Abschied aus der Wissenschaft?
Philosophisches Denken in Zeiten der Globalisierung
von Anton Friedrich Koch
Aristoteles unterschied drei theoretische Wissenschaften: Metaphysik, Physik und Mathematik. Die Metaphysik betrachtet das Reale in seinem Sein, die Physik betrachtet es in seinem Werden, und die Mathematik untersucht formale, nichtsubstanzielle Aspekte des Realen. Alle thematisieren Einzelnes nicht als solches, sondern als Fall allgemeiner Bestimmungen und machen daher nur unwesentlichen Gebrauch von indexikalischen Ausdrücken wie „dies“, „ich“, „hier“, „jetzt“ und dem Tempus verbi. Zweifellos hat es die Mathematik im Verzicht auf solche Indikatoren am weitesten gebracht, so dass die theoretischen Wissenschaften unserer Tage mit gutem Grund nach mathematischer Darstellung streben, während die narrativen und historischen Wissenschaften auf Indikatoren angewiesen bleiben.
Die neuzeitliche Verbrüderung der Physik mit der Mathematik hat die Metaphysik ins Hintertreffen gebracht; verlegen um Methode und Darstellungsform steht sie seither am Rande des Spektrums der Wissenschaften und in keinem guten Ruf mehr. Als Grundlagendisziplin muss sie hinter gegebene Begrifflichkeiten, auch die mathematische, zurückgehen und zahlt dafür den Preis, dass ihre Lehren nicht präzise fixierbar und nicht streng beweisbar sind, sondern umstritten bleiben. Nach 2500 Jahren Geschichte der Metaphysik überwiegt schon lange der Eindruck, das kunstvolle Hin und Her ihrer Begriffe, Thesen und Argumente sei ausgereizt.
Dennoch wird es fortgesetzt auf höchstem wissenschaftlichem und scholastischem Niveau in der Analytischen Philosophie, allerdings nun doch mit leichten Anleihen bei der Mathematik und um den fälligen Preis einer Abkehr von Grundproblemen. Auf der anderen (unserer) Seite (des Atlantiks und Ärmelkanals) hat Heidegger schon früh, in Sein und Zeit, den Anspruch preisgegeben, sein Philosophieren sei theoretische Wissenschaft, und in seinem Spätwerk etwas voreilig sogar den Restanspruch, es sei Wissenschaft. Die Analytische Scholastik und Heideggers Abschied aus der Wissenschaft sollen nun kurz betrachtet werden.
David Lewis (1941-2001) hat in seinem Hauptwerk On the Plurality of Worlds (Oxford und New York 1986) die These begründet, dass es zahllose Welten gibt, die raumzeitlich und kausal isoliert sind. Jede Welt hat demnach ihr eigenes Raum-Zeit-System und ist kausal geschlossen. Alle Welten sind real, und jeweils eine von ihnen, die je eigene, gilt ihren allfälligen Bewohnern als aktual oder wirklich; die anderen Welten sind die nur möglichen oder die kontrafaktischen Welten. (So wird „wirklich“ – anders als „real“ – zu einem indexikalischen Ausdruck wie „hier“ und „jetzt“.)
Weil die Welten isoliert sind, kann keine Information von einer in eine andere fließen. Woher wissen wir dann, welche Welten es (außer der unsrigen) gibt? Antwort: Es existieren alle Welten, die widerspruchsfrei konzipierbar sind. Einen Teil von ihnen gewinnen wir, indem wir Eigenschaften, die wir aus unserer Welt kennen, in Gedanken frei rekombinieren. Wir kennen sprechende Köpfe auf lebendigen Rümpfen; also gibt es in anderen Welten, in denen andere (oder gar keine) Naturgesetze gelten, sprechende Köpfe ohne Rümpfe. Darüber hinaus müssen wir mit proprietates alienae, fremden Eigenschaften, rechnen, die in unserer Welt nicht exemplifiziert sind und über die wir weiter nichts sagen können.
Wenn theoretische Entitäten postuliert werden, wie Moleküle, Atome, Protonen, gilt die postulierende Theorie als bloße Hypothese, solange sie nicht durch unabhängige Experimente erhärtet ist. Der Weltenrealismus jedoch ist von vornherein als eine Lehre konzipiert, die nicht unabhängig erhärtet werden kann; denn andere Welten sind nicht experimentell nachweisbar. Was also spricht für diese Hypothese? Ihr enormer Nutzen für philosophische Analysen, sagt Lewis; und der Nutzen sei den Preis des Weltenrealismus wert. Wie Hilbert das Mengenuniversum ein Paradies für Mathematiker nannte, aus dem sie sich nicht wieder vertreiben lassen würden, so betrachtet Lewis die Vielheit der Welten als ein Paradies für Metaphysiker.
Viele sehen das so und wollen doch die Eintrittsgebühr fürs Paradies nicht entrichten. Sie schleichen sich hinein und essen unberechtigt von seinen Früchten. Lewis nennt sie Ersetzer („ersatzers“), weil sie die Welten durch ontologisch weniger kostspielige Gebilde wie sprachliche oder bildliche Vorstellungen ersetzen möchten. Die wirkliche Welt wäre dann die einzig reale, und die anderen Welten würden nur ideell, als Vorstellungsinhalte, existieren. Lewis glaubt, dass mit der Realität der Welten auch ihr Nutzen schwindet und dass die Ersetzer kein Aufenthaltsrecht im Weltenparadies haben. Aber die lassen sich davon nicht beeindrucken, sondern kommen und bleiben als illegale Aliene und gebrauchen in ihren Analysen den Mögliche-Welten-Komfort umsonst. Längst geben sie den Ton im Paradiese an und scheren sich nicht mehr darum, ob die Welten real sind oder ideell.
Von vielen Beispielen für den Nutzen der Welten sei nur eines erwähnt. Der Materialismus ist die Lehre, dass die physikalischen Tatsachen alles Weitere festlegen. Dies kann mittels des Weltenpluralismus wie folgt präzisiert werden: In jeder Welt, in der dieselben physikalischen Tatsachen bestehen wie in unserer Welt, bestehen auch alle weiteren (biologischen, psychologischen, soziologischen usw.) Tatsachen wie in unserer Welt. Der australische Philosoph David Chalmers glaubt, dass zwar fast alles in unserer Welt durch das Physikalische festgelegt ist, nicht jedoch unser bewusstes Erleben. Seine Auseinandersetzung mit dem Materialismus (The Conscious Mind, Oxford und New York 1996) verdankt ihre Präzision und Strenge dem Analyseinstrument des Weltenpluralismus.
Die Präzision und Strenge der Mögliche-Welten-Metaphysik begünstigt indes die Verdrängung von Grundproblemen zugunsten des Traktablen. Zu den Grundproblemen gehört, dass das Denken mit einem Widerspruch behaftet ist, wie die unscheinbare Antinomie des Lügnersatzes bezeugt, der dann und nur dann wahr ist, wenn er nicht wahr ist: „Dieser Satz ist nicht wahr“. Da die Welten als widerspruchsfrei konzipiert sind, wird mit ihnen der Widerspruch verdeckt, nicht behandelt. Die Behauptung, dass er dennoch da und dass unser Denken widerspruchsvoll ist – obwohl es unter der Norm der Widerspruchsfreiheit steht –, nenne ich die Antinomiethese.
Ein anderes Grundproblem umgibt die identitas indiscernibilium. Dies ist ein Satz der Logik zweiter Stufe, der besagt: Wenn x dieselben Eigenschaften hat wie y, sind x und y ein und dasselbe. Es lassen sich aber leicht Welten denken, in denen dieses Prinzip scheinbar verletzt wird, etwa Welten mit ewiger Wiederkehr des Gleichen, in denen jedes Ding exakte Duplikate in anderen Weltepochen hat, die ihrerseits ebenfalls Duplikate voneinander sind. Bei ewiger Wiederkehr seit einem Anfangszeitpunkt wäre zwar eine Weltepoche die erste, eine andere die zweite, wieder eine andere die dritte usw., und dadurch wären sie paarweise verschieden und dann auch alle Dinge verschieden von ihren Duplikaten. Bei ewiger Zweibahnwiederkehr – Wiederkehr in beiden zeitlichen Richtungen – aber gäbe es keine erste Epoche, von der aus man zählen und die Epochen durch ihren Platz in der Reihe unterscheiden könnte. Also wäre ein Ding von seinen Duplikaten hier vollkommen ununterscheidbar und nach Voraussetzung dennoch von ihnen numerisch verschieden – entgegen der identitas indiscernibilium. Will man die Zweibahnwiederkehr nicht ad hoc aus dem Reich des Möglichen ausschließen, so muss man etwas benennen, das für alle Welten die identitas indiscernibilium garantiert. Das Gesuchte ist auch leicht gefunden, sobald wir an unseren eigenen Fall denken: Wenn der Neckar unbekannte Duplikate hätte, wären diese zwar nicht für einen göttlichen, außerweltlichen Blick von nirgendwo, wohl aber für meinen endlichen, innerweltlichen, perspektivischen Blick unterschieden. Von mir aus gesehen ist der Neckar der Fluss, den ich kenne, und von meiner Gegenwart aus kann ich in die Vergangenheit und in die Zukunft abzählen: Es gibt das vorige und das nachfolgende, das vorvorige und das nachnachfolgende Neckarduplikat usw. Dann aber gehört der Standpunkt endlicher innerweltlicher Subjekte zu allen Dingen in allen Welten, und in jeder möglichen Welt gibt es verkörperte endliche Subjekte, die sich denkend auf sich und ihre Umwelt beziehen. Die Dinge verlangen es so – um der identitas indiscernibilium willen. Diese Behauptung nenne ich die Subjektivitätsthese.
Heidegger hat unabhängig von derlei Überlegungen die Antinomiethese und die Subjektivitätsthese anerkannt, jene, wenn er in Sein und Zeit davon spricht, dass wir in der Grundstimmung der Angst vor das Nichts gebracht sind, welches selbst „nichtet“ als ein widerspruchsvoller Grundsachverhalt, und diese, wenn er, ebenfalls in Sein und Zeit, den Anspruch preisgibt, sein Philosophieren sei theoretische Wissenschaft. Die theoretische Wissenschaft kann Indexikalität und Standpunktgebundenheit zwar thematisieren, soll es aber von dem für sie definitorischen Standpunkt der Standpunktfreiheit und in einem quasigöttlichen, außerweltlichen Blick von nirgendwo tun.
Heidegger hingegen lehrt, dass erkennende (und erst recht handelnde) Subjektivität mit der Welt untrennbar verwachsen ist, und nennt sie deswegen nicht mehr Subjektivität, sondern „Dasein“. Er lehrt ferner, dass im Gegenzug die Dinge auf das Dasein (leibliche Subjektivität) in ihrer Mitte angewiesen sind und nur dank ihm aus absoluter Verborgenheit – Unsichtbarkeit sogar für ein (per impossibile) als allwissend vorgestelltes Wesen – ins Sein und Sichzeigen hervorgehen können.
Während die Metaphysik – die traditionelle von Platon bis Hegel wie die analytische unserer Zeit – als theoretische Wissenschaft auftritt, wird in Sein und Zeit ein Schritt der Emanzipation der Philosophie von der Metaphysik vollzogen. Die Philosophie reiht sich ein unter die narrativen Disziplinen in Anerkennung ihrer eigenen Perspektivität, stellt sich aber zugleich über die theoretischen Wissenschaften durch ihre These, das Reale sei wesentlich auf endliche Perspektivität in seiner Mitte bezogen. Wird es aperspektivisch betrachtet, so fallen Aspekte seiner aus der Betrachtung heraus. Die mathematisch formulierten Theoriebildungen der Physik abstrahieren also nicht nur vom Geistigen, sondern auch von Zügen der Natur selber. Der umfassende Blick von nirgendwo geht ohnehin nicht bloß über das Vermögen endlicher Subjekte, sondern ist vielmehr eine inkohärente Chimäre, wie die Antinomiethese und die Subjektivitätsthese belegen.
In seiner Spätphilosophie ist Heidegger noch einen Schritt weiter gegangen und hat den Anspruch preisgegeben, sein Denken sei überhaupt fürderhin Wissenschaft. Weder Forschen noch Dichten, weder Kunst noch Wissenschaft, sondern etwas Neues soll es nun sein, für das freilich nicht weniger strenge Maßstäbe zu gelten hätten als für große Kunst und gediegene Wissenschaft. Aber vermutlich folgt Heidegger hier einem Phantom: Er will nach 2500 Jahren Metaphysikgeschichte einen „anderen Anfang“ vorbereiten; doch es ist zweifelhaft, ob es in der Sache einen wesentlich anderen Anfang philosophischen und wissenschaftlichen Denkens geben kann als den bei Heraklit und Parmenides.
Um dies zu prüfen, müssen „andere Anfänge“ von Philosophie (Logik, Metaphysik und Wissenschaft), die es de facto gab, in Indien, China, Japan, auf ihre Gehalte hin untersucht und mit dem griechischen Anfang verglichen werden. Vermutlich werden sich kulturinvariante Universalien zeigen; vermutlich wird sich belegen lassen, dass die Philosophie ein konsequentes, zugespitztes Weiterspielen des allgemeinen, alternativlosen Spiels der Gründe ist, in das der Homo sapiens vor Zehntausenden von Jahren hineingezogen wurde, als sich ihm die Sprache und in der Sprache die kategoriale Struktur des Realen zu erschließen begann. Also wird es keinen gänzlich neuen Anfang des Denkens geben können.
Dass dies die wahrscheinlichste Arbeitshypothese ist, hätte Heidegger aus eigenen Überlegungen schließen können. Aber im Kontext seiner Überlegungen wäre ihm dies wohl zu defätistisch erschienen; denn der Kontext ist seinerseits defätistisch bezüglich des ersten Anfangs, den Heidegger in einen globalen Siegeszug des „Bestands“-Denkens münden sah, worin er die höchste Gefahr – der völligen szientistischen Trivialisierung des Realen – erblickte. Dass sich die Dinge in bloßen Bestand verflüchtigen, lässt sich anhand der Weltenhypothese gut illustrieren, denn die Welten sind ja konzipiert als alternative maximale Bestände von Realem. Heidegger sah darin die letzte Konsequenz nicht nur der neuzeitlichen, sondern der ganzen westlichen, griechischen Philosophie. Stutzig hätte ihn indes machen müssen, dass die Ausläufer dieser Philosophie – im mathematisch formulierten und experimentell überprüften Rechnen mit Beständen – seit Jahrzehnten in der sogenannten Globalisierung völlig ungehemmt durch alle kulturellen Barrieren hindurchgehen. Offenbar handelt es sich nicht um ein spezifisch griechisches oder westliches, sondern um ein allgemeines Schicksal, das sogar aliene, extrahumane Kulturen, wenn es sie geben sollte, früher oder später erfassen müsste. Wenn das Bestands-Denken die Gefahr ist, so kann das Rettende nicht in einem anderen Anfang, sondern muss aus demselben Anfang wachsen, dem auch die Gefahr entsprang.
Es wäre also noch nicht damit getan, den griechischen Anfang des Denkens mit faktischen anderen Anfängen, in Indien, China oder Japan, abzugleichen, sondern der alternativlose Anfang des Denkens müsste neu auf seine emanzipatorischen Potenziale hin durchdacht werden in einer Philosophie, die sich als Wissenschaft versteht, aber ihre wesentliche Indexikalität anerkennt. Die Antinomiethese und die Subjektivitätsthese sind dazu ein geeigneter Leitfaden.
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Anton Friedrich Koch lehrt seit dem Jahr 2009 Philosophie in Heidelberg. Hier hat er studiert, wurde er 1980 promoviert und hatte er von 1979 bis 1981 eine Drittmittelstelle am Philosophischen Seminar inne. Danach war er Assistent in München, wo er sich 1989 habilitierte, und Professor in Halle und Tübingen. Seit 2008 ist er Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zu seinen neueren Veröffentlichungen zählt sein Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006.
Kontakt: a.koch@uni-heidelberg.de