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Was für die einen links, ist für die anderen rechts …

Mehrjährige Feldforschungen in Melanesien, Mikronesien und Australien stehen auf dem Programm der Wissenschaftler des Instituts für Ethnologie. Dort wird zurzeit eine Nachwuchsgruppe aufgebaut, deren Aufgabe es sein wird, "andere" Weltbilder und Weltordnungen zu ergründen. Jürg Wassmann, Direktor des Instituts, beschreibt, warum Ethnologen einen latenten "Ethnozentrismus-Verdacht" haben. Und er belegt am Beispiel der Orientierung im Raum, dass sie damit durchaus Recht haben könnten. Denn links oder rechts, hinten oder vorne, oben oder unten bedeuten nicht notwendigerweise für jeden das Gleiche.

"Person, Memory and Space in the Contemporary Pacific—the Experience of New Worlds" heißt die Gruppe junger Heidelberger Ethnologen, die Menschen verschiedener außereuropäischer Länder danach befragt, nach welchen Vorstellungen sie sich "in ihrer Welt" orientieren. Dabei stellt sich heraus, dass die westliche Annahme vom Menschen als Zentrum des Universums keineswegs universal ist.

Im Jahr 1770 ankerte der britische Kapitän James Cook während seiner dritten Weltumsegelung mit der "Endeavour" in Australien bei Hopevale im Gebiet der Guugu Yimidhirr, heute Queensland. Wie Cook in seinem Tagebuch schrieb, ging ein Matrose an Land, verirrte sich, und wurde nach einigen Tagen wohlbehalten von Guugu Yimidhirrs zum Schiff zurückgebracht. Auch wenn der Matrose der einheimischen Sprache mächtig und imstande gewesen wäre, nach dem Weg zu fragen, hätte er sich mit Sicherheit dennoch verlaufen.

Warum? Räumliches Verstehen ist vielleicht die erste große intellektuelle Herausforderung, die ein Kind zu meistern hat, wenn es beginnt, sich im Raum zu bewegen. Dabei unterliegen räumliche Vorstellungen ganz offensichtlich vorgegebenen Zwängen: Vorgegeben ist die physische Welt "dort draußen"; vorgeben ist aber auch die "Biologie" des Menschen, also seine neuro-physiologische Ausstattung oder sein aufrechter Gang.

Die Determinanten in Umwelt und Biologie lassen die heutige Psychologie, Linguistik oder Neurobiologie – aber auch unsere westlichen philosophischen Traditionen – annehmen, es sei ganz "natürlich" und folglich universal, dass der menschliche Körper aufrecht im Zentrum des Universums steht und somit der ihn umgebende Raum in links und rechts, oben und unten, vorne und hinten unterteilt, also von einem egozentrischen Blickpunkt aus wahrgenommen wird. So beschreibt es auch der Philosoph Immanuel Kant in seinem Essay "Vom dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden" aus dem Jahr 1768: "In dem körperlichen Raum lassen sich wegen seiner drei Abmessungen drei Flächen denken, die einander insgesamt rechtwinklich schneiden ... Die eine dieser Verticalhälften teilt den Körper in zwei äusserlich ähnlichen Hälften und gibt den Grund des Unterschieds der rechten und linken Seite ab …".

Auch wir teilen in unserem Alltag diese Auffassung. Dennoch ist sie falsch. Die meisten Sprachen dieser Welt kennen beispielsweise keine Begriffe für links und rechts; Sprecher nicht-indogermanischer Sprachen sehen den Menschen oft nicht im Zentrum stehend, sondern als Teil der Umwelt an. Die westliche Vorstellung vom Menschen als Zentrum halten sie für anmaßend. Folglich orientieren sich diese Menschen nicht egozentrisch, sondern geozentrisch. Das heißt: Sie orientieren sich anhand von Fixpunkten "dort draußen".

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Sie stehen vor einem Tisch, auf dem ein Pfeil liegt, der nach links zeigt. Sie werden nun dazu aufgefordert, sich um 180 Grad zu drehen. Jetzt stehen Sie vor einem zweiten Tisch, auf dem zwei Pfeile liegen: Einer zeigt nach links, der andere nach rechts. Ihre Aufgabe ist es nun, auf jenen Pfeil zu zeigen, der "ebenso" liegt, wie derjenige auf dem ersten Tisch. Ohne Zweifel würden Sie auf den linken Pfeil zeigen, denn Sie orientieren sich egozentrisch, haben also ihr "links" mit dem eigenen Körper um 180 Grad mitgedreht. Ein Balinese aber, eine Tzeltal aus Mexiko, ein Inder aus Kerala, eine Yupno aus Papua Neuguinea, ein Inselbewohner der Südsee oder ein Guugu Yimidhirr aus Australien würde auf den rechten Pfeil zeigen. Diese Menschen orientieren sich geozentrisch: unabhängig vom eigenen Körper.

Was sind Geozentren? Die australischen Guugu Yimidhirr verwenden zum Beispiel ein System von vier Richtungen, beziehungsweise Quadranten, die ungefähr unseren vier Kardinalrichtungen entsprechen. Diese Orientierungen werden anhand der Winde bestimmt: Vom Norden her – dem "Norden" der Guugu Yimidhirr – bläst ein heftiger heißer Wind, vom Süden ein unregelmäßiger, kühlerer Wind, vom Osten dagegen weht ein sanfter Luftzug heran.

Die Yupno – sie bewohnen in Papua Neuguinea ein tiefes Tal – orientieren sich nicht mit Hilfe der Winde, sondern an der topographisch vorgegebenen Achse "flussaufwärts"/"flussabwärts" (was in etwa unserem West/Ost entspricht). Die Balinesen schließlich gebrauchen die Quadranten "Sonnenaufgang/Sonnenuntergang" sowie "zum Berg/zum Meer". Dies entspricht unserem Ost/West und Nord/Süd – wenn man im Süden von Bali steht.

Entscheidend ist, dass diese Systeme im Gegensatz zu unseren Kardinalpunkten auch auf der Mikroebene benutzt werden. Im balinesischen Alltag sagt man etwa "reiche mir die Reisschale ‚Sonnenuntergang' hinüber"; ein Kind wird vor dem Einschlafen aufgefordert, seinen Kopf "bergwärts" zu legen.

Nun stellt sich die prinzipielle Frage, ob dieser Sprachgebrauch auch das Denken beeinflusst: Präziser formuliert lautet die Frage: Welchen Einfluss hat dieser spezielle Sprachgebrauch auf die Wahrnehmung räumlicher Beziehungen sowie deren Speicherung im Gedächtnis als mentale Repräsentationen? Wir gehen in unserem Institut von einer gewissen "Hintergehbarkeit der Sprache" aus und wollen die Denkprozesse deshalb am liebsten direkt beobachten, was natürlich nicht möglich ist, weil man in die Köpfe seiner Informanten nun mal nicht so einfach hineinschauen kann. Bestenfalls kann man von ihren Reaktionen auf ihre Denkweisen rückschließen.

Wir führten deshalb nicht-verbale Verfahren ein, die von simpler Eleganz sind. Ein Beispiel: Unseren außereuropäischen Informanten legen wir drei Objekte mit der Bitte vor, sich deren räumliche Anordnung zu merken. Dann entfernen wir die Objekte wieder. Nach einen Intervall von 30 Sekunden – während dieser Zeit zerfällt das vom Gehirn gespeicherte Abbild im Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis wird aktiviert – fordern wir unsere Informanten auf, sich um 180 Grad zu drehen und die drei Objekte wieder in der "gleichen" Anordnung hinzulegen. Es zeigte sich, dass alle außereuropäischen Kinder geozentrische Anordnungen bildeten; einige außereuropäische Erwachsene bildeten auch egozentrische Anordnungen.

Dies liegt unseres Erachtens daran, dass die Anordnungen verbal nur schlecht zu memorieren sind. Dies muss visuell, nicht sprachlich geschehen. Das bedeutet: Sobald beim Memorieren von räumlichen Anordnungen die (geozentrische) Sprache schlecht oder gar nicht benutzt werden kann, wird auch egozentrisch gehandelt. Es hat den Anschein, als ob die angeborenen Sinneswahrnehmungen – die ja wie unser Nervensystem egozentrisch sind – sich gegen den starken Einfluss von Sprache und Kultur teilweise durchsetzen könnten. Auf welche Weise dies geschieht, wissen wir noch nicht.

Der Einfluss dieser beiden Systeme auf unseren Sprachgebrauch und auf unser Verhalten im Alltag kann nicht überschätzt werden. Kommen wir dazu noch einmal auf die australischen Guugu Yimidhirr zurück, denen James Cook vor langer Zeit begegnete. Stellen Sie sich vor, ein Vertreter der Guugu Yimidhirr besucht mich, und ich lade ihn zum Abendessen in ein sich drehendes Turmrestaurant ein. Mein Besucher und ich sitzen am gleichen Tisch – und doch erfahren wir unsere Umgebung verschieden.

 Die Guugu Yimidhirr, eine von rund 300 Gruppen australischer Ureinwohner, sehen sich als Teil der Umwelt. Sie orientieren sich dementsprechend nicht ego-, sondern geozentrisch.

Die Guugu Yimidhirr, eine von rund 300 Gruppen australischer Ureinwohner, sehen sich als Teil der Umwelt. Sie orientieren sich dementsprechend nicht ego-, sondern geozentrisch.

Zunächst zu meinen "Erfahrungen" im Turmrestaurant: Während ich esse, bleiben alle Gegenstände, Möbel und Personen des Restaurants in einer konstanten räumlichen Beziehung zueinander. Ich kann sie stets problemlos lokalisieren. Meine Butter ist immer auf der linken Seite, mein Gast immer vis à vis.


 Wo die Sonne im Norden aufgeht

Wo die Sonne im Norden aufgeht: Balinesen nutzen für die Orientierung im Raum die äußeren Fixpunkte "Sonnenaufgang/Sonnenuntergang" sowie "zum Berg/zum Meer".

Für meinen australischen Besucher hingegen ändert sich die Lokalisierung der Gegenstände und Personen fortlaufend, da er ihre Beziehungen nicht im Verhältnis zueinander misst, sondern unabhängig von der Drehung des Restaurants an einem fixen äußeren System: Die Butter ist jetzt in seinem Norden, und ich bin in seinem Westen, bald wird die Butter in seinem Osten sein und ich in seinem Norden. Dieses Beispiel aus dem Themenkreis "andere Weltbilder und Weltordnungen" zeigt in paradigmatischer Weise, dass ein Großteil mentaler Repräsentationen und Prozesse kultureller Natur sein können. Innerhalb vieler Nachbardisziplinen der Ethnologie, etwa der Philosophie, Linguistik, Psychologie, der Artifiziellen Intelligenz oder der Neurowissenschaften, wird dieser Tatsache kaum Beachtung geschenkt. Es wird häufig einfach Universalität postuliert, ohne die Möglichkeit einer kulturellen Mit-Generierung in Betracht zu ziehen.


 Wo die Sonne im Norden aufgeht

Unsere Nachbardisziplinen für die anspruchsvolle Frage nach der Spannbreite kultureller Variabilität zu sensibilisieren, ist eine Aufgabe, für die keine Disziplin besser geeignet ist als die Ethnologie. Sie hat den privilegierten direkten Zugang zu dem Schatz ethnographischer Daten und damit zu der Vielfalt menschlicher kultureller Besonderheiten. Darum werden Ethnologen oft auch als "dealers in exotica" bezeichnet – was sie aber nicht sein möchten. Roger Keesing hat die Aufgabe der Ethnologen im Jahr 1987 einmal wie folgt formuliert: "(Die Ethnologie) hat durch das Studium anderer kultureller Welten, wenn auch auf eher intuitive Art und Weise, ein gewisses Verständnis erworben, wie diese Welten variieren und wie reale Menschen denken, wahrnehmen und sich entscheiden … Die Herausforderung ist es, (dieses Wissen) jenen Kollegen zugänglich zu machen, die über mathematische Möglichkeiten verfügen, damit sie unser implizites Wissen in ihre expliziten Modelle einbauen können und mit ihnen in einen ständigen Dialog zu treten, der es ihnen erlaubt, ihre Modelle besser in der menschlichen Realität zu verankern".

Autor:
Prof. Dr. Jürg Wassmann,
Institut für Ethnologie,
Sandgasse 7, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 22 36, Fax (0 62 21) 54 35 56,
e-mail: juerg.wassmann@urz.uni-heidelberg.de

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