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Editorial

„Tragfähige Brücken zwischen den Wissenschaftskulturen kommen erst zustande, wo diese in der Lehre mitverankert werden.“

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

„Die Zukunft soll das höhere Echo der Vergangenheit sein“ – diese Notiz Robert Schumanns wählte unlängst der Freiburger Klarinettist und Komponist Jörg Widmann als Überschrift für einen Vortrag über Tradition und Innovation in der Musik. Er fand im Rahmen des Marsilius-Kollegs statt, das ein zentrales Element im Zukunftskonzept der Universität Heidelberg als „Volluniversität“ darstellt.

Nicht selten in der Wissenschaftsgeschichte sind im Rekurs auf die Musik grundlegende Fragen menschlichen Erkennens zur Sprache gebracht worden. Augustin zum Beispiel analysierte die Fähigkeit der Seele, sich „auszudehnen“ und so eine Tonabfolge in ihrem Nacheinander präsent zu halten, als Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt eine Melodie als Melodie vernehmen können. Die Reflexion auf die Fähigkeit der menschlichen Seele wiederum diente ihm zur Klärung der unter den Bedingungen des Neuplatonismus drängenden und auch für aktuelles Zukunftsdenken nicht unwichtigen Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit.

Mit dem Motto „Zukunft. Seit 1386“ weiß sich unsere Universität dem Zusammenhang von Tradition und Innovation verpflichtet. Es geht um eine produktive Gestaltung dieses Zusammenhangs, um ein Streben nach Erkenntnisgewinn, der aus dem Dialog mit der Tradition erwächst. Dass neue Erkenntnis gar nicht anders als unter den Voraussetzungen und im Kontext vorangehender Erkenntnis gewonnen werden kann, versteht sich von selbst. Das explizite Bewusstsein um die jeweils bestimmenden Voraussetzungen spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung neuer Fragen und der Bewältigung methodischer Herausforderungen. In einem solchen Dialog mit der je eigenen Wissenschaftstradition befinden sich alle Disziplinen, wenn auch mehr oder minder ausdrücklich.

Mit der Emanzipation der Natur- von den Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert und der zunehmenden Ausdifferenzierung der Disziplinen durch immer stärkere Spezialisierung haben sich unterschiedliche Wissenschaftskulturen herausgebildet. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erschien es in nahezu allen Disziplinen wichtig, die Grenzen der eigenen Disziplin um der Wissenschaftlichkeit willen sorgfältig zu markieren. In den letzten Jahrzehnten hingegen hat sich das Interesse von den Grenzen hin zu den Synergiemöglichkeiten verschoben, nicht zuletzt unter dem Druck humanitärer, ökologischer und sozioökonomischer Fragen, für die nur in der Interaktion verschiedener Forschungsbereiche Lösungen gefunden werden können.

Die Universität Heidelberg verfügt mit der Fächervielfalt einer „comprehensive university“ über die Möglichkeit, vielfältige Brücken zwischen den Pfeilern der Fachdisziplinen zu schlagen, und zwar nicht nur da, wo dies aus einzelnen aktuellen Erkenntnisinteressen heraus unmittelbar nötig ist. Auch jenseits bestimmter Einzelfragen können in einer Volluniversität gewissermaßen „zweckfrei“ Brücken zwischen Wissenschaftskulturen gebaut oder verstärkt werden. Die Potenziale dazu würden nicht genützt, wo man sich mit Hängebrücken oder gar mit Zugbrücken zufrieden gibt. Tragfähige Brücken zwischen den Wissenschaftskulturen kommen erst zustande, wo diese über Einzelinteressen hinausgehend im Forschungsinteresse und in der Lehre mitverankert werden. Damit verbindet sich die Aufgabe, wechselseitige Einblicke in die entscheidenden Paradigmen des Verstehens und die Begriffswelten zu gewinnen. Die zweite Runde der Exzellenzinitiative bietet die Möglichkeit, das Potenzial der „comprehensive university“ weiter auszubauen und tiefer zu verankern. Dabei gilt es nun auch, Konzepte für forschungsorientierte Lehre weiter zu entwickeln.

Zu einem schlüssigen Zukunftskonzept gehört nicht zuletzt, das Wissen darum zu bewahren, das in dem Wort „Zukunft“ selbst tradiert ist: Die Zukunft ist uns als auf uns zukommende nicht zur Hand und damit zugleich offen. Aus dem Bewusstsein dafür speist sich die besondere Dynamik in dem Streben, die Zukunft auf der Basis wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts gestalten zu wollen.

Robert Schumanns oben zitierte Notiz ist kompositionsgeschichtlich gemeint. Das „höhere Echo“ ergibt sich für ihn aus einer innovativen Weiterentwicklung bekannter Formen, in der das Experimentieren mit neuen Formen und das Ausleben von Dissonanzen eine entscheidende Rolle spielt. In ihnen drängt sich Neues auf. Das dürfte auch für den Diskurs der Wissenschaftskulturen gelten.

Ihre
Friederike Nüssel
Prorektorin für Studium und Lehre

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 30.09.2010