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Mehr als nur Umgebung

Jede Gesellschaft schafft sich ihre eigene Raumordnung
von Sebastian Schmidt-Hofner

Sieben Nachwuchswissenschaftler aus fünf Ländern erforschen im Rahmen eines Projektes der Heidelberger Akademie der Wissenschaften die Wechselwirkung von soziokulturellen Ordnungen und Raumstrukturen. Dazu vergleichen die Forscher historische Kulturen der europäischen Antike und des Alten Orient. Das Projekt ist Teil des bereits im Jahr 2002 eingerichteten Kollegs für den Wissenschaftlichen Nachwuchs, kurz „WIN-Kolleg“, mit dem die Heidelberger Akademie der Wissenschaften jungen, an interdisziplinärem Austausch interessierten Wissenschaftlern ein neues Forum für Kooperation bietet. Für die Finanzierung des WIN-Kollegs stellt das Land Baden-Württemberg jährlich rund eine Million Euro zur Verfügung.

In weiten Teilen der kulturwissenschaftlichen Forschung wurde Raum lange als eine selbstverständliche, nicht weiter analysebedürftige Bedingung des jeweiligen Forschungsgegenstandes betrachtet. Dies hat sich seit einigen Jahren radikal geändert, mittlerweile spricht man von einem „spatial turn“ der Kulturwissenschaften. Den breit gestreuten Forschungsinteressen und Ansätzen dieses Trends ist gemeinsam, dass Raum nicht mehr als bloße „Umgebung“ konzeptionalisiert wird, innerhalb derer und von der unberührt sich menschliches Handeln vollzieht. Raum wird vielmehr als Produkt menschlichen Handelns begriffen, das im Wechselspiel individuellen Erlebens, sozialen Handelns und dessen materiellen Manifestationen beständig neu erzeugt wird. Menschliche Lebensräume bilden somit soziale Verhältnisse, politische Ordnungen, Sinn- und Wissenskonfigurationen ab und spielen umgekehrt eine wesentliche Rolle bei ihrer Reproduktion.

Das ist, wie beispielweise der Stadtraum zeigt, keine bloße Theorie: In vielen Städten, nicht nur der Dritten Welt, lässt sich etwa die zunehmende soziale und manchmal auch bauliche Abschottung („gated communities“) von Wohnquartieren und Stadtteilen beobachten, wobei die soziale Exklusivierung häufig mit der Monopolisierung bestimmter Güter und Kulturangebote einhergeht. Sozial Außenstehende werden so in mehrfacher Hinsicht auf Distanz gehalten. Ähnliche Prozesse sind, mit anderer Stoßrichtung, auch bei der Ghettoisierung von (städtebaulich häufig ebenfalls separierten) „no-go-areas“ wirksam.

Im öffentlichen Bewusstsein kaum problematisiert, aber sozial genauso folgenreich sind auch die traditionellen städtischen Topographien, in denen sich soziokulturelle Ordnungskonzepte durch Kathedralen, durch die Plananlagen frühneuzeitlicher Residenzstädte, durch Industrieanlagen, durch die Imponierarchitekturen der Finanzmacht und so fort manifestieren. Die Sozialordnung schafft also in Stadtbild und -struktur materiell greifbare Räume, die diese umgekehrt wieder stabilisieren und reproduzieren.

Ein wesentlicher Faktor dieser Raumproduktion sind soziale, politische oder kulturelle Ordnungskonzepte, die normativen Charakter haben, also verbindlich und durch Sanktionen geschützt sind: Wem ein Stück Boden gehört, welche Gruppe oder politische Einheit ein Gebiet beansprucht, welche Räume (Kultbezirke, Friedhöfe, Versammlungsplätze) für bestimmte Lebensvollzüge reserviert sind oder besondere Verhaltensweisen erfordern und ähnliche Erfahrungen von raumbezogenen Ge- und Verboten führen uns diesen Aspekt der Raumstrukturierung täglich vor Augen und bestimmen wesentlich unser Handeln. Solche normativen Ordnungskonzepte schreiben sich durch menschliches Handeln in den physischen Lebensraum des Menschen ein und erzeugen dadurch eine besondere, nämlich normativ fundierte Raumstruktur.

Die Beziehung dieser normativen Raumordnung zur soziokulturellen Ordnung ist dabei wechselseitig: Staatsgrenzen beispielsweise, insbesondere die nationalstaatlichen Grenzen des 19. und 20. Jahrhunderts, sind zwar einerseits Ausfluss solcher Ordnungskonzepte, wirken andererseits aber in erheblichem Maße auf Interaktionsmuster, Mentalitäten und Sozialstrukturen zurück.

Raumordnungen können je nach Kultur und Epoche sehr unterschiedlich sein. So ist die Idee eines rechtlich homogenen, klar abgegrenzten politischen Territoriums anstelle diffuser Grenzzonen und rechtlicher Heterogenität in der Geschichte des Abendlandes ein eher rezentes Phänomen. Und nicht nur dort: Während etwa die griechischen Poleis das Konzept eines definierten, nach außen abgegrenzten politischen Territoriums kannten, entwickelten die altorientalischen Reiche und in gewissem Maße auch das Römische Reich erst spät oder gar nicht die Vorstellung fixierter Reichsgebiete.

Will man trotz solcher Unterschiede zu allgemeingültigen Ergebnissen kommen, bietet ein komparatistischer Ansatz den besten heuristischen Zugang: Um die raumordnungsbezogenen Praktiken, Sinn- und Wissenskonfigurationen in einer Gesellschaft ohne ethnozentrische Perspektivenverzerrung verstehen zu können, ist es nötig, ihre spezifischen Differenzen, Gemeinsamkeiten oder funktionalen Äquivalente im Vergleich zu anderen Kulturen zu beschreiben.

Hier setzt das WIN-Projekt der Heidelberger Akademie an: Ziel ist ein interkultureller Vergleich normativer Raumordnungen anhand von Fallbeispielen aus dem Alten Orient (1.-3. Jahrtausend v. Chr.), aus der minoischen Kultur Kretas (2. Jahrtausend v. Chr.), aus
der klassischen griechischen und der römischen Geschichte.

Das Projekt ist methodisch interdisziplinär angelegt und behandelt möglichst viele Facetten normativer Raumordnungen: So untersucht ein althistorisch ausgerichtetes Teilprojekt die soziokulturellen Bedingungen und Folgen territorialen Denkens in der griechischen Polis, ein weiteres aus archäologischer Sicht das Verhältnis von Sozialordnung und Siedlungsstrukturen in minoischer Zeit, ein drittes aus religionswissenschaftlicher und rechtshistorischer Perspektive die Bedeutung sakraler Räume in Rom.

In die aktuelle kulturwissenschaftliche Raumdebatte bringt das Heidelberger Akademieprojekt damit nicht nur einen bislang wenig beachteten Aspekt ein. Als historische Grundlagenforschung bietet es die Chance, die bislang stark westlich-gegenwartsbezogene Debatte auf ungewohnte Phänomene aufmerksam zu machen und dem Denken über das Verhältnis von Raum und Gesellschaft so neue Impulse zu geben.

 

Dr. Sebastian Schmidt-Hofner  
Foto: Friederike Hentschel

Dr. Sebastian Schmidt-Hofner ist Sprecher des „WIN-Kollegs“. Nach seinem Studium in München und Oxford und der Promotion im Fach Alte Geschichte an der Universität Marburg ist er seit dem Jahr 2006 als Assistent am Heidelberger Seminar für Alte Geschichte tätig. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschäftigen sich bisher vornehmlich mit der politischen Kultur der späten römischen Kaiserzeit.

Kontakt: sebastian.schmidt-hofner@zaw.uni-heidelberg.de
Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter http://www.haw.uni-heidelberg.de/forschung/win-raumordnung.de.html.

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 29.12.2010
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