HIV – Anatomie eines Massenmörders
Die erworbene Immunschwäche AIDS zählt wie die Pest oder die Pocken zu den verheerendsten Seuchen der Menschheit. Verursacht wird AIDS von dem menschlichen Immunschwächevirus, kurz HIV. Ein Ende der Bedrohung durch das Virus ist derzeit nicht abzusehen. HIV gelingt es, sich im Körper des infizierten Menschen täglich milliardenfach zu vermehren und das Immunsystem derart zu schwächen, dass es sonst weitgehend harmlosen Umweltkeimen bald machtlos gegenüber steht. Millionen von Menschen sind dem Virus bislang zum Opfer gefallen. Was befähigt das winzige Virus zu diesen Untaten? Antworten auf diese Frage wollen die Wissenschaftler der Abteilung Virologie am Hygiene-Institut der Universität Heidelberg finden. Der Leiter Hans-Georg Kräusslich beschreibt die molekulare Anatomie von HIV und erläutert, welche Wege das Virus nutzt, um das Immunsystem tödlich zu schwächen.
Es begann scheinbar unspektakulär: Am 5. Juni 1981 erschien in der Zeitschrift "Morbidity and Mortality Weekly Report" eine kurze Notiz, wonach fünf junge Männer in Los Angeles an einer sehr seltenen Form von Lungenentzündung erkrankt und zwei bereits verstorben seien. Kurz darauf wurden weitere auffällige Häufungen seltener Erkrankungen beobachtet. Sehr bald wurde klar, dass es sich nicht um einige wenige Fälle handelte, sondern um eine sich stetig ausbreitende Seuche, die von einem bislang unbekannten Erreger verursacht wurde, der das Immunsystem schwächte. Im Jahr 1983 beschrieb ein Forscherteam um Luc Montagnier in Paris ein Virus, das aus dem Blut erkrankter Menschen isoliert worden war: Es wurde später als "menschliches Immundefizienz Virus", kurz HIV, bezeichnet.
Wie sich herausstellte, befällt und zerstört das Virus in erster Linie T-Helferzellen, wichtige Mitglieder des körpereigenen Abwehrsystems. Hat sich ein Mensch mit dem Virus infiziert, kann sein Immunsystem den Virusattacken in der ersten Zeit noch standhalten, so dass sich die Krankheit zunächst nicht bemerkbar macht. Im Lauf von mehreren Jahren erschöpft sich jedoch die Regenerationskraft des Immunsystems. Die körpereigene Abwehr funktioniert nicht mehr, es kommt zum Ausbruch der Krankheit AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome, erworbene Immunschwäche): Infektionen, die vom gesunden Organismus abgewehrt werden, breiten sich bei AIDS-Patienten unkontrolliert aus und führen letztlich zum Tod.
Es steht heute fest, dass es sich bei HIV um den Verursacher der Krankheit AIDS handelt. Die Beweislage ist eindeutig, der Täter identifiziert. Doch dieses Wissen konnte die Ausbreitung des Erregers nicht aufhalten. Bis heute haben sich über 65 Millionen Menschen mit HIV infiziert, 25 Millionen sind bereits an AIDS gestorben. Jährlich kommen etwa drei Millionen Tote hinzu. Damit ist AIDS heute weltweit die häufigste Todesursache. Ende 2001 schätzte die Weltgesundheitsorganisation, dass sich während dieses einen Jahres fünf Millionen Menschen neu mit dem Virus infiziert haben. Legt man diese Zahlen zu Grunde, ergibt sich, dass sich während der Zeit, die Sie zur Lektüre dieses Artikels brauchen, etwa 150 Menschen neu mit HIV infizieren und 85 an AIDS sterben.
Besonders bedrohlich ist die Situation derzeit in Zentral- und Südafrika. Dort ist in den am stärksten betroffenen Regionen mehr als ein Drittel der Bevölkerung mit HIV infiziert. Auch in Indien und Osteuropa steigt die Zahl der Neuinfektionen dramatisch an. Da der Seuche vorwiegend jüngere Menschen im Erwerbsalter zum Opfer fallen, sind die Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur und die wirtschaftliche sowie politische Entwicklung der betroffenen Länder gravierend.
Die Seuche AIDS ist ein gewaltiges weltweites Problem. Eine wichtige Maßnahme, um die Seuche einzudämmen, ist, eine Ansteckung mit HIV zu verhüten. Dies setzt voraus, dass die Menschen umfassend über die Infektionsrisiken aufgeklärt werden. Die aktuelle Situation zeigt jedoch, dass diese Strategie nur begrenzten Erfolg hat. Auch ein schützender Impfstoff ist derzeit trotz intensiver Bemühungen nicht in Sicht. Kürzlich wurde beschrieben, dass selbst bei einem HIV-Infizierten, bei dem die erste Infektion eine gute Antwort des Immunsystems ausgelöst hatte, eine zweite Infektion mit einer Variante des Virus erfolgte. Dies lässt daran zweifeln, ob ein Impfstoff, der vor allen HIV-Varianten schützt, jemals entwickelt werden kann. Angesichts dieser Situation und der Millionen von Menschen, die bereits infiziert sind, ist und bleibt es ein dringendes Ziel der biomedizinischen Forschung, weitere Medikamente zu finden, mit denen das Virus wirksam bekämpft und die Seuche kontrolliert werden kann.
Ähnlich wie zur Ergreifung eines Mörders ist es auch zur Bekämpfung des tödlichen Virus notwendig, dass verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten und sich ergänzen. Der eigenbrötlerische Detektiv, der am Tatort einsam Spuren sammelt und daraus seine unfehlbaren Schlüsse zieht, existiert nur im Roman. In der Wirklichkeit werden Ermittler, die Spuren sammeln oder Zeugen befragen, von Spezialistenteams unterstützt: Gerichtsmediziner, forensische Biologen oder Computerexperten tragen mit ihrem Fachwissen dazu bei, den Fall zu lösen. In ähnlicher Weise müssen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammenwirken, um Wege zu finden, auf denen HIV zurückgedrängt werden kann: Die Erkenntnisse der behandelnden Ärzte darüber, wie sich die Erkrankung auf den Organismus auswirkt und welche Wirkung und Nebenwirkungen verschiedene Behandlungsmethoden haben, werden durch die Untersuchungen der medizinischen Grundlagenforschung ergänzt. Ähnlich wie Gerichtsmediziner befassen sich Zellbiologen, Immunologen und Pathologen mit dem Schicksal des Opfers: Sie untersuchen, welche Folgen der Virusbefall für die einzelne Zelle, das Immunsystem und den gesamten Organismus hat. Virologen, Molekular- und Strukturbiologen, Biochemiker und Biophysiker interessieren sich mehr für das Innenleben des "Täters" HIV. Sie versuchen quasi, seinen "Charakter" zu analysieren, um diese Kenntnis zu nutzen, ihn verletzbar zu machen.
Auf den ersten Blick erscheint diese Aufgabe überschaubar. Verglichen mit anderen Krankheitserregern ist das HI-Virus äußerst simpel gebaut. Sein Erbgut (Genom) ist mit knapp 10 000 Einzelbausteinen etwa 20 mal kleiner als das eines Herpesvirus und 300.000 mal kleiner als das menschliche Erbmolekül DNA. Lediglich neun Proteine benötigt HIV, um die befallene Zelle dazu zu veranlassen, neue Viren zu produzieren, welche die Wirtszelle zerstören, andere Zellen befallen – und im längerfristigen Verlauf AIDS auslösen.
Doch gerade der einfache Aufbau von HIV birgt die Probleme, die mit seiner Erforschung und Bekämpfung einhergehen: Damit das Virus seine Vermehrung (Replikation) mit derart wenigen viruseigenen Proteinen bewerkstelligen kann, muss es zahlreiche Funktionen der Wirtszelle nutzen. Diese zellulären Funktionen sind sehr komplex – und teilweise noch wenig untersucht. Hinzu kommt, dass die zellulären Funktionen meist nicht als Angriffspunkte für eine antivirale Therapie in Frage kommen, weil damit die Wirtszelle selbst geschädigt würde. Ein weiteres Problem ist, dass die Viren und das Unwesen, das sie treiben, nicht direkt beobachtet werden können. Der todbringende Erreger misst gerade einmal 150 Nanometer im Durchmesser (rund 1/7000stel eines Millimeters). Er kann deshalb nicht mit einem normalen Lichtmikroskop, sondern nur mit dem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden. Um den genauen Aufbau eines Viruspartikels und sein Vorgehen in der infizierten Zelle aufzuklären, sind daher moderne biophysikalische und zellbiologische Techniken notwendig.
HIV erkennt sein Ziel an bestimmten Molekülen, die auf der Außenhaut – der Membran – menschlicher Zellen sitzen. An diese Oberflächenmoleküle dockt es an. Neben dem Oberflächenmolekül CD4, das auf vielen menschlichen Immunzellen vorkommt, benötigt das Virus zusätzlich einen so genannten Korezeptor, um in die Zelle einzudringen. Einer dieser Korezeptoren ist bei einigen Menschen fehlerhaft gebaut, weil die Gene, welche die Anweisungen für seine korrekte Konstruktion tragen, verändert (mutiert) sind. Menschen mit dieser Mutation sind weitgehend – wenn auch nicht vollständig – vor einer Infektion mit HIV gefeit. Nach dem erfolgreichen Andocken verschmilzt die Virus- mit der Zellmembran, und die genetische Information des Virus gelangt in das Innere der Zelle.
Das Erbgut des Virus ist eine Ribonukleinsäure (RNS). Sie unterscheidet sich chemisch von der menschlichen Erbinformation (DNS = Desoxy-RNS). Dieser Unterschied macht es notwendig, dass die RNS des Virus zunächst in DNS umgeschrieben werden muss. Dazu hat das Virus seinen eigenen "Übersetzer", ein Enzym namens "Reverse Transkriptase", mitgebracht. Nach erfolgter Umschrift gelangt die virale DNS – auf bisher wenig bekannten Wegen – in den Kern der Zelle. Dort trifft sie auf die Chromosomen. Mehr oder weniger zufällig wird die virale DNS in eines der menschlichen Chromosomen eingebaut.
Ab jetzt wird das Erbgut des Virus von der Zelle wie ein normales menschliches Gen betrachtet und behandelt: Einmal integriert, verbleibt die virale Erbsubstanz in der Zelle, bis diese stirbt. Zuvor wird die Erbinformation des Virus bei jeder Teilung der Zelle an die entstehenden Tochterzellen weitergegeben. Das einmal integrierte Viruserbgut kann nicht wieder "herausgeschnitten" werden. Daher können auch diejenigen Patienten, bei denen mit Medikamenten die Virusvermehrung vollständig unterdrückt werden kann, derzeit nicht wirklich geheilt werden. HIV hat also eine ideale Strategie entwickelt, um langfristig zu überdauern: Das Genom des Virus bleibt gleichsam im Winterschlaf tief im Innern der Zelle, ohne dass der Eindringling vom Überwachungssystem des Organismus bemerkt wird.
Damit nicht genug: Die Aktivierung des in das menschliche Genom eingebauten Virus-Erbguts führt dazu, dass die Zelle neue virale RNS und neue virale Proteine herstellt. Die Bestandteile des Virus gelangen auf noch kaum bekannten Wegen an die Innenseite der Membran der Zelle. Dort lagern sich die Virusproteine mit der RNS zu kugelförmigen Partikeln zusammen. Die Zellmembran stülpt sich alsdann mitsamt dem von ihr umschlossenen Partikel nach außen. Schließlich lösen sich membranumhüllte Partikel von der Zelle ab. Dieser Prozess wird von den Fachleuten treffend "Virusausknospung" genannt. Mit einem Elektronenmikroskop ist er deutlich zu sehen.
Die freigesetzten neuen Partikel enthalten alle Bestandteile von HIV. Dennoch sind die Partikel nicht fähig, andere Zellen zu infizieren. Sie sind noch "unreif" und müssen in einem letzten Entwicklungsstadium zum "reifen", das heißt infektiösen Virus umgewandelt werden. Diese Virusreifung ist ein äußerst interessanter Vorgang: Er beginnt damit, dass ein viruseigenes Enzym – eine so genannte Protease – im Innern der noch unreifen Partikel Proteine des Virus an vorgegebenen Schnittstellen zerschneidet. Danach folgt eine dramatische Umlagerung aller Komponenten, die im Virusinnern enthalten ist. Dieses Umsortieren endet mit der Ausbildung eines reifen infektiösen Virus, mit der typischen kegelförmigen inneren Struktur. Die beiden bislang verfügbaren Medikamentengruppen greifen an entscheidenden Stellen in die Virusvermehrung und -reifung ein: Die "Reverse Transkriptase Inhibitoren" blockieren den "Übersetzer", das Enzym Reverse Transkriptase; die so genannten Protease-Inhibitoren hemmen die "Schere", das Enzym Protease, und hindern das Virus so an seiner weiteren Ausbreitung.
Um weitere therapeutische Ansatzpunkte zu finden, muss der Aufbau des Virus bis in seine kleinsten Einzelheiten untersucht werden. Außerdem gilt es zu verstehen, wie die einzelnen Bestandteile des Virus miteinander wechselwirken. Diese Informationen kann nur die Grundlagenforschung liefern.
Für uns besonders interessant ist die oben beschriebene dramatische Umlagerung: Die meisten Bestandteile im Inneren des Virus verändern dabei ihre Position und werden einem neuen Standort zugeteilt: Eine stabile, geordnete Struktur verwandelt sich in eine völlig andere – ebenfalls geordnete – Struktur. Diese im Innern der winzig kleinen Viruskugel verborgen stattfindende Umorganisation ist extrem komplex. Sie ist in etwa vergleichbar mit einer völlig überfüllten Straßenbahn, in der die Fahrgäste ihre Plätze von einer Ordnung – beispielsweise der Reihenfolge ihres Einsteigens – in eine andere Ordnung – etwa der nach zunehmendem Alter – wechseln, ohne dass dabei die Türen des Wagens geöffnet werden dürfen. Unter Menschen würde dies vermutlich nicht funktionieren – das Virus aber hat Strategien entwickelt, die das für einen solchen Vorgang notwendige hohe Maß an Ordnung und Koordination aufweisen.
Gesteuert wird dieses komplexe "Umrücken" von den molekularen Wechselwirkungen zwischen den viruseigenen Strukturproteinen. Diese Wechselwirkungen versuchen wir derzeit, genau zu verstehen. Unser Ziel dabei ist, sowohl die Partikelbildung als auch ihr Heranreifen gezielt zu stören und damit neue Ansätze für eine medikamentöse Therapie zu schaffen. Der wichtigste Schritt hierzu ist, die Anatomie des Virus aufzuklären – also die Architektur unreifer und reifer Viruspartikel auf der Ebene der Moleküle zu kennen.
Die Methoden, die üblicherweise herangezogen werden, um molekulare Strukturen aufzuklären – die Röntgenkristallographie und Kernresonanzspektroskopie – , sind für dieses Vorhaben nicht geeignet: HIV-Partikel sind zu komplex und weisen nicht die für eine Kristallographie notwendige streng geordnete Struktur auf. Ein elektronenmikroskopisches Bild zeigt zwar deutlich den Aufbau des Virus, liefert aber nicht alle Details und vermittelt keinen dreidimensionalen Einblick. Aus diesen Gründen haben wir reife und unreife HIV-Partikel mit einer speziellen Technik, der "Kryo-Elektronenmikroskopie", untersucht. Dieses Verfahren erlaubt es, die Viren direkt in gefrorenem Zustand zu betrachten – ohne chemische Vorbehandlung, ohne Anfärben und ohne Dünnschnitt. Zunächst sieht man auf diesen Bildern nicht viel. Da es sich jedoch um Projektionsbilder einer regelmäßigen Struktur handelt, können sie rechnerisch so ausgewertet werden, dass man ein Modell der räumlichen Struktur des Virus erhält.
Die Auflösung ist zwar nicht so groß, dass man einzelne Atome sehen könnte. Aber sie macht einzelne Virusbausteine – die Proteinmoleküle – sichtbar. Da für einige dieser Proteine die Feinstruktur in atomarer Auflösung bereits bekannt ist, können wir versuchen, diese Information in die Gesamtarchitektur einzupassen, die wir mit Hilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie ermittelt haben. Auf diese Weise wollen wir ein Bild vom Inneren des Virus erhalten, das – im Idealfall – bis auf das Atom genau ist.
Während unserer Untersuchungen haben wir erkannt, dass HIV-Partikel – bei aller Exaktheit, die erforderlich ist, um sie zusammenzubauen – sehr unterschiedlich aussehen. Sie sind unterschiedlich groß und – betrachtet man die Details – unterschiedlich gebaut. Offensichtlich werden sie nicht nach einer immer gleichen Montageanleitung mit einer immer gleichen Anzahl von Bausteinen konstruiert. Dem Zusammenbau scheint eher ein Bauplan zu Grunde zu liegen, der variabel ausgestaltet werden kann. Diese Variabilität ist für das Virus gut: Sie hilft ihm, sich an wechselnde Umweltbedingungen schnell anzupassen. Für uns Forscher ist diese Variabilität weniger vorteilhaft: Sie erschwert es, passgenaue Hemmstoffe zu entwickeln. Und selbst wenn ein Hemmstoff optimal passt, kann sich das Virus ihm möglicherweise durch eine rasche Veränderung entziehen.
Die Kryo-Elektronenmikroskopie kann – zusammen mit anderen Methoden – Bilder kompletter HIV-Partikel in hoher Auflösung liefern. Dennoch sind diese Bilder für eine detaillierte Analyse noch viel zu komplex. Um ein klareres Bild zu gewinnen, haben wir versucht, die innere Struktur – das Kapsid – des reifen und unreifen Virus aus den einzelnen Bausteinen im Reagenzglas nachzubauen. Zuvor untersuchten wir, welche Proteine und welche Abschnitte des Proteins dazu notwendig sind. Anschließend haben wir die identifizierten Bausteine mit gentechnischen Methoden in großer Menge hergestellt und dann versucht, aus diesen Bausteinen geordnete Partikel zu konstruieren, die dem Kapsid im Innern des Virus entsprechen. Auf diese Weise gelang es tatsächlich, geordnete Partikel herzustellen. Überraschenderweise gelang dies so gut, dass sich unsere "künstlichen" und die aus reifen und unreifen Viren stammenden Kapside so sehr glichen, dass sie mit keiner der uns verfügbaren Methoden zu unterscheiden waren.
Die im Reagenzglas nachgebauten Partikel helfen uns nun, die molekulare Anatomie des komplexen Virus zu verstehen. Darüber hinaus können die vereinfachten Systeme verwendet werden, um nach Wirkstoffen zu suchen, mit denen die Virusbildung gehemmt werden kann. Natürlich sind die "Nachbauten" aus dem Reagenzglas noch lange keine Viren – ihnen fehlt das Genom, die Membranhülle und der Vermehrungsapparat des Virus. Dennoch zeigen unsere Ergebnisse, dass es möglich ist, bestimmte Funktionen des Virus mit Hilfe weniger, genau bekannter Einzelkomponenten nachzubilden. Sie zeigen uns einen Weg, auf dem es gelingen könnte, den Bauplan für HIV vollständig zu entschlüsseln.
Allerdings wird ein selbst bis in seine atomaren Details originalgetreues Abbild des Erregers immer ein statisches Bild sein. Das starre Bild erlaubt es nicht, die dynamischen Vorgänge während der Bildung und des Transports der Viren aus der Zelle oder des Befalles einer neuen Zelle zu studieren. Wir sehen eine "Fotografie" des Virus, eine Momentaufnahme mit extrem feiner Auflösung, – aber keinen Film vom Anfang bis zum Ende. Die "Momentaufnahmen" müssen deshalb mit den dynamischen Vorgängen kombiniert werden, um die komplette Dramaturgie des Übergriffs zu erfassen.
Um dies zu erreichen, haben wir das Virus mit einem Farbstoff markiert. Das erlaubt es uns, einzelne Bestandteile des Virus auf ihrer Reise in, durch und aus der Zelle zu begleiten. Möglich machen das gentechnische Methoden, mit denen wir die Erbinformation für ein Protein, das ursprünglich aus einer Meeresqualle stammt, in das Erbgut des Virus einschmuggelten. Dieses Protein hat eine besondere Eigenschaft: Es leuchtet grün – es fluoresziert –, sobald man es mit ultraviolettem Licht anstrahlt. Mit Hilfe des fluoreszierenden Proteins und moderner fluoreszenzoptischer Methoden können wir bei lebenden Zellen in Echtzeit verfolgen, wie die Viren sich aus ihren einzelnen Bestandteilen bilden und wie sie in die Zellen eindringen.
Mit dieser Methode werden wir voraussichtlich enorme Datenmengen ansammeln. Zudem ist zu vermuten, dass die viralen Transportrouten sehr variabel sind. Eine sinnvolle Interpretation der komplexen Ergebnisse wird deshalb wahrscheinlich nur mit Hilfe eigens entwickelter mathematischer Modelle und Computersimulationen erfolgen können.
Aber auch hier ist die Grenze noch nicht erreicht: Mittlerweile sind weitere, mit andersfarbigen Partnern markierte Virusbestandteile entwickelt worden, mit denen es möglich ist, weitere Details "live und in Farbe" zu beobachten. Mit diesen Verfahren haben wir eine gute Chance, das tödliche Virus auf seiner kompletten Reise durch die Zelle begleiten zu können. An die Kenntnis seiner genauen Route knüpft sich die Hoffnung, seine verhängnisvollen Wege eines Tages mit neuen, wirkungsvollen Strategien unwiderruflich durchkreuzen zu können.
Autor:
Prof. Dr. Hans-Georg Kräusslich,
Abteilung Virologie, Hygiene-Institut,
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