Die wunderbare Welt der ultrakalten Atome
Vom Chaos zur modernen Physik
von Sandro Wimberger
Chaos und Unordnung bedeuten in unserem Alltagsleben üblicherweise nichts Gutes. Schon die antike griechische Mythologie belegte den Begriff „Chaos“ mit negativen Assoziationen, ein ungeordneter Zustand, eine unklare „Ursuppe“, die erst durch Regeln und das Einführen einer göttlichen Ordnung zum „Kosmos“, also zu unserem Universum, wurde.
Dem Paradigma einer Urformel oder einer großen vereinheitlichenden Theorie steht in den modernen Naturwissenschaften gleichberechtigt die Idee von der Komplexität als dem eigentlichen Ursprung von Musterbildung und Ordnung gegenüber. Tatsächlich sind die meisten Naturvorgänge intrinsisch komplex: Viele Komponenten sind beteiligt; der Physiker spricht von „Freiheitsgraden“. Man denke nur an biologische Systeme, die sich einer von einzelnen Elementarteilchen ausgehenden Beschreibung vollständig entziehen. Würde unsere Welt dem purem Zufall unterliegen, wäre es um die Ordnung geschehen. Fast alles würde vom Chaos beherrscht. Diesen scheinbaren Widerspruch deckte bereits der französische Physiker Henri Poincaré auf, als er sich vor mehr als hundert Jahren mit der Bewegung der Planeten in unserem Sonnensystem beschäftigte. Er hat damit den Bereich der Mathematik und Physik begründet, der sich heute Chaostheorie nennt. Poincaré schlussfolgerte, dass im Falle allgemeiner Annahmen die Bewegungsgleichungen bereits für nur drei Planeten nicht geschlossen lösbar sind. Schlimmer noch: Die Planetenbahnen können unter vielen Bedingungen – man sagt generisch – chaotisch verlaufen. Eine kleine Änderung der Startbedingungen kann also nach dem Prinzip „kleine Ursache – große Wirkung“ zu vollkommen veränderten Bahnen führen. Dass das Universum für uns stabile Anfangsbedingungen bereitstellte, ist ein ungelöstes Rätsel, wohl aber konsistent mit den Naturgesetzen.
Wie eine fraktale Kurve durch immer kleinere, selbstähnliche Strukturen entsteht: Die „Koch‘sche Kurve“ verdeutlicht das Prinzip der immer feineren Messung einer Küstenkurve durch stets kleiner werdende Ecken.
Abb.: * http://science.kario.at/physics
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Der moderne wissenschaftliche Chaosbegriff entstand in den 1960er- und 1970er-Jahren. Komplexes Verhalten konnte mit Computern simuliert werden, und es zeichnete sich ab, dass viele Naturvorgänge einem chaotischen Muster unterliegen. Als Beispiel sei der Begriff „Fraktal“ erwähnt. Er beschreibt Strukturen, die sich noch auf kleinsten Skalen (kleine Ursache!) ändern, dabei jedoch einem übergeordneten Prinzip folgen, der sogenannten Selbstähnlichkeit. Benoît Mandelbrots Fraktalbegriff erlangte 1977 seinen Durchbruch durch eine Analyse des englischen Küstenverlaufs, der sich über viele Größenordungen als selbstähnlich, also fraktal, erwies. Dies führt zu dem Paradoxon, dass die Länge der Küste von der Feinheit des Maßstabs abhängt und im Grenzfall unendlich kleiner Einheiten selbst unendlich lang wird.
Neben dieser auf einfachen mathematischen Modellen basierenden Beschreibung komplexen Verhaltens wuchsen auch das Verständnis und das nötige theoretische Handwerkszeug, um äußerst komplizierte physikalische Systeme, die sich aus vielen Komponenten zusammensetzen, zu untersuchen. In Heidelberg wurden beispielsweise Modelle für hochangeregte Atomkerne studiert, die aus vielen Nukleonen bestehen. Solche Kerne stellen somit das erste systematisch untersuchte chaotische Quantensystem dar. Vielteilchensysteme auf mikroskopischen, sprich quantenmechanischen, Skalen werden zwar seit vielen Jahrzehnten als Modelle für Festkörper untersucht, jedoch üblicherweise nicht fernab ihres Gleichgewichtszustandes. Genau diese Ungleichgewichtsbedingung zeichnet aber quantenchaotische Systeme wie hochangeregte Atomkerne aus.
Ein Gemisch aus kalten Atomen der Elemente Lithium (Li) und Cäsium (Cs), die sich räumlich überlagern und von unterschiedlichen Feldern (durchgezogene blaue und rote Linien) gehalten werden: In derartigen Systemen lassen sich Phänomene der Vielteilchenphysik bestens untersuchen.
Abb.: siehe unten **
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Selbst in einem scheinbar einfachen System wie einem einzigen Wasserstoff- oder Heliumatom kann ein äußeres Feld viele interne elektronische Zustände koppeln. Das macht deren Beschreibung kompliziert. Neben diesen niedrigdimensionalen (im Sinne von Teilchenzahl und räumlichen Dimensionen) Gebilden greift man in den letzten Jahren verstärkt die ursprüngliche Idee auf, wirkliche Vielteilchensysteme zu untersuchen, da sie heute im Labor besser kontrollierbar hergestellt und manipuliert werden können. Wahrscheinlich die beste Möglichkeit stellen ultrakalte atomare Gase dar, deren Komponenten (Atome oder Moleküle) sich extrem langsam bewegen. Dabei kann die Wechselwirkung zwischen den Bestandteilen als auch mit äußeren Feldern beinahe mit beliebiger Genauigkeit eingestellt werden. Kollektive Anregungen spielen in diesen Gasen automatisch eine große Rolle, was die Analogie mit den Nukleonen in Atomkernen vor Augen führt.
Die wunderbare Welt der ultrakalten Atome realisiert im Mikrokosmos ein komplexes Vielkörpersystem, in Analogie zu dem makroskopischen Planetengebilde, das Poincaré und viele seiner Nachfolger bewog, den Chaosbegriff in die Wissenschaft einzuführen. Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit dem Studium niedrigdimensionaler Modelle, die unter ihren vereinfachten Bedingungen eine analytische Beschreibung erlauben. Der Schwerpunkt unserer Tätigkeit liegt jedoch auf der Physik der kalten Atome. Diese Vielteilchensysteme lassen sich oft nur mithilfe von Computerexperimenten untersuchen. Ein hochaktuelles Problem mit vielseitigen Anwendungen ist dabei die Kontrolle einzelner Atomsorten durch Reservoire, die beispielsweise aus einem großen „Bad“ einer anderen Sorte oder aus einem sogenannten Bose-Einstein-Kondensat bestehen. Solche Anordnungen, die nach außen an Umgebungen koppeln, sind generisch insofern, als sich kein System wirklich vollständig isolieren lässt. Darüber hinaus kann man die Umgebung nicht nur als lästige Störung sehen, sondern auch nutzen, um mit ihr das interne System an sich zu steuern. Dabei sind natürlich viele Fragen noch offen, vor allem, wie man am besten Methoden aus den verschiedenen Bereichen der Forschung zusammenführt, um derartig vielschichtige und komplexe Vielteilchenprobleme auf mikroskopischer Ebene möglichst realistisch zu beschreiben.
Foto: Friederike Hentschel, Heidelberg
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Sandro Wimberger ist Privatdozent und Nachwuchsgruppenleiter im Institut für Theoretische Physik. Seine Arbeitsgruppe „Komplexe Dynamik in Quantensystemen“ ist Teil der Heidelberger Graduiertenschule für Fundamentale Physik und des „Center for Quantum Dynamics“ der Heidelberger Fakultät für Physik und Astronomie. Quantenchaos und die Physik ultrakalter Atomgase sind die zentralen Forschungsgebiete von Sandro Wimberger.
Im nächsten Jahr wird er eine Arbeitsgruppe der Studienstiftung des deutschen Volkes im Rahmen der Sommerakademie in Olang zur hier vorgestellten Thematik der Theorie komplexer (Quanten-)Systeme leiten.
Kontakt: s.wimberger@thphys.uni-heidelberg.de
Abb. *: http://science.kario.at/physics
Abb. **: Mit freundlicher Genehmigung des „Center for Quantum Dynamics" und der Arbeitsgruppe von Herrn Professor Matthias Weidemüller im Physikalischen Institut der Universität Heidelberg.