Evolutionsbiologie die Entstehung gleichartiger Bauprinzipien, ohne dass die Organismen einen gemeinsamen phylogenetischen, das heißt stammesgeschichtlichen Ursprung besitzen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Entstehung von Flügeln bei Vögeln und Fledermäusen. Solche Übereinstimmungen in unterschiedlichen Organismengruppen entstehen durch die Anpassung an ähnliche Anforderungen der Umwelt.

Ausgehend von simplen sekretorischen Vesikeln, die Enzyme und bestimmte Proteine zur Anhaftung und Verdauung von anderen Zellen ausgeschieden haben, entwickelten sich vermutlich auf getrennten Wegen hochkomplexe subzelluläre Waffensysteme in Nesseltieren und Panzeralgen. Auslöser können zunehmend bessere Schutzmechanismen der Beuteorganismen gewesen sein, die zu ähnlichen evolutiven Lösungen geführt haben. Nach den Worten von Thomas Holstein sind die Einzeller durch eine große Vielfalt verschiedener ballistischer Organellen gekennzeichnet, was auf ein „Wettrüsten“ auf dieser frühen Evolutionsstufe hindeutet.
Die aktuellen Forschungsergebnisse wurden in „Science Advances“ veröffentlicht.

Abbildung links: Suat Özbek, rechts: Urban Tillmann und Greg Gavelis

Abbildung links: Nematozysten von Nesseltieren (Hydra). Bei der Entladung wird der im Inneren der Kapsel eingerollte Schlauch innerhalb von Millisekunden nach außen geschleudert.
Rechts: Nematozysten bei der Panzeralge Nematodinium. Dreidimensionale Rekostruktion der Nematozyste in Längsrichtung aus elektronenmikroskopischen Aufnahmen sowie eine virtuelle Darstellung der einzelnen Teile des „Repetiergewehr“-Mechanismus mit bis zu 15 Projektilen.
Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 16.11.2017
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