Magie der Inschrift
Die sinnliche Art der Informationsübermittlung
von Astrid Lembke und Ludger Lieb
Ein Ehering mit Gravur, die Initialen des eigenen Namens im Nummernschild des Autos, ein Graffito auf grauem Beton oder das Tattoo auf dem eigenen Körper. All das sind Beispiele für Inschriften, die der moderne Alltag für uns bereithält. Inschriften faszinieren die Menschen – nicht nur heute. Von alters her sind Menschen begeistert von der besonderen, sinnlich erfahrbaren Art, Informationen zu übermitteln. Was diese besondere Textkultur auszeichnet und die Inschrift über die Jahrhunderte hinweg zu einem beinahe magisch zu nennenden Schrifttypus macht, untersuchen Wissenschaftler in einem neuen Heidelberger Sonderforschungsbereich.
Was ist eine Inschrift? Und was kann an einer Inschrift – heute oder vor 800 Jahren – faszinieren? Welche Kulturtechniken und welche Vorstellungen von der Funktion und Bedeutung der Schrift lassen sich historisch rekonstruieren? Was erzählen uns mittelalterliche Texte von Inschriften? Diesen Fragen geht das Projekt „Inschriftlichkeit: Reflexionen materialer Textkultur in der Literatur des 12. bis 17. Jahrhunderts“ nach. Es hat seine Arbeit im Juli 2011 als Teil des neuen Heidelberger Sonderforschungsbereichs „Materiale Textkulturen“ aufgenommen.
Inschriften haben eine lange Tradition. Ein bekanntes Beispiel ist das Menetekel an der Wand: In einer geheimnisvollen und für den Adressaten zunächst unverständlichen Schrift warnt Gott den babylonischen König Belsazar vor seinem Tod. (Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, MS Cod. Pal. germ. 18)
Copyright: Universitätsbibliothek Heidelberg
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Was also ist eine Inschrift? Von einer Inschrift als einem besonderen Typus von Schrift sprechen wir, wenn das Geschriebene mit dem Gegenstand, auf dem es sich befindet, eine besondere, eine „gesteigerte“ Verbindung eingeht. Das, was die Schrift sagt, wird in einem solchen Fall entscheidend vom Schriftträger bestimmt. Die Materialität des Geschriebenen wird nicht, wie sonst üblich, während der Rezeption zum Verschwinden gebracht. Liest man beispielsweise einen Roman, so ist die spezifische Materialität des Buches – also sein Einband, sein Papier oder seine Druckerschwärze – kein unverzichtbarer Bestandteil für die Rezeption des Romans. Wer dagegen bewusst und mit Engagement einen ausgewählten Gegenstand beschriftet, drückt damit aus, dass zwischen diesem Gegenstand und der Schrift, die darauf angebracht wird, eine intensive Beziehung besteht. Der Schriftträger wird zum Sinnträger, der mit dem Geschriebenen in einem engen Zusammenhang steht und nicht beliebig austauschbar ist.
Deutlich sichtbar wird das Interesse, das eine solche gesteigerte Verbindung von Schrift und Beschreibstoff erzeugen kann, vor allem dann, wenn das Material, auf das geschrieben wird, sich auffällig von alltäglich benutzten Schreibmaterialien unterscheidet. Wenn also einmal nicht Briefpapier beschriftet wird, ein Notizzettel oder eine Schultafel, sondern ein Stein, ein Gefäß oder gar ein menschlicher Körper. Von gewöhnlichen schriftlichen Botschaften unterscheiden sich solche Inschriften dadurch, dass sie nicht nur mit ihrem Inhalt eine Information vermitteln, sondern auch mit der Art und Weise, wie der Inhalt für den Betrachter sinnlich erfahrbar gemacht wird.
Fühlbare Präsenz
Auch der moderne Alltag hält dafür viele Beispiele bereit: Inschriften auf Grabsteinen zeugen von der beständigen Erinnerung an einen Verstorbenen; auf ähnliche Weise verewigt der Tourist seine flüchtige Anwesenheit auf einem Aussichtsturm oder der Oberfläche eines Denkmals. Gravuren in Eheringen machen die Treue der Ehepartner materiell, das heißt sichtbar, spürbar und symbolisch präsent. Verliebte, die ihre Namen in Bäume ritzen, verleihen der Hoffnung Ausdruck, dass ihre Liebe und die Intensität ihrer Zusammengehörigkeit auf die gleiche Weise wachsen möge wie der Baum, der die schriftliche Beteuerung dieser Liebe trägt. Graffiti auf Gebäuden oder Gegenständen, die ursprünglich nicht zum Beschriften vorgesehen waren, werden zum Zeichen protestierender Aneignung. Die Initialen eines Namens im Nummernschild eines Autos machen einen massenhaft produzierten Gebrauchsgegenstand einzigartig, indem sie ihn einer Person zuordnen, während ein Tattoo den Träger selbst als einzigartig kennzeichnen soll.
Die Wechselwirkungen zwischen dem Inhalt einer Inschrift und dem Material, dem Gegenstand oder Körper, der sie trägt, verraten also viel darüber, wie sich der Schreiber zu seiner Umwelt verhält, in welchem Verhältnis er sich zu seinen Mitmenschen sieht und welche Ansprüche er in Form der Inschrift an sich selbst, an ein einzelnes Gegenüber oder an die Gesellschaft richtet.
Vorläufer des modernen Tattoo? Der Mystiker Heinrich Seuse erzählt im 14. Jahrhundert von einer Inschrift, die aus den ersten drei Buchstaben des Christusnamens besteht und als Zeichen der ewigen Verbundenheit zwischen Gott und Mensch in die Haut über dem Herzen geritzt wird. (Handschrift Straßburg, National- und Universitätsbibliothek, MS 2929)
Copyright: Straßburg, National- und Universitätsbibliothek
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Der Einfallsreichtum, mit dem die moderne westliche Gesellschaft verschiedenste Modelle der Inschriftlichkeit hervorbringt, wird höchstens übertroffen vom Schatz ihrer fiktiven Inschriften. In Christopher Nolans Thriller „Memento“ etwa, der im Jahr 2000 in die Kinos kam, tätowiert sich der Protagonist vermeintlich eindeutige Informationen und Handlungsanweisungen auf den Körper, um eine Erinnerungsschwäche zu kompensieren, was sich allerdings angesichts der Interpretationsbedürftigkeit der Informationen als unmöglich erweist.
Ein weiteres aus der Populärkultur der letzten Jahre bekanntes Beispiel findet sich in Quentin Tarantinos Actionfilm „Kill Bill – Volume 1“: Eine Person schreibt mit dem Finger einen Namen auf eine schmutzige Fensterscheibe und löscht die solchermaßen sichtbar gemachte Botschaft, nachdem der Gesprächspartner sie gelesen hat, sofort wieder aus.
In beiden Fällen spielt neben der Materialität der Inschrift und ihrer fühlbaren Präsenz auch die erzählerische Reflexion über ihre Wirkung eine Rolle. In den Spielfilmen wird auf jeweils unterschiedliche Weise davon erzählt, dass die Kommunikation mit Hilfe von Inschriften ein paradoxer Akt ist. Schon aus der Differenz zwischen der ursprünglichen materialen Bestimmtheit des Schriftträgers und seiner künstlichen Bestimmtheit durch die Inschrift erwächst eine Spannung, die man als das materiale Paradox der Inschrift bezeichnen kann. Die Spannung zwischen der ursprünglichen Materialität und der Funktionalisierung als Schriftträger sorgt dafür, dass die Inschrift ihr Sinnpotential entfalten kann und Aufmerksamkeit erregt. Zugleich kann die Inschrift eine Information sowohl speichern als auch verbergen oder verloren gehen lassen, sie kann eine Präsenz suggerieren, die bloße Behauptung bleibt, sie kann vorgeben, einen Inhalt zu fixieren, der gar nicht zu fixieren ist, oder ein Geheimnis zu offenbaren, dem ihr Betrachter eigentlich nur an anderer Stelle auf die Spur kommen kann. Diese Phänomene nennen wir das kommunikative Paradox der Inschriften: Oft sagen sie, was nicht gesagt werden kann, oder suggerieren eine Kommunikation, die aber gerade nicht stattfindet. Indem zuletzt die Inschrift sowohl den Regeln der Mündlichkeit als auch denen des konventionellen Schriftgebrauchs enthoben ist, bewirkt sie etwas, was ein gesprochenes Wort oder ein gewöhnliches Schriftstück nicht bewirken könnte. Der Effekt, den die Inschrift in ihrer Materialität und Präsenz und all den damit verbundenen Widersprüchen auf den Betrachter ausübt, wird dabei selbst zum Thema der Erzählung.
Faszination Inschriftlichkeit
Die realen wie auch die fiktiven Praktiken moderner Inschriftlichkeit, wie sie sich in Filmen und Fernsehserien, in der bildenden Kunst und in der erzählenden Literatur finden, stehen in einer langen Tradition. Bereits in der hebräischen Bibel begegnen uns viele Beispiele gesteigerter Schriftlichkeit, etwa, wenn es von dem Propheten Ezechiel heißt, er habe Gottes Wort in Gestalt einer Schriftrolle erhalten und diese verspeist, um die Botschaft ganz in sich aufzunehmen. Solche Beispiele bearbeitet das theologische Projekt „Erzählungen von Geschriebenem als Grundlage einer ‚Text-Anthropologie‘ des Alten Testaments“ von Professor Jan Gertz im Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“. Im Danielbuch wiederum wird erzählt, wie Gott den babylonischen König Belsazar vor seinem Tod warnt, indem er eine geheimnisvolle und für den Adressaten zunächst unverständliche Schrift (das Menetekel) an der Wand des Königspalastes erscheinen lässt. Diese biblischen Erzählungen von Inschriften, die in ihrer Materialität und Präsenz etwas vom göttlichen Wesen im Diesseits aufscheinen lassen, werden auch im christlichen Mittelalter und in der Frühen Neuzeit immer wieder aufgenommen, neu erzählt und illustriert.
Materialität – fühlbare Präsenz – erzählerische Reflexion: Auch in einer Welt wie der unsrigen, für die Schriftlichkeit gewöhnlich und alltäglich geworden ist, faszinieren Inschriften und üben eine beinahe magisch zu nennende Wirkung aus. Graffiti auf Berliner Mauern.
Foto: Jan Neuffer, Berlin
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Mit der erzählerischen Gestaltung solcher und anderer textimmanenter Inschriften vor allem in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit befasst sich unser Projekt zur Inschriftlichkeit. Wir untersuchen vor allem Inschriften, von denen in fiktionalen Texten erzählt wird – was überraschend häufig geschieht und was wiederum ein Indiz für die Faszination sein dürfte, die von Inschriften ausgeht. Wenn die Autoren in ihren Romanen, Epen, Liedern oder Autobiographien von beschrifteten Artefakten und Rezeptionspraktiken erzählen, reflektieren sie dabei sowohl ihr Verständnis von als auch ihren Umgang mit dem Geschriebenen. Solche Erzählungen sind nicht deswegen von Interesse, weil sie auf die Beschreibung historisch realer Artefakte und Rezeptionspraktiken zielen, sondern weil sie Teil eines zeitgenössischen Diskurses über Materialität und Präsenz von Geschriebenem sind. Unsere grundlegende Annahme lautet, dass die Auswahl dessen, was ein Erzähler sein Publikum über eine Inschrift wissen lässt, zwar nicht unbedingt Auskunft darüber gibt, wie und aus welchem Grund man früher reale Inschriften anfertigte. Sehr wohl aber können anhand einer größeren Anzahl von solchen erzählten Inschriften Aussagen darüber getroffen werden, was die Autoren zu verschiedenen Zeiten am erzählerischen Potenzial von fiktiven Inschriften interessierte und welche Funktionen und Effekte man ihnen zuschrieb, kurz: was sie an der Inschriftlichkeit faszinierte. Nicht zuletzt lassen solche Untersuchungen Rückschlüsse über mittelalterliche Auffassungen von gegenstands- und körperbezogener Kommunikation zu.
Die Liebesgeschichte auf der Hundeleine
An drei Beispielen aus drei verschiedenen Jahrhunderten wollen wir veranschaulichen, auf welcher Grundlage eine Faszinationsgeschichte der Inschriftlichkeit geschrieben werden kann.
Das erste Beispiel stammt aus Wolfram von Eschenbachs „Titurel“ (um 1220). In diesem Romanfragment erzählt Wolfram die tragische Liebesgeschichte von Schionatulander und Sigune. Schionatulander, der mit seiner Geliebten Sigune im Wald zeltet, fängt einen entlaufenen Jagdhund, einen „Bracken“, ein. Auf die etwa zehn Meter lange kostbare Leine des Hundes, das sogenannte Brackenseil, ist eine lange Liebesgeschichte mit Buchstaben aus Edelsteinen geschrieben. Während Sigune die Geschichte noch liest, kann sich der Hund befreien und entkommt, wobei er Leine und Geschichte mit sich nimmt. Sigune befiehlt Schionatulander, ihm nachzusetzen, denn sie will die Inschrift unbedingt fertig lesen. Auf der Suche nach dem Hund wird Schionatulander sterben und hinterlässt eine Liebende ohne Geliebten und ohne Text.
Materialität – fühlbare Präsenz – erzählerische Reflexion: Auch in einer Welt wie der unsrigen, für die Schriftlichkeit gewöhnlich und alltäglich geworden ist, faszinieren Inschriften und üben eine beinahe magisch zu nennende Wirkung aus. Graffiti auf Berliner Mauern.
Foto: Jan Neuffer, Berlin
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An dieser Brackenseil-Inschrift werden einige der Paradoxien sichtbar, die so häufig mit Formen gesteigerter Schriftlichkeit verbunden sind. Die materiale Paradoxie der Inschrift besteht zunächst darin, dass der Gebrauchswert einer Hundeleine und der Gebrauchswert eines Trägers für eine Erzählung sich auf eine Weise überkreuzen, dass beide Gebrauchsweisen sowohl eingeschränkt als auch metaphorisch überhöht werden: Rein pragmatisch ist es nicht geraten, ein Seil mit Edelsteinen zu besetzen, an dem man während der Jagd einen Hund festhalten möchte. So reißt sich denn auch Sigune bei dem Versuch, den fliehenden Bracken festzuhalten, schmerzhaft beide Hände auf. Andererseits erhält die Leine eine höhere Bedeutung: Die auf ihr lesbare Geschichte verleiht einer profanen Jagd die Dimension einer Suche nach etwas viel weniger leicht Fassbarem – nach der Liebe oder zumindest nach der Erkenntnis, was denn Liebe eigentlich sei. Ebenso bestimmt der Schriftträger die Lektüre der Liebesgeschichte auf doppelte Weise. Zwar ist es auf den ersten Blick keine gute Idee, einen Text ausgerechnet auf einen derart beweglichen und im schlimmsten Fall nicht zu fixierenden Gegenstand zu schreiben (Schionatulander wickelt das Ende des Brackenseils daher auch um eine Zeltstange, was den Schriftträger zwar fixiert, aber die vollständige Lektüre erschwert). Doch zugleich bildet die Lesesituation auf gewisse Weise ab, was die Liebe für Sigune letztlich ausmachen wird: Unberechenbarkeit, Flüchtigkeit und Schmerz. Im Brackenseil verbinden sich Statik und Dynamik, die Lesbarkeit der Edelsteinschrift und die Mehrdeutigkeit des Inhalts. Er kann als Liebesbotschaft ebenso verstanden werden wie als Abenteuergeschichte oder als Liebeslehre. Was der Text bei seinem beabsichtigten Adressaten bewirkt hätte, wird nicht mitgeteilt. Was jedoch Sigune angeht, so sorgt die Präsenz der Schrift dafür, dass sie nicht mehr nur ihren Ritter begehrt, sondern auch die Geschichte, deren Ende sie nicht kennt, sowie den Gegenstand, auf dem die Geschichte geschrieben steht. Indem sie den Gegenstand verliert, verliert sie nicht nur die geliebte Schrift, sondern letztlich auch den menschlichen Geliebten, der die Schrift zurückbringen soll. Somit reflektiert der Text selbst die Wirkungen des Begehrens, die er in seinen Rezipienten zu wecken vermag: Das Geschriebene erweckt den Anschein von Beständigkeit und ist doch flüchtig, und es fasziniert dabei den Leser so stark, dass er es einfangen möchte und dabei selbst eingefangen wird. Die Inschrift wird so zu einer poetologischen Chiffre für den Roman selbst: kostbar und nicht allen zugänglich, jedoch von allen begehrt.
Die Narbenschrift über dem Herzen
Um Begehren und Liebe ganz anderer Art geht es in unserem zweiten Beispiel, einem Ausschnitt aus der „Vita“ des Mystikers Heinrich Seuse aus dem 14. Jahrhundert. Hier wird von einer Inschrift erzählt, die aus den ersten drei Buchstaben des Christusnamens besteht (IHS) und die in das menschliche Herz (in die Haut über dem Herzen) eingeritzt wird als Zeichen der ewigen Liebe zwischen Gott und Mensch.
Foto: Jan Neuffer, Berlin
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Die Rezipienten dieser Narbenschrift sind sowohl Gott als auch der Schreiber selbst, dem die Botschaft zur urkunde und Erinnerung dient. Das materiale Paradox, das zwischen dem Herzen als lebensnotwendigem Körperorgan und dem Herzen als Träger des Namens Christi besteht, wird in der Vorstellung aufgehoben, dass hier lediglich etwas abgebildet und verstetigt wird, was der Gläubige faktisch schon längst erreicht hat: Die Verbindung des Herzens mit dem Namen steht pars pro toto für die liebende Vereinigung des ganzen Menschen mit Gott. Der menschliche Körper wird so zu einem Zeichen, das auf Christus verweist, aber so, dass Christus im Zeichen und damit im Körper anwesend wird. Indem der Gläubige sein Herz zum Objekt des Schreibens macht, transformiert er sich selbst zum Objekt, über das der Angesprochene (Christus) vollständig verfügen kann. Gerade in dieser „unmöglichen“ Inschrift wird nicht nur die materiale, sondern auch jegliche kommunikative Paradoxie verneint. Für Mehrdeutigkeiten, so wird in diesem radikalen Akt der Einschreibung behauptet, bietet die mystische Vereinigung keinen Raum. Sehr deutlich wird hier auch das Investment, der Aufwand, mit dem das Verfassen einer Inschrift häufig verbunden ist und das die Relevanz des Geschriebenen unterstreicht. Je größer die Widerständigkeit des Materials, desto schwieriger ist es, die Inschrift herzustellen, und als desto lesenswerter erscheint sie. Anders als beim Schreiben auf Pergament oder Papier soll das Schreiben nicht erleichtert werden, sondern fordert den besonderen Einsatz des Schreibers. Bei Heinrich Seuse ist es der extreme Fall einer Narbenschrift, einer Blutspur, einer Verwundung des Körpers, mit der die existentielle Bedeutung dieser Inschrift signalisiert wird.
Das Liebesbekenntnis in der Baumrinde
Unser drittes Beispiel ist ein Gedicht Martin Limburgers aus dem Jahr 1669, das als Bauminschrift konzipiert ist. Dort heißt es erst in lateinischer, dann in deutscher Sprache:
„Bis daß die Fäulung wird dich
Buche! ganz aufreiben
soll SUSABELLE mir meins Herzens-Theil verbleiben.“
Inschrift auf einem Kakteenblatt in Barcelona
Foto: Jan Neuffer, Berlin
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Wie so oft in Bauminschriften wird hier die Haltbarkeit der Schrift und des Schriftträgers mit der „Haltbarkeit“ der Liebe in eins gesetzt – wobei allerdings mit der Möglichkeit des Faulens auch die Möglichkeit eines Endes der Liebe formuliert wird. Vordergründig wendet sich der Sprecher an den Beschreibstoff, er spricht die beschriftete Buche selbst an. Ist es aber nicht die geliebte Susabelle, die er eigentlich meint? Diese kurze barocke Inschrift zeigt, wie offen die Kommunikation im Medium einer Inschrift grundsätzlich immer ist. Stets überlagern sich mehrere Sprecher: der Autor der Inschrift und der Gegenstand, der sie trägt; wie auch mehrere Rezipienten: der angesprochene Adressat, die tatsächlichen Rezipienten der Inschrift und nicht zuletzt der Leser des Textes, der die Inschrift enthält. Daraus erwächst eine Mehrdeutigkeit, die dazu herausfordert, sich den vielfältigen Bedeutungen der Inschrift aus verschiedenen Perspektiven immer wieder neu anzunähern und in der Deutung der Inschrift als poetologisches Kondensat neue Sinnangebote für den gesamten Text zu finden.
Die Faszination, die aus der so provozierten hermeneutischen Arbeit an der Inschrift entsteht, ist ein nicht ausschließlich mittelalterliches oder frühneuzeitliches Phänomen. Die Produktion und Rezeption von Schrift hat sich zwar in Europa seit dem Mittelalter in mehreren Schüben bis heute stets vermehrt: Erfindung des Papiers, Erfindung des Buchdrucks, Schulpflicht und umfassende Alphabetisierung, Erfindung digitaler Textverarbeitungstechniken und so fort. Überraschenderweise bleibt jedoch auch in einer Welt wie der unsrigen, für die Schriftlichkeit gewöhnlich und alltäglich geworden ist, die Faszination einer beinahe magisch zu nennenden Schrift erhalten, und zwar gerade in der Inschriftlichkeit, der intensiven Verbindung von Schrift und beschrifteten Dingen.
Foto: Philipp Rothe, Heidelberg
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Astrid Lembke arbeitet seit dem Jahr 2011 als Postdoc im SFB 933 „Materiale Textkulturen“. Zuvor war sie als Koordinatorin im Frankfurter Leibniz-Projekt „Verwandtschaft in der Vormoderne“ tätig. Sie beschäftigt sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit mittelalterlichen höfischen und jüdischen Texten.
Kontakt: astrid.lembke@gs.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Ludger Lieb ist seit dem Jahr 2010 Professor für Ältere deutsche Philologie am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Zuvor lehrte und forschte er in Kiel, Dresden und München. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind die mittelalterliche Liebesdichtung sowie anthropologische und narratologische Fragestellungen.
Kontakt: ludger.lieb@gs.uni-heidelberg.de