Kurzberichte junger Forscher
Kann man diesen Gott lieben?
Das homerische Epos der Odyssee erzählt vom Leiden des gleichnamigen Hauptakteurs und zeigt Poseidon als einen launischen und rachsüchtigen Gott: Der Herrscher der Meere verfolgt Odysseus mit einer an Wahnsinn grenzenden Besessenheit fast bis zum Ende seines langen Weges zurück nach Ithaka. Selbst in den Szenen, in denen Poseidon nicht als das personifizierte Böse erscheint, macht er einen eher humorlosen Eindruck: Als beispielsweise alle Götter sich köstlich über die zwei in die Falle geratenen Liebestäubchen Ares und Aphrodite auf dem Ehebett des betrogenen Hephaistos amüsieren, ist Poseidon als Einziger nicht in der Lage, auch das Komische an der Situation zu erkennen. Dieses negative Bild und die einseitige Verbindung mit dem maritimen Bereich haben auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kultcharakter Poseidons und seiner Stellung im griechischen Pantheon geprägt.
In der Erforschung der griechischen Religion gibt es einige Untersuchungen, die allen Kulten eines Ortes oder einer Region gewidmet sind; in ihnen vermisst man allerdings einen komparatistischen Ansatz. Auch umfangreiche, die gesamte griechische Welt erfassende Studien über das Wesen von Götterfiguren sind keine Seltenheit; die lokalen Besonderheiten und vor allem die historischen Entwicklungen kommen jedoch dabei zu kurz. Um eine göttliche Gestalt besser zu erfassen, sind die gängigen Methoden der Auseinandersetzung mit den griechischen Göttern nicht besonders hilfreich; ein neuer Weg muss beschritten werden, indem eine einzige Gottheit in einer großen, aber in ihrer historischen Entwicklung doch geschlossenen Landschaft zum Forschungsobjekt einer Studie wird.
Für ein solches Unterfangen in bezug auf Poseidon ist die Peloponnes geradezu prädestiniert, denn besonders hier erscheint er durchaus als ein vielfältiger Gott, der keineswegs allein auf das Meer fixiert ist. Auf der peloponnesischen Halbinsel lässt sich sein Kult bereits in mykenischer Zeit durch schriftliche Dokumente und materielle Hinterlassenschaften fassen. Das archäologische Material, die epigraphischen und die literarischen Quellen sowie die mythischen Traditionen in dieser Landschaft verdeutlichen die besondere Affinität der peloponnesischen Städte gegenüber dem Kult des Poseidon.
Das 8., 7. und 6. Jahrhundert sind die Blütezeit des Poseidonkultes auf der Halbinsel. In den darauffolgenden Jahrhunderten werden neugegründete Kultplätze zu Ehren Poseidons seltener. Zu einer erneuten Blüte der Verehrung des inzwischen vorwiegend maritimen Poseidon auf der Peloponnes kommt es erst in der römischen Kaiserzeit.
Der poseidonische Sakralraum erscheint in seiner architektonischen Gestaltung häufig bescheiden und beschränkt sich nach Möglichkeit auf das Nötigste. Zu einer solchen Auffassung des sakralen Raumes gehört die Verehrung Poseidons in einfachen heiligen Hainen. Großangelegte Kultorte wie in Isthmia oder auf Kalaureia stellen eher eine Ausnahme dar.
Ein sicherlich auffälliges Charakteristikum der Präsenz Poseidons auf der Peloponnes ist das absolute Fehlen eines Akropolisheiligtums. Dagegen wird dieser Gott relativ oft auf der Agora, dem politischen Zentrum einer Stadt, verehrt. Seine bedeutendsten Kultplätze liegen allerdings außerhalb der Stadt: Standorte in der Nähe des offenen Meeres, an einer wichtigen Straße, auf Weideplätzen oder nah an binnenländischen Gewässern werden häufig für die Errichtung seiner Heiligtümer genutzt.
Poseidon gehört zu den wenigen männlichen Gottheiten, in deren Kult auch eine Frau das Priesteramt übernehmen konnte: Ein jungfräuliches Mädchen auf Kalaureia und eine verheiratete Frau in Sparta dienen Poseidon als Priesterinnen. Es handelt sich um eine Tradition, die bis in die mykenische Zeit zurückreicht.
Zu den Festen zu Ehren Poseidons gehören Pferde- und Wagenrennen als konstitutives Element. Mindestens sieben poseidonische Feste haben einen überregionalen oder sogar panhellenischen Charakter.
Unter den an Poseidon adressierten Opfern nimmt das Ertränken von Pferden im argolischen Genesion eine besondere Position ein. Dieses Opfer dokumentiert die enge Verbindung des Gottes zu diesem Tier. Eine ebenfalls enge Verbindung hat Poseidon zum Delphin, die noch intensiver in der ikonographischen Überlieferung vorkommt: Hier symbolisiert der Delphin die positiven und der Dreizack die negativen, zerstörerischen Aspekte Poseidons.
In der Votivpraxis bilden Metallobjekte eine besonders wichtige Gruppe. Kleinformatige Tieridole und Schmuck aus Bronze sind bis in das 6. Jh. überproportional vertreten. Großformatige Bronzeskulpturen sind vorwiegend durch die literarische Überlieferung bekannt. Im 7. und 6. Jh. sind großformatige Votive aus Stein eher selten, nehmen allerdings im Laufe der Zeit kontinuierlich zu. Gegenstände aus Ton sind wahrscheinlich vor allem wegen ihres niedrigen Preises in allen Jahrhunderten sehr beliebt. In den Fällen, wo der Grund der Dedikation bekannt ist, lässt sich feststellen, dass nicht um etwas gebeten, sondern für etwas bereits Geschehenes (meist Errettung) gedankt wird.
Die Anzahl der Kultbeinamen Poseidons auf der Peloponnes ist nicht sonderlich beeindruckend. Am häufigsten erscheinen Beinamen, die allgemein mit dem Pferd oder der Pferdehaltung zu tun haben. Auffällig ist, dass Kultepitheta, die Poseidon als den maritimen Herrscher charakterisieren, selten sind. Die seismische Aktivität, die binnenländischen Gewässer, die Pferdehaltung oder die Meereswelt sind Bereiche, in denen sich die Präsenz Poseidons am deutlichsten bemerkbar macht. Poseidon kommt auf der Halbinsel mit bestimmten Gottheiten unter sehr spezifischen Voraussetzungen zusammen. Aphrodite und Amphitrite stellen das weibliche Pendant des maritimen Poseidon dar, wobei Aphrodite eine wichtigere Stellung als Amphitrite einzunehmen scheint. Die Kultverbindung mit Apollon, Athena oder Zeus hat im Normalfall einen politischen Hintergrund, während die Verbindung Poseidons mit Demeter in den Mythen Arkadiens den Gott in seinem chthonischen, erdgebundenen Aspekt zeigt.
In sechs peloponnesischen Städten übernimmt Poseidon die Rolle der Schutzgottheit. Meist handelt es sich um Küstenstädte. Wichtiger erscheint allerdings die Funktion Poseidons in den Amphiktyonien (Städtebünde) auf der Halbinsel gewesen zu sein. Aus den vier bekannten frühen Amphiktyonien der Peloponnes haben drei Poseidon als ihren Schirmherrn.
Die hier kurz zusammengefassten Aspekte der poseidonischen Präsenz auf der Peloponnes machen deutlich, wie vielfältig der Kult dieses Gottes gewesen ist, und auf welcher Basis der antike Autor Diodor die Peloponnes als das "Haus Poseidons" bezeichnete.
Kann man also diesen Gott überhaupt lieben? Liebenswürdig ist der Herr des Erdbebens sicherlich nicht; allerdings sind doch die schlechtesten Charaktere meistens auch die interessantesten.
Der Autor, Dr.
Joannis Mylonopoulos, wurde für seine Dissertation "Heiligtümer und
Kulte des Poseidon auf der Peloponnes" mit dem Margarete
Häcker-Förderpreis für Altertumswissenschaften ausgezeichnet.
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