Historisches Fieber
Nur auf den ersten Blick ähnelt sich das antike und moderne Interesse an Geschichte
von Jonas Grethlein
Museumsboom und Gedenkstätten wie das Mahnmal Mitte in Berlin bezeugen heute ein wachsendes Interesse an der Vergangenheit. Auch im antiken Griechenland herrschte ein „historisches Fieber“. Nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in Dichtung und Rhetorik sowie der darstellenden Kunst beschäftigten sich die Griechen intensiv mit ihrer Vergangenheit. So ähnlich das moderne und antike Interesse an Geschichte auf den ersten Blick auch ist, so signifikant sind die Unterschiede. Während unser Geschichtsdenken seit dem 19. Jahrhundert vom Gedanken der Entwicklung geprägt ist, steht in der griechischen Antike der Gedanke menschlicher Fragilität im Vordergrund.
Nietzsches Diagnose, „daß wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden“, hat auch nach fast anderthalb Jahrhunderten nichts von ihrer Geltung eingebüßt. Während in den Geisteswissenschaften Konzepte wie das „kulturelle Gedächtnis“ und die „lieux de mémoire“ einen Siegeszug angetreten haben, bezeugen Heimatvereine, von der Freiburger Narrenzunft bis zur Boston Historical Society, ebenso wie Gedenkstätten, allen voran das Mahnmal Mitte in Berlin, die Allgegenwart von Erinnerung im gesellschaftlichen Leben. Die unaufhaltsam anwachsende Zahl von Museen und die Ausweitung dessen, was als ausstellungswürdig angesehen wird, haben ihren Niederschlag im Begriff der „Musealisierung“ gefunden.
Auch das antike Griechenland war, so der Titel eines Buches des holländischen Altphilologen Bernhard Abraham van Groningen, „in the grip of the past“. Die Geschichte wurde nicht erst von Herodot und Thukydides erfunden. Bereits vor der Geburt der Historiographie im 5. Jahrhundert vor Christus beschäftigten sich die Griechen in anderen literarischen Gattungen und Medien, die ihre Bedeutung auch nach Herodot und Thukydides behielten, intensiv mit ihrer Vergangenheit. Die homerischen Epen galten den Griechen als ihre „Alte Geschichte“, ein Glauben, dessen Reiz sich auch moderne Gelehrte nicht immer entziehen können, wie die von Joachim Latacz und Raoul Schrott ausgelösten Debatten um die Historizität des Trojanischen Krieges zeigen. Auch in Oidipus, Medea und anderen Helden der griechischen Tragödie sah das Publikum des athenischen Dionysostheaters historische Persönlichkeiten. Die „Alte Geschichte“ des Mythos erfreute sich großer Beliebtheit bei den Dichtern; dass sie sich aber auch mit zeitgeschichtlichen Ereignissen auseinandersetzten, illustriert ein neuer Papyrusfund, Fragmente einer Elegie des Simonides über die Schlacht bei Plataia (479 v. Chr.).
Besonders deutlich wird das „historische Fieber“ der Antike in der Rhetorik. Seit den Perserkriegen begruben die Athener ihre Gefallenen nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in ihrer Stadt auf dem Kerameikos, einem Friedhof im Nordwesten der Akropolis. Höhepunkt der feierlichen Zeremonie war eine Rede, die zu Ehren der Toten gehalten wurde. Ihr Lobpreis und die Tröstung der Hinterbliebenen treten allerdings zurück vor einer ausführlichen Darstellung der athenischen Vergangenheit, vom Kampf gegen die Amazonen über die Perserkriege bis zu den jüngsten Ereignissen. Im Kontinuum großer Taten, als das die Geschichte Athens erscheint, wird die individuelle Erfahrung von Verlust und Kontingenz aufgehoben – „der ruhmvolle Tod lässt eine unsterbliche Kunde großer Taten zurück“, wie Lysias in einem pointierten Chiasmus schreibt.
Nicht nur im Ritual der Grabreden, sondern auch in den politischen Reden spielt die Vergangenheit eine große Rolle. Dabei bevorzugen die Oratoren, um ihren Argumenten Schlagkraft zu verleihen, zeitgeschichtliche Beispiele. Demosthenes etwa erwähnt in einer Rede zuerst die Perserkriege und wendet sich dann Ereignissen aus der Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus zu: „Nun gut, das ist Alte Geschichte. Nehmen wir etwas, das ihr alle gesehen habt.“ Während die Distanz und Größe der mythischen Heroen besonders geeignet war, um im Rahmen des Symposiums oder bei Festen über kollektive Identitäten zu reflektieren, zog man in den pragmatischen Auseinandersetzungen der Volksversammlung und diplomatischer Konferenzen zeitgeschichtliche Beispiele vor.
Auch in Inschriften zeichneten die Griechen auf, was nicht dem Vergessen anheimfallen sollte. Beispielsweise stellten die Athener nach der Schlacht bei Eione (476 v. Chr.) Hermes-Statuen mit Inschriften auf, von denen eine den soeben errungenen Sieg über die Perser, eine andere den Beitrag Athens zur Eroberung Trojas pries. Die Statuen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton verankerten die Geschichte von der Vertreibung der Tyrannen im öffentlichen Raum. Dem kaiserzeitlichen Schriftsteller Pausanias verdanken wir die Beschreibung der Wandgemälde, mit denen die Stoa Poikile, eine Säulenhalle im Nordwesten der athenischen Agora, geschmückt war: Eines zeigte die Einnahme Trojas, ein anderes den Kampf gegen die Amazonen, das dritte den Sieg über die Perser bei Marathon und das vierte eine weitere zeitgenössische Schlacht. Nicht zu vergessen sind auch die Darstellungen auf Vasen, von denen viele der mythischen Vergangenheit gewidmet sind.
Herodot und Thukydides erfanden also keineswegs die Geschichte. Ihre Polemik gegen Redner und Dichter zeugt vielmehr von der Bemühung, sich einen Platz im dicht besetzten Feld der memoria zu sichern. Die Vergangenheit war in verschiedenen Medien und Kontexten gegenwärtig: In der Volksversammlung argumentierten die antiken Griechen mit Beispielen aus der Vergangenheit, im Theater und beim Symposium hörten sie Gedichte über die heroische Zeit, auf den Plätzen ihrer Städte riefen ihnen Inschriften, Statuen und Gemälde Vergangenes in Erinnerung. Wir neigen dazu, der Geschichtsschreibung einen besonderen Platz einzuräumen, aber es ist davon auszugehen, dass das Bild, welches sich die Griechen von ihrer Vergangenheit machten, stärker von nichthistoriographischen Medien der Erinnerung als von den Werken der Historiker geprägt war.
Gleicht dieses „historische Fieber“ der Antike dem, das Nietzsche der Moderne attestiert hat? In beiden Epochen spielt die memoria eine zentrale Rolle, aber das antike Geschichtsbild, so lässt sich zeigen, unterscheidet sich grundlegend von unserem. Es ist nicht unproblematisch, von „dem“ Geschichtsbild der Antike (oder der Moderne) zu sprechen, bilden sich doch in verschiedenen Medien und soziokulturellen Kontexten mannigfaltige Modi der memoria aus. Diese fügen sich aber doch zu epochenspezifischen Gravitationsfeldern. Ein zentraler Punkt des modernen Geschichtsverständnisses lässt sich an unserer Wahrnehmung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Ikonographie zeigen. Nehmen wir die „Perserschlacht“ von Albrecht Altdorfer, ein Bild aus dem Jahr 1529 nach Christus. Genauso wie knapp dreihundert Jahre später Friedrich Schlegel sind auch wir heute frappiert davon, mittelalterliche Burgen und Perser zu sehen, die genau wie die Türken aussehen, die im Entstehungsjahr des Bildes Wien belagerten. Die Darstellung vergangener Ereignisse im Gewand der Gegenwart beherrscht die mittelalterliche Kunst bis in die
Frühe Neuzeit und verliert ihre Plausibilität erst, als sich ein neues Geschichtsbewusstsein herausbildet. Wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, beginnt um 1800 nach Christus der Gedanke der Entwicklung das Geschichtsdenken zu dominieren. Dadurch rückt die Autonomie historischer Epochen in den Vordergrund, erschwert die einfache Gegenüberstellung verschiedener Zeiten und unterminiert den Topos historia magistra vitae – aus einer als fremd empfundenen Vergangenheit lassen sich nicht einfach Lehren für die Gegenwart ziehen.
In der Kunst der griechischen Antike werden Ereignisse aus der jüngeren und fernen Vergangenheit ähnlich dargestellt. Dies zeigt sich in wissenschaftlichen Kontroversen über die Referenz von Darstellung. Umstritten ist beispielsweise, ob auf der Schale des Brygos-Malers aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts der Raub des Palladion durch Odysseus und Diomedes oder die Plünderung des Perserlagers dargestellt ist.
|
In der Kunst der griechischen Antike werden Ereignisse der jüngeren und fernen Vergangenheit dagegen ganz ähnlich dargestellt, allerdings nicht wie in der mittelalterlichen Ikonographie im Gewand der Gegenwart, sondern in einem der Gegenwart fremden heroischen Register. Diese Ikonographie führt zwischen modernen Gelehrten immer wieder zu Kontroversen über den Inhalt und die Referenz von Darstellungen: Beispielsweise ist umstritten, ob auf einer Schale des Brygos-Malers aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts der Raub des Palladion durch Odysseus und Diomedes oder die Plünderung des Perserlagers dargestellt ist. Hier wie in anderen Fällen macht es uns die antike Konvention, Vergangenheit und Gegenwart ins gleiche Register zu setzen, schwer zu entscheiden, ob ein mythisches oder zeitgeschichtliches Ereignis abgebildet ist. Auch in anderen Medien finden wir die Gegenüberstellung verschiedener Zeiten, ohne dass deren qualitative Differenz bedacht wird. So vergleichen die bereits erwähnten Eione-Aufschriften eine zeitgenössische Schlacht implizit mit dem Trojanischen Krieg – ein Vergleich, den wir explizit im „Neuen Simonides“ finden: Dort werden die bei Plataia Gefallenen Achill zur Seite gestellt. In den „Persern“ des Aischylos (472 v. Chr.) schließlich wird die Schlacht bei Salamis, die erst acht Jahre zurücklag, episiert und in heroischem Gewand auf die Bühne gebracht.
Auch die Historiker, die gegen die Dichter und Redner polemisieren, lassen mythische und jüngere Ereignisse sich ineinander spiegeln. Thukydides etwa weist die homerische Darstellung des Trojanischen Krieges als unzuverlässig zurück und stützt seine eigene Rekonstruktion offensichtlich auf Analogieschlüsse vom Peloponnesischen Krieg. Während Homer einen Eid als Grund dafür anführt, dass die Griechen Agamemnon und Menelaos folgten, rückt Thukydides die Flottenmacht Mykenes und die Angst der anderen griechischen Poleis in den Vordergrund – eine Parallele zu Athen und seinem Seebund. Auch Herodot nutzt immer wieder den Trojanischen Krieg als Folie. So beispielsweise, wenn er Xerxes auf seinem Weg nach Griechenland durch Troja marschieren, die Ruinen besteigen und dort opfern lässt und damit die persische Invasion Griechenlands zu einer Inversion des Zuges gegen Troja macht. Anders als die Dichter ziehen Herodot und Thukydides die epische Folie nicht heran, um die jüngere Geschichte zu glorifizieren, aber auch sie stellen historische Ereignisse einander direkt gegenüber, ohne die qualitative Differenz zwischen ihren Epochen zu berücksichtigen. Die Vergangenheit ist für die Griechen noch kein „fremdes Land“.
Wie fremd uns eine solche exemplarische Sicht auf Geschichte ist, mag ein weiteres Beispiel verdeutlichen: Auf dem Buchdeckel einer neuen Übersetzung der „Ilias“ ins Englische sehen wir eine Photographie der Landung der Alliierten in der Normandie. Auf den ersten Blick erinnert die implizite Gegenüberstellung von Trojanischem Krieg und Zweitem Weltkrieg an die Vergleiche des ersten mit zeitgenössischen Schlachten in der griechischen Kunst und Literatur, aber der Unterschied ist bezeichnend: Während die verschiedenen Zeiten in den griechischen Darstellungen bruchlos überblendet werden, beruht der Effekt des Buchdeckels auf unserem Bewusstsein der Differenz zwischen dem Kampf von Achill & Co. und dem Stahlgewitter des modernen Krieges. Der Anachronismus springt potenziellen Lesern und Käufern ins Auge und wirbt für eine Übersetzung, die, wie wir auf der Rückseite des Buchdeckels lesen, versucht, das Heldenepos zu entstauben und unserer Zeit wieder neu zugänglich zu machen: „The narrator’s voice sounds contemporary without losing authority or resonance, while his heroes from an archaic time speak a racy, hardbitten idiom completely recognizable to our own Iron Age.“
Nicht erst die zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben den Glauben an Fortschritt erschüttert, das Ende der Geschichte ist mehrmals verkündet worden, und nach einer Liaison mit der Soziologie hat die Geschichtswissenschaft mit der Ethnologie angebandelt, aber trotzdem stehen wir auch heute noch im Schatten des Historismus: Unser historisches Denken ist immer noch vom Gedanken der Entwicklung bestimmt. Dieser ist der Antike nicht unbekannt, man denke etwa an die Kulturentstehungslehre im zweiten Standlied der „Antigone“ oder die „Archäologie“ des Thukydides. Das Paradigma der Entwicklung spielt aber nur eine marginale Rolle, wie sich in der Begriffsgeschichte zeigt: Während um 1800 nach Christus der Versuch, Geschichte als Entwicklung zu denken, zur Bildung des Begriffes der Geschichte im Singular führt, kennen die Griechen keinen vergleichbaren Terminus. Zu übermächtig ist tyche, der Zufall, als dass sich die Entwicklung zum dominanten Geschichtsparadigma aufschwingen könnte. Die Unbeständigkeit menschlichen Lebens verhindert, dass sich die für Entwicklungen notwendige Konstanz herausbilden könnte. Prägnant erfasst wird menschliche Fragilität beispielsweise im Blättergleichnis, das wir in der „Ilias“ finden (6.146-149; übersetzt von Wolfgang Schadewaldt):
Wie der Blätter Geschlecht, so ist auch das der Männer.
Die Blätter – da schüttet diese der Wind zu Boden, und andere treibt
Der knospende Stamm hervor, und es kommt die Zeit des Frühlings.
So auch der Männer Geschlecht: dies sproßt hervor, das andere schwindet.
Die Rezeption des Gleichnisses bei Mimnermos, Simonides, Pindar, Bakchylides, Aristophanes und anderen Dichtern bezeugt die zentrale Stellung der conditio humana im griechischen Denken. Dieses ausgeprägte Bewusstsein menschlicher Fragilität lässt sich in Verbindung setzen mit der exemplarischen Sinnbildung. Während in der Moderne der Gedanke der Entwicklung die didaktische Funktion der Geschichte unterminiert, werden, wie wir gesehen haben, in der griechischen Kunst und Literatur Gegenwart und jüngere Vergangenheit immer wieder im Spiegel der mythischen Vergangenheit gesehen. Die exemplarische Sinnbildung ist der Versuch, Regularität zu stiften und dadurch dem Zufall etwas von seiner bedrohlichen Kraft zu nehmen.
So ähnlich die Bedeutung der memoria sein mag, das antike und das heutige „historische Fieber“ beruhen also auf verschiedenen Geschichtsbildern. Der Unterschied tritt deutlich darin hervor, dass sich unser Interesse an der Vergangenheit nicht zuletzt in „Musealisierung“ und architektonischen Restaurationsprogrammen ausdrückt. Anders in der griechischen Antike: In archaischer und klassischer Zeit gab es zwar Sammlungen von Gegenständen in Tempeln, aber keine Museen in unserem Sinne. Systematische Restauration mit dem Ziel, einem Gebäude seine historische Gestalt wiederzugeben, ist erst im Hellenismus belegt. Nicht bevor der Gedanke der Entwicklung zu dominieren und ein Bewusstsein für die qualitative Differenz zwischen Epochen zu schaffen beginnt, gewinnen „Musealisierung“ und architektonische Restaurierung ihren Sinn. Auch die hier verfolgte Frage nach Geschichtsbildern erlangt ihre Berechtigung erst im Horizont des Historismus. Für die Griechen hätte sie sich nicht gestellt. Erst um 1800 nach Christus entstand ein Geschichtsbewusstsein, das Nietzsche raunen ließ: „Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.“
|
Jonas Grethlein ist seit 2008 Professor für Klassische Philologie an der Universität Heidelberg. Davor war er Emmy-Noether-Stipendiat in Harvard und Freiburg sowie Professor an der University of California, Santa Barbara. Im Jahr 2006 erhielt er den Heinz-Maier-Leibnitz Preis der DFG. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen „Littells Orestie. Mythos, Macht und Moral in Les Bienveillantes“ (Freiburg 2009) und „The Greeks and their Past“ (Cambridge 2010)
Kontakt: grethlein@uni-heidelberg.de