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Meinungen

Tierversuche sind für die medizinische Forschung unverzichtbar, meint Prof. Dr. Rainer Nobiling von der Abteilung experimentelle Chirurgie des Universitätsklinikums Heidelberg.

Prof. Dr. Rainer Nobiling

Prof. Dr. Rainer Nobiling

Die weltweit anerkannte ethische Basis für medizinische Forschung ist die Deklaration von Helsinki und Tokio, zuletzt überarbeitet in Edinburgh (2000). Dieses Dokument ärztlichen Standesrechtes ist eine für alle Forscher verbindliche Handlungsgrundlage. Ihre Definition im internationalen Rahmen war bereits in vergangenen Jahrzehnten wichtig und ist in Zeiten globalisierter Forschung unerlässlich. Diskussionen um Teilbereiche, etwa der Stammzellforschung, unterstreichen die Notwendigkeit einer permanenten Überprüfung.

In Satz 11 dieser Deklaration ist zu lesen: "Medizinische Forschung am Menschen muss allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen, auf einer fundierten Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur, anderen wesentlichen Informationsquellen sowie auf ausreichenden Laborversuchen und auch auf Tierversuchen beruhen, wo dies erforderlich ist."

Dieser Satz betont, dass zum Wohl von Patienten unter bestimmten Bedingungen auch Tierversuche erfolgen müssen. Er geht sinngemäß auf den Nürnberger Kodex zurück, in dem festgestellt wurde, dass Tierversuche oft eine notwendige Voraussetzung für experimentelle Behandlungen an Menschen sind.

Was sind "Tierversuche"? Durch eine mehr von Emotionen als von Sachlichkeit geprägte Debatte wird der Tierversuch oft mit Tierquälerei gleichgesetzt. Dies ist ein Fehlschluss. Nach Paragraph 1 des Deutschen Tierschutzgesetzes "darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen". Ein Tierversuch ist eine Methode, um Lebenszusammenhänge systematisch zu erforschen. Sie steht unter dem Vorbehalt einer weitgehenden Vermeidung von Belastungen.

Die Umsetzung der Deklaration von Helsinki unter Beachtung von Tierschutzgesetzen hat dazu geführt, dass Richtlinien zur Durchführung von wissenschaftlichen Tierversuchen formuliert wurden. Danach schließen sich Tierversuche in wissenschaftlich hochrangiger Forschung und Tierquälerei gegenseitig aus.

Was will medizinische Forschung? Es geht um die Erforschung von Krankheitsursachen, die Verbesserung von Prophylaxe, Diagnose und Therapie. Solche Forschungsansätze müssen auf naturwissenschaftlichen Konzepten beruhen: Beim Übertragen auf die Situation des Patienten kann der wissenschaftlich ausgebildete Arzt dann besser helfen als er es mit einer nur für einen Einzelfall gültigen Handlungsanweisung vermag.

Naturwissenschaftlich begründete Forschung hat in den letzten Jahrzehnten einen Boom erlebt: Arbeiten mit Zellkulturen oder Teilen von lebenden Zellen sind aus der medizinischen Forschung nicht mehr wegzudenken. Aber auch die Forschung an ganzen Organismen unter Einbeziehung von Immunsystem, Kreislauf oder komplexem Nervensystem muss systematisch geplant und durchgeführt werden. Erst dann können Patienten von solchen Arbeiten profitieren. Im Ergebnis sind heute wesentlich mehr Krankheiten einer kausalen Therapie zugänglich als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dass es auch Rück- und Fehlschläge ("Contergan") gegeben hat, sollte nicht vom breiten Erfolg der naturwissenschaftlich begründeten Medizin ablenken. Bisher unverstandene Krankheitsursachen zu erforschen, wird auf absehbare Zeit ebenso eine Herausforderung für die Forschung bleiben wie das Bemühen, Fehlschläge zu vermeiden.

Ein Beispiel aus der Herzchirurgie: Vor 50 Jahren hatte die Technik der Herz-Lungen-Maschine, mit der die Pumpfunktion des Herzens vorübergehend ersetzt werden kann, so große Fortschritte gemacht, dass routinemäßige Herzoperationen möglich wurden. Das Überleben des Herzens konnte damals etwa zehn bis 20 Minuten gesichert werden. Systematische, über 20-jährige Forschungsarbeiten des Physiologen Hans-Jürgen Bretschneider konnten diese Zeitspanne verlängern. Heute ist es möglich, in stundenlangen Operationen schwere Missbildungen an Säuglingsherzen zu korrigieren oder kombinierte Operationen an Herzklappen und verschlossenen Herzkranzgefäßen mit geringem Risiko bei 70-jährigen vorzunehmen.

Die rechtliche Situation zwingt jeden Wissenschaftler, sich einem Genehmigungsverfahren zu stellen, bevor ein Tierversuch begonnen werden darf. Die Zahl der Versuche hat abgenommen, weil methodische Verfeinerungen und die Neuausrichtung von Forschungsansätzen Tierversuche teilweise ersetzt und vielfach ergänzt haben. Weitere Reduktionen sind kaum noch möglich, da beispielsweise die Auswirkungen molekularer und zellulärer Phänomene auf den Gesamtorganismus im Computer nicht modellierbar sind.

Letztlich sollen Menschen geheilt werden, und der wissenschaftlich gebildete Arzt muss imstande sein, die Ergebnisse der Tierexperimente so zu bewerten, dass beim Übertragen neuer Konzepte auf den Menschen in den ersten experimentellen Behandlungen höchstens begrenzte Risiken auftreten. Das Unterlassen von Tierexperimenten dagegen kann unabsehbare Gefahren für Patienten bergen: Die tatsächlich aufgestellte Behauptung, man hätte die oben beschriebene Entwicklung in der Herzchirurgie auch unter Verzicht auf Tierversuche an schwerkranken Patienten leisten können, offenbart eine ethisch bedenkliche und intellektuell schwer nachvollziehbare Mischung aus Unkenntnis und Verantwortungslosigkeit.

Dass Experimentatoren nicht verantwortungsvoll mit Versuchstieren umgehen, ist eine seltene Ausnahme. Diese sollte eine Strafverfolgung nach sich ziehen und nicht die Forderung begründen, künftig auch mit Patienten verantwortungslos umzugehen, indem auf Tierexperimente völlig verzichtet wird.

In Anlehnung an Formulierungen des Physiologen Bretschneider kann also gesagt werden: Die wechselseitige Befruchtung von Experiment und ärztlicher Erfahrung ist die Grundlage einer rationalen Therapie. Durch unvoreingenommene, wissenschaftlich fundierte Beobachtung der Natur, auch im Tierversuch, und das Beachten ethischer Normen werden wir vor Einseitigkeit, Dogmatismus und Fanatismus bewahrt. Diese Gefahren drohen sowohl von Seiten eines unangemessenen Tierschutzes, als auch von einer extrem reduktionistischen Forschung und einem radikalen Materialismus: Solche Ansätze verlieren den kranken Menschen als schwaches, Hilfe bedürftiges Subjekt aus dem Blick.

Prof. Dr. Rainer Nobiling, Abt. für experimentelle Chirurgie, ist Physiologe und seit fünf Jahren als Tierschutzbeauftragter der Medizinischen Fakultät für die Umsetzung des Tierschutzgesetzes mitverantwortlich. Kontakt: tierschutz@urz.uni-heidelberg.de

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